Bemerkung der Autorin
Was bedeutet Dissoziation? Ganz einfach ausgedrückt sprechen wir von Dissoziation, wenn sich ein Teil des Bewusstseins abspaltet und »eigene Wege« geht – zum Beispiel, wenn man viele Kilometer weit fährt, ohne es zu merken. Wenn man in Tagträume versinkt und eine ganze Unterrichtsstunde verpasst. Wenn man sich auf etwas konzentriert und alle übrigen Geräusche im Raum ausblendet. Diese milde Form der Dissoziation ist ziemlich normal. Am anderen Ende des Spektrums liegt die Psychose: Hervorgerufen durch Halluzinationen und Wahnvorstellungen, erleidet man einen vollständigen Realitätsverlust.
Meine Heldin Angie gehört in eine sehr spezielle Kategorie psychisch erkrankter Patienten. Als sich ein Teil ihres Bewusstseins abspaltet, um sie davor zu schützen, traumatisierende Ereignisse durchleben zu müssen, übernimmt eine Alternativpersönlichkeit die Kontrolle über sie.
Die meisten Wissenschaftler sehen in der Dissoziation einen Selbstschutzmechanismus des menschlichen Bewusstseins. Kleine Kinder, die gerade erst ihre eigene Identität entwickeln, können bei extremem emotionalen, physischen oder sexuellen Missbrauch ihr Bewusstsein auf diese Weise spalten. Den Schmerz und die Angst erleidet dann eine Alternativpersönlichkeit. Doch die Abspaltung führt zu Erinnerungslücken, die mehrere Stunden, Tage oder einen noch längeren Zeitraum umfassen können.
Und selbst wenn die Gefahr des Missbrauchs gebannt ist, bleiben die abgespalteten Persönlichkeiten auf Abruf vorhanden, um lebensbedrohliche oder besonders schwierige Situationen zu meistern.
Es gibt keine genauen Zahlen, wie häufig diese Erkrankung auftritt, denn die dazu vorliegenden Untersuchungen unterscheiden sich in den verschiedenen Ländern und Kulturen sehr voneinander. Zweifellos aber existiert die Dissoziation schon seit Jahrhunderten, nur hielt man sie in früheren Zeiten für eine Form der Besessenheit oder Hysterie.
Shirley Ardell Mason, deren Schicksal in den siebziger Jahren als Buch und später auch als Spielfilm unter dem Titel Sybil veröffentlicht wurde, war der berühmteste Fall von DIS in Amerika. Zu dieser Zeit nannte man das Phänomen noch multiple Persönlichkeitsstörung und hielt es für extrem selten, da bis dahin nur wenig mehr als hundert Fälle offiziell dokumentiert waren. Doch seit die American Psychiatric Association die Störung 1980 offiziell anerkannt hat, ist sie bei Tausenden von Patienten in den USA diagnostiziert worden. Dies hat verschiedene Gründe: Zum einen sind die Therapeuten hinsichtlich DIS heute stärker sensibilisiert. Zum anderen werden Fälle, die früher als eine andere psychische Erkrankung diagnostiziert worden wären, mittlerweile als DIS erkannt. Und nicht zuletzt trägt auch die veränderte Akzeptanz in der Öffentlichkeit, sich bei psychischen Problemen Hilfe zu suchen, zur Erhöhung der Zahlen bei. Einige Fachleute sind der Ansicht, die Diagnose würde zu häufig gestellt, andere glauben, dass DIS in vielen Fällen noch immer nicht erkannt wird.
Als ich für diese Geschichte recherchierte, habe ich mit einer Freundin ein Interview geführt. J. ist eine sogenannte »integrierte Multiple«, also jemand, der verschiedene Alternativpersönlichkeiten in einer gut funktionierenden Persönlichkeit vereinigt hat. Jedes noch so kleine Detail von J.s Geschichte – die auslösenden Faktoren für die Dissoziation in ihrer Kindheit, ihr Leben mit den verschiedenen Persönlichkeiten, der langwierige Prozess der emotionalen Bewältigung des Traumas und die psychische Stabilisierung als Erwachsene – stimmte mit dem überein, was ich an Literatur über DIS gelesen hatte.
Es gibt einige Biografien oder Autobiografien von Menschen, die unter DIS litten und ihre Persönlichkeiten wieder zusammengeführt oder zumindest gelernt haben, in Einklang mit ihren Teilpersönlichkeiten zu leben. Viele dieser Geschichten sind sehr traurig, grausam und erschütternd, und nachdem ich ein paar gelesen habe, würde ich die Bücher nicht unbedingt empfehlen wollen.
Angies erfundenes Schicksal ist nicht so extrem, doch mein Roman schildert nichtsdestotrotz sehr genau viele Facetten der DIS. Zum Beispiel können Teilpersönlichkeiten ein unterschiedliches Alter, ein unterschiedliches Geschlecht, aber auch eine unterschiedliche Sexualität haben. Sie können Links- oder Rechtshänder sein. Genau wie bei ganz verschiedenen Personen haben sie einen unterschiedlichen Geschmack, und auch ihre Anschauungen, Erinnerungen, Stimmen, Gesichtsausdrücke und Gesten differieren. Angies imaginäre Hütte basiert auf einem recht verbreiteten Erleben von dissoziativen Persönlichkeiten. Sie visualisieren das Zusammenleben ihrer Teilpersönlichkeiten in ihrem Bewusstsein, indem sie sich vorstellen, dass mehrere Menschen gemeinsam ein Haus mit vielen Zimmern, ein Schloss oder einen Raum mit vielen abgetrennten Bereichen bewohnen.
Die Behandlung von Angie entspricht zum Teil der Realität, zum Teil habe ich sie erfunden. Im wahren Leben dauert eine solche Psychotherapie viele Jahre, nicht wenige Monate. Die klassische Therapie besteht aus Gesprächen und Hypnose, denn Menschen mit DIS sind oft sehr intelligent, lassen sich gleichzeitig aber leicht hypnotisieren.
Zumeist ist die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) Teil der DIS. Dr. Grants Leuchtbalken – ein Gerät, das beim EMDR-Verfahren (Eye Movement Desensitization and Reprocessing – eine bilaterale Stimulation des Gehirns mittels rhythmischer Augenbewegungen) zum Einsatz kommt – wird auch aktuell bei Patienten mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung angewandt. Sie durchleben ihre traumatischen Erlebnisse noch einmal, durch die vom Therapeuten gesteuerte Augenbewegung lassen sich ihre extrem negativen Gefühle jedoch häufig reduzieren. Wesentliches Ziel ist die Integration und Verarbeitung des Traumas in die Gesamtpersönlichkeit.
Eine Kombination verschiedener therapeutischer Methoden kann einem DIS-Patienten sehr gut dabei helfen, die Barrieren zwischen seinen Alternativpersönlichkeiten zu überwinden und die besonders verstörenden Erinnerungen zu verarbeiten. Gemeinsam mit dem Therapeuten wird nach Lösungswegen gesucht, um eine kooperative Beziehung zwischen den Teilpersönlichkeiten zu schaffen.
Die experimentelle optogenetische Behandlung, der sich Angie unterzieht, um zwei der Teilpersönlichkeiten zu löschen, entspringt meiner Fantasie, könnte in der Zukunft jedoch theoretisch möglich sein. Momentan ist die Wissenschaft noch nicht so weit, spezielle Erinnerungen im Gehirn exakt lokalisieren zu können, doch vielleicht gelingt dies schon bald. Tatsächlich können die Wissenschaftler bereits feststellen, welche Teile des Gehirns jeweils aktiv sind, wenn der DIS-Patient von einer Persönlichkeit zur anderen wechselt. Verschiedene optogenetische Verfahren, d.h. die Steuerung von genetisch modifizierten Nervenzellen mittels Licht, wurden bereits an Labormäusen zur Heilung verschiedenster Krankheiten wie Lähmungen, Blindheit, Parkinson und Epilepsie getestet. Neurowissenschaftler hoffen darauf, die Optogenetik in naher Zukunft auch an Menschen testen zu können. Wir stehen kurz vor einer neuen Ära der Behandlung von physischen und psychischen Erkrankungen des Gehirns.
Angies Geschichte wirft einige Fragen auf. Wenn man seine schlimmsten Erinnerungen einfach löschen könnte, sollte man das dann wirklich tun? Würde man danach noch derselbe Mensch sein? Was würde man gewinnen? Und was verlieren?