Fünfundzwanzig

»Heiko Goossens konnte sich wirklich erstaunlich gut erinnern«, sagte Schnittges.

»Sein Bruder Jörg ist zwei Jahre älter. Vielleicht weiß der noch mehr.«

Penny reckte sich. »Ich hätte nichts gegen eine Dienstreise nach London.«

»Als Heiko Goossens nach Hause gefahren ist, waren nur noch Jörg Goossens, Sebastian und die beiden Söhne von Pitz dort. Und du sagst, aus diesem Dennis ist nichts herauszukriegen?«

»Der ist fast durchgedreht.« Penny nickte. »Seine Mutter hat mir erklärt, es handele sich um ein Trauma, und sie könnten jederzeit ein ärztliches Attest beibringen. Mag sein, dass es wirklich so ist, aber ich weiß nicht, nach fast vierundzwanzig Jahren, irgendwie schon komisch.«

Sie waren alle ein bisschen angeschlagen.

Die Hausdurchsuchungen hatten nichts ergeben. Kurt Goossens war gar nicht zu Hause gewesen, und seine Frau hatte blaue Lippen bekommen und um Atem gerungen. Van Appeldorn war drauf und dran gewesen, den Notarzt zu rufen, aber dann hatte sie ihr Nitrospray gefunden und sich wieder erholt.

Christa Pitz hatte die Polizei ins Haus gelassen mit »‘nem Gesicht wie ‘ne Holzpuppe«, wie Ackermann es beschrieben hatte, und war dann in ihr Auto gestiegen und weggefahren, ihr Sohn Dennis war in der Küche verschwunden, »wo er dahockte wie ‘n Ölgötze«.

Jetzt saßen sie hier und warteten auf Ackermann, der aus Düsseldorf angerufen hatte: »Hab dat Schließfach ausgeräumt. Die Papiere, die wir gesucht haben, sind alle da. Un’ dann so ‘n kleines Holzkästken, is’ aber zugeschlossen.«

Pennys Magen knurrte so laut, dass alle zu ihr hinschauten. Sie verdrehte die Augen.

»Tut mir leid, aber ich habe heute nur eine Banane gegessen.«

Cox griff sofort zum Telefon. »Ich bestelle dir eine Pizza.«

»Ich habe auch Hunger«, sagte Bernie, »obwohl mir eigentlich gar nicht nach Essen zumute ist.«

Van Appeldorn schaute auf die Uhr. Ulli und er hatten heute Abend grillen wollen. Sie hatte Garnelen und Tintenfisch eingekauft, und er hatte sich auf das Essen, ein kühles Bier und einen warmen Abend mit ihr gefreut. Und jetzt also wieder einmal Pizza. Die 52 für ihn, die 39 für Jupp, für Helmut, wenn er denn hier wäre, die 48, für Peter die 35, aber ohne Zwiebeln. Bei Penny und Bernie war er nicht sicher, aber er wusste, dass Penny Artischocken mochte und Bernie auf Sardellen stand.

Er musste Ulli Bescheid sagen und fischte gerade sein Handy aus der Hosentasche, als die Tür zum Büro aufgestoßen wurde. Toppe trug ein Backblech mit lauter kleinen Alupäckchen, aus denen es köstlich nach Knoblauch duftete.

Er lächelte leise. »Gebackener Schafskäse mit Paprika und Kräutern, noch heiß, dazu frisches Brot. Ich war kurz zu Hause. Mit einem schönen Gruß auch von Astrid.«

In seiner rechten Jackentasche steckten sechs Messer, in der linken klapperten die Gabeln.

Penny beeilte sich, auf ihrem Tisch Platz für das Blech zu machen. »Das muss ein Traum sein.«

Als van Gemmern eine Viertelstunde später hereinkam, hatten sie alles aufgegessen – Penny war so vorausschauend gewesen, Ackermanns Portion gleich außer Reichweite zu bringen – und fühlten sich wieder frisch.

Klaus van Gemmern war aufgeregt. Man erkannte es daran, dass ihm seine Brille bis auf die Nasenspitze gerutscht war und er es gar nicht bemerkte.

Er hielt ein kleines graues Plastikteil, das Cox schon vom Foto kannte, zwischen Daumen und Zeigefinger.

»Dies hier ist ein sogenannter Treibkäfig. Ein teuflisches kleines Ding, mit dessen Hilfe es einem gelingt, 5,6-Millimeter-Geschosse, also Kleinkalibergeschosse, aus einer großkalibrigen Waffe zu verschießen«, erklärte er. »Im ursprünglichen Zustand sieht das Ding so aus.«

Er hielt eine Fotografie hoch. »Ihr seht, klein, rund, kompakt. Bei unserem Fundstück hier sind die Klammern gespreizt. Und es weist Schmauchspuren auf. Das heißt …« Gesetzte Pause. »… es ist verschossen worden.«

»So, so«, meinte Penny benommen. »Und was sagt uns das jetzt?«

Zwischen van Gemmerns Augenbrauen erschien eine tiefe Falte.

»Es sagt uns, dass das Kleinkaliberprojektil, das Finkensieper getötet hat, unser Hochgeschwindigkeitszerlegungsgeschoss, mit Hilfe dieses Treibspiegels aus einer großkalibrigen Jagdwaffe verschossen worden ist.«

»Ich verstehe«, murmelte Toppe.

»Ja«, fuhr van Gemmern fort. »Das Projektil verlässt den Gewehrlauf, sofort trennt sich der Käfig davon und bleibt circa zehn bis fünfzehn Meter von der Waffe entfernt liegen, während das Geschoss mit dreifacher Schallgeschwindigkeit weiterfliegt. Diese sogenannten Acceleratorgeschosse wurden in den sechziger Jahren von Remington in den USA entwickelt, sind jedoch später verboten worden. Aber ich gehe davon aus, dass jeder Waffennarr sie kennt und vielleicht sogar noch welche bei sich zu Hause hat.«

»Das heißt also, wir haben die falsche Waffe gesucht«, verstand van Appeldorn.

»Ganz genau. Unsere Waffe ist kein Kleinkalibergewehr. Wir suchen jetzt nach einer großkalibrigen Jagdwaffe, mit der man zum Beispiel auf Wildschweine geht, wie eine Mauser, eine Sauer, eine Remington, natürlich, mit dem Standardkaliber 30/06 oder auch.308.« Er atmete kurz durch. »Im Lauf der Waffe, mit der Sebastian Finkensieper erschossen worden ist, werden sich mit Sicherheit Rückstände dieses Treibkäfigs finden.«

»Der Täter hat die Waffe doch bestimmt längst verschwinden lassen«, sagte Schnittges.

»Das würde ich ihm nicht geraten haben.« Van Gemmerns Augen blitzten. »Ich habe von allen Jagdausübenden dort Kopien ihrer Waffenbesitzscheine.«

Toppe rieb sich das Kinn. »Du willst die Gewehre heute Abend noch einsammeln?« Es war eher eine Feststellung.

»Selbstverständlich, von meiner Crew ist noch keiner nach Hause gegangen.«

Toppe hob den Daumen. »Dann los.«

»Die Kesseler werden sich freuen«, bemerkte Cox mit einem Blick auf die Uhr. »Wo doch gerade ›Wetten dass …‹ angefangen hat.«

»Und ich wette, dass unser Klaus wieder eine Nachtschicht einlegt«, murmelte Schnittges. »Ist schon ein Hammer, was er da herausgefunden hat.«

»Da bin ich!«

Ackermann brachte einen Stapel Papiere und das Kästchen und war völlig aus dem Häuschen. »Ich hab im Labor vorbeigeguckt, aber da is’ keiner. Dat heißt wohl, wir müssen dat Teil hier selbs’ aufbrechen. Bloß gut, dat ich immer mein Schweizer Messer dabeihab.«

Dann erst schaute er sich um. »Wat is’ denn los? Ihr habt doch wat.«

Cox erzählte ihm von van Gemmerns Entdeckung.

»Wahnsinn!« Ackermann brauchte eine Weile, bis er die Information verdaut hatte. Er legte den Papierstapel und den Kasten auf Cox’ Schreibtisch ab und setzte sich erst einmal hin.

»Möchtest du etwas essen?«, fragte Penny ihn.

»Wat? Nee!« Jetzt kam wieder Leben in ihn. »Dafür bin ich viel zu hibbelig. Ich will wissen, wat in dem Kästken is’.« Er holte sein Taschenmesser heraus.

Cox hielt den Kasten mit beiden Händen fest. Knack!

»Verborgene Talente.«

Sie fanden Fotos: der Maashof, Sabines Eltern vor einem blühenden Fliederstrauch, Sabine mit Zahnlücke und Schulranzen, Sebastian, auf einer Kuh sitzend, mit einem Hund kuschelnd, die beiden Aufnahmen, die Sabine auch ihrer Tante geschickt hatte. Eine seidige rotblonde Locke in einer Streichholzschachtel, ein gefaltetes Blatt Papier mit farbigen Handabdrücken, zwei große, zwei ganz kleine, und einen Brief:

 

»Lieber Sebastian,

ich kann mir nur schwer vorstellen, daß Du jetzt ein junger Mann bist.

Für mich bleibst Du wohl immer drei Jahre alt.

Ich möchte Dich nicht mit der Vergangenheit belasten, aber eines muß ich Dir sagen:

Ich bin keine Mörderin.

Ich habe den kleinen Kevin nicht getötet.

Ich glaube, daß es ein Spielunfall gewesen ist.

Die kleine Bagage hat immer so gern Taucher gespielt, so wie früher, als es Taucherhelme gab. Und dazu haben sie sich ihre Sandeimerchen über den Kopf gestülpt und manchmal auch eine Plastiktüte. Die Großen waren immer sauer, daß ihnen der Helm vom Kopf rutschte, wenn sie ins Wasser sprangen. Und so denke ich mir, sie haben vielleicht eine Schnur genommen, meine Schnur, die ich am See vergessen hatte.

Aber das konnte ich nicht erzählen. Ich konnte doch die kleine Bagage nicht für immer ins Unglück stürzen.

Es wäre auch sinnlos gewesen. Mir hätte keiner geglaubt.

Ich habe nie eine Chance gehabt.

Lieber Basti, seit Du auf der Welt warst, habe ich Dich jede Minute geliebt, und ich liebe Dich noch heute.

Deine Mutter Sabine«

 

»Großer Gott, wenn das stimmt«, sagte Ackermann tonlos.

»Es passt zu dem, was Heiko Goossens gesagt hat«, stellte Bernie fest. »Als er nach Hause ging, waren nur noch der kleine Sebastian, Kevin, Jörg Goossens und Dennis Pitz am Baggersee. Wenn das mit dem Taucherspiel stimmt …«

»… hat Dennis Pitz seinen eigenen Bruder getötet«, ergänzte Penny. »Womöglich ist das sein Trauma.«

»Nun ja, es könnte auch Jörg Goossens gewesen sein«, gab Cox zu bedenken. »Aber auf jeden Fall muss Dennis dabei gewesen sein. Du hast gesagt, die Mutter schützt ihn. Glaubst du, sie weiß, was damals wirklich passiert ist?«

Penny wiegte den Kopf. »Mein Gefühl sagt mir nein.«

»Gut, gehen wir mal davon aus, es war ein Spielunfall«, überlegte van Appeldorn. »Diese Information hat Finkensieper, als er nach Kessel kommt, dazu die Aussage seiner Mutter, dass ihr keiner geglaubt hätte, dass sie keine Chance hatte. Erst als er schon im Ort wohnt, erfährt er, wie der Prozess gelaufen ist, wer die Kinder vom Baggerloch waren und wer gegen Sabine ausgesagt hat. Er musste nur zwei und zwei zusammenzählen, genau wie wir es gerade tun.«

»Und es war wunderbar einfach, Sabine den Tod des Kindes in die Schuhe zu schieben«, stellte Toppe fest.

»Sie war der Außenseiter im Dorf, eine Einzelgängerin. Keine Verwandte und in den letzten Jahren, wenn wir an die Aussagen von Renate und Karen denken, nicht einmal Freunde. Da war keiner, der ihr zur Seite stand, keiner, der ihr geholfen hätte.«

»Das perfekte Opfer.« Cox schluckte trocken.

»Und da ist auch noch ihr Vergewaltiger.« Pennys Stimme war belegt. »Sebastian sah Sabine nicht ähnlich. Je älter der Junge wurde, umso gefährlicher wurde er für seinen Vater. Mutter und Sohn mussten weg. Da kam doch der sogenannte ›Kindermord‹ gerade recht.«

»Aber Pitz hat nicht gegen Sabine ausgesagt«, wandte Schnittges ein.

»Nee, bloß seine drei Busenfreunde.« Auch Ackermann klang bitter.

Van Appeldorn schlug auf den Tisch. »Ich will sie alle morgen früh hier haben! Goossens, Küppers, van Beek und die Pitz. Neun Uhr. Ruf an, Peter.«

»Na, die werden begeistert sein.«

»Mir egal. Besser noch acht Uhr. Und dann drehen wir sie richtig durch die Mangel.«

Es klopfte, und ein Kollege von der Wache kam herein.

»Bei uns unten sind zwei Herren, die eine Aussage im Mordfall Finkensieper machen wollen. Ich habe ihnen gesagt, ich müsste erst mal nachschauen, ob um die Uhrzeit überhaupt noch einer von euch da ist. Aber wie ich sehe, seid ihr ja noch vollzählig, ‘n Abend, Chef«, nickte er in Toppes Richtung.

»Guten Abend. Wie heißen denn die beiden Herren?«, fragte der.

»Küppers und Goossens.«

Ackermann verschluckte sich und konnte nicht mehr aufhören zu husten. »Sorry.«

»Da bin ich aber mal gespannt. Schick sie hoch.« Van Appeldorn folgte dem Wachhabenden auf den Gang und beobachtete, wie Goossens und Küppers, beide ein wenig gebeugt, die Treppe heraufkamen.

Goossens gab ihm die Hand. »Wir möchten eine Aussage machen, mein Schwager und ich.«

»Das ist ja mal was Neues, aber fein, gern. Einen Moment noch.«

Er öffnete die Bürotür. »Jupp, hast du Zeit für eine Vernehmung?«

»Aber immer«, kam es aufgeräumt zurück.

»Prima, dann geh du mit Herrn Küppers in Raum ›2‹, ich nehme Herrn Goossens mit in die ›i‹.«

»Aber wir können das doch auch zusammen …«, setzte Küppers an, aber van Appeldorn brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.

Ackermann trat auf den Gang. »Die ›3‹ bleibt frei für unseren Zeugen aus England, oder?«

Goossens zuckte zusammen, sagte aber nichts.

»Na, dann kommt ma’ mit, ihr beiden.«

 

Van Appeldorn schaltete den Recorder ein, nannte Datum, Uhrzeit und Namen und wartete.

Goossens saß ganz aufrecht, die Hände auf der Tischplatte gefaltet.

»Ich weiß, wer Finkensieper erschossen hat«, sagte er.

Van Appeldorn wartete.

»Es war Manfred van Beek.«

Van Appeldorn zog die Augenbrauen in die Höhe.

»Es ist schon so, wie ich bereits gesagt habe. Letzten Samstag sind wir auf Tauben gegangen, mit Schrot. Nur van Beek hatte eine zweite Waffe dabei, seine Mauser, was ich da schon komisch fand. Aber nun … Irgendwann ist er einmal kurz in dem Gehölz verschwunden, mit beiden Waffen. Ich habe gedacht, er müsste sich mal erleichtern, aber mittlerweile weiß ich es besser.«

»Sie haben also beobachtet, dass van Beek dort in dem Gehölz geschossen hat?«

»Nein, direkt beobachtet habe ich es nicht, aber es kann ja nicht anders sein.«

»Und welches Motiv hatte Manfred van Beek, Finkensieper zu töten?«

Goossens senkte den Blick in seinen Schoß und faltete die Hände fester.

»Das ist eine heikle Geschichte«, antwortete er und schaute van Appeldorn wieder an. »Ich habe erst Jahre später davon erfahren, als van Beek mal richtig betrunken war und meinte, er müsste ein bisschen angeben. Es war wohl so, dass Pitz und er sich nach dem Schützenfest 1979 über Sabine hergemacht haben.«

»Was meinen Sie mit ›hergemacht‹?«

»Na, so wie ich das herausgehört habe, war es auf ihrer Seite nicht ganz freiwillig.«

»Dafür gibt es eine Vokabel, Herr Goossens. Fällt die Ihnen ein?«

Goossens’ Augen glitzerten zornig, aber er zügelte sich.

»Van Beek und Pitz haben Sabine Maas vergewaltigt. Und vergangene Woche muss Finkensieper sich van Beek als Sabines Sohn zu erkennen gegeben haben, und vermutlich hat er ihm gedroht, die Sache publik zu machen.«

»Muss haben … vermutlich … Sie wissen es also nicht? Van Beek hat mit Ihnen nicht darüber gesprochen?«

»Nein, das hat er nicht. Aber Manfred war schon am Freitagabend sehr bedrückt, er hat sogar geweint, und auch am Samstag war er nicht er selbst.«

»Hat er später mit Ihnen über die Tat gesprochen?«

»Nein, selbstverständlich nicht, sonst hätte ich es doch sofort der Polizei gemeldet.«

»Und warum kommen Sie heute damit?«

»Weil ich heute mit Küppers gesprochen habe und der dasselbe beobachtet hat wie ich.«

»Gut, wo wir hier gerade so nett beieinandersitzen, hätte ich noch ein paar Fragen an Sie zum Mord an Kevin Pitz.«

Goossens’ Mundwinkel senkten sich. »Dazu habe ich damals im Prozess alles ausgesagt, was ich wusste. Das können Sie sicher in den Protokollen nachlesen.«

»Das haben wir getan, Herr Goossens.«

»Dann wissen Sie ja alles. Ich habe meiner Aussage von damals nichts hinzuzufügen, noch könnte ich sie ändern, denn sie entspricht der Wahrheit.«

Cox streckte den Kopf herein. »Norbert, kommst du mal eben?«

Van Appeldorn trat auf den Gang und rieb sich den Nacken. »Ich wünschte, ich würde noch rauchen.«

»Hör zu, Klaus hat gleich beim zweiten Gewehr, das er untersucht hat, einen Volltreffer gelandet. Es gehört Manfred van Beek, und es ist eindeutig die Tatwaffe.«

»Na, dann passt ja alles wunderbar zusammen. Lass ihn verhaften.«

»Penny und Bernie sind schon unterwegs.«

 

Ackermann besprach den Recorder: »Vernehmungsbeamter: Josef Quirinus Ackermann. Dann leg’ ma’ los, Jürgen.«

Küppers starrte ihn verblüfft an und räusperte sich.

»Okay, also, Manfred van Beek hat den Finkensieper erschossen.«

»Wat du nich’ sags’. Un’ wie kommste drauf?«

»Wie wir am letzten Samstag auf die Tauben gegangen sind, hatte Manfred seine Mauser dabei. War komisch, hab mir aber noch nichts dabei gedacht. Ich meine, der Mann ist Alkoholiker. Wer weiß, was in dessen Kopf vorgeht. Und dann ist er auf einmal in dem Gebüsch verschwunden. Muss so gegen sieben gewesen sein, plus, minus. Ich dachte, er muss mal für kleine Männer, aber war wohl nicht.«

»Du has’ also gesehen, dat er in dem Büschken geschossen hat?«

»Nein … doch.«

»Wat denn jetz’?«

»Ich habe Mündungsfeuer gesehen.«

»Ah, so, un’ wieso kommst du ers’ jetz’ damit angeschissen?«

»Weil ich gedacht hab, ich spinne. Aber dann habe ich heute mit Goossens gesprochen, und der hat dasselbe beobachtet wie ich.«

»Donnerschlag! Un’ warum hat van Beek den Finkensieper umgebracht?«

Küppers zog ein komisches Gesicht. »Da ist damals so eine Sache passiert, 79 war das, nach dem Schützenfest. Da sind van Beek und Pitz zu der Sabine auf den Hof und haben sie … flachgelegt.«

»Flachgelegt?«

Sei froh, dass ich dir nicht vor die Füße kotze, dachte Ackermann.

»Wat meins’ du denn damit? ‘n flotten Dreier? Ringelpiez mit Anfassen?«

Küppers wurde rot. »Nein, ich glaube, die haben die … vergewaltigt. Aber ich selbst habe davon erst Jahre später erfahren, als van Beek mit besoffenem Kopf den dicken Macker markieren wollte.«

»Ah so, un’ weiter?«

»Wie weiter?«

»Du wolltes’ mir erzählen, warum van Beek den Finkensieper umgebracht hat.«

»Das ist doch wohl klar. Weil er Sabines Sohn war. Der wird das van Beek wohl verklickert haben, und bestimmt hat er auch gedroht, die Vergewaltigung auffliegen zu lassen.«

»Un’ woher weißte dat? Hat van Beek dir dat erzählt?«

»Quatsch, sonst hätte ich dir das doch gesagt. Aber Manfred war schon am Freitag total von der Rolle, kriegte nichts mehr gebacken. Und am Samstag, als wir auf die Jagd gingen, hat er sogar geheult.«

»Der arme Kerl. Aber sag ma’, wo ich dich grad ma’ hier hab: Wie war dat eigentlich damals mit dem kleinen Kevin Pitz?«

Küppers lehnte sich zurück und hob das Kinn.

»Darüber habe ich im Prozess alles gesagt, was ich weiß. Und Punkt.«

»Interessant«, sagte Ackermann und schaltete den Recorder aus. »Dann hätten wir et ers’ ma’. Du kanns’ et dir jetz’ mit deinem Schwager im letzten Zimmer links auf ‘em Gang gemütlich machen. Du muss’ nämlich dat Protokoll unterschreiben. Dat muss aber ers’ noch getippt werden, un’ dat kann dauern, weil unsere Schreibkraft ers’ ma’ wieder von zu Hause kommen muss.«

 

»Ist der Mann überhaupt vernehmungsfähig?«, fragte Cox.

»Doch, der ist ganz klar«, antwortete Bernie, und Penny nickte.

Es war eine Szene wie aus dem Bilderbuch gewesen: der gebeutelte Mörder, der froh ist, dass man ihm endlich die Last von den Schultern nimmt.

Sie hatten ihren Satz aufgesagt: »Wir nehmen Sie vorläufig fest wegen des dringenden Verdachts …«, und van Beek hatte mit geschlossenen Augen lange ausgeatmet, seiner Frau ein halb gezapftes Bier in die Hand gedrückt, seine Hände am Hosenboden abgewischt und sich seine Hausschlüssel geschnappt. »Dann lasst uns gehen.«

Hier im Büro hatte er sich einfach auf den nächsten Stuhl fallen lassen – es war Bernies Platz – und saß jetzt da, vornübergebeugt, die Ellbogen auf den Oberschenkeln, die Hände zwischen den Knien.

»Zu zweit«, sagte van Appeldorn. »Bist du dabei, Bernie?«

»Klar.«

»Dann kommen Sie bitte, Herr van Beek, wir gehen hinüber in den Vernehmungsraum.«

Van Beek schaute irritiert hoch. »Wir können doch hierbleiben, oder? Das können wir doch?«

Van Appeldorn wollte insistieren, aber Toppe hob die Hand – »Lass ihn« –, setzte sich auf die Fensterbank und signalisierte Schnittges, dass er auf seinem Stuhl Platz nehmen konnte.

Cox holte ein Aufnahmegerät aus seinem Schreibtisch, stöpselte es ein und stellte das Mikrophon vor van Beek auf.

Van Appeldorn setzte sich auf die gegenüberliegende Seite.

»Herr van Beek, wir haben festgestellt, dass Sebastian Finkensieper mit Ihrer Waffe erschossen worden ist.«

Van Beek nahm die Ellbogen von den Knien, ruckelte den Stuhl näher an den Schreibtisch heran und legte die Arme auf die Tischplatte. Dann nickte er. Wie ein Schulkind.

»Haben Sie Finkensieper erschossen?«

»Ja.«

»Warum?«

Van Beek sog die Unterlippe zwischen die Zähne.

»Weil ich verloren hab.«

»Verloren?«

»Wir haben Streichhölzer gezogen.« Er schnalzte mit der Zunge. »Und ich hab leider das kürzeste erwischt.«

Er gab ein trockenes Lachen von sich. »Pitz hat noch gelästert, von wegen Säufer und so. Aber schießen kann ich noch. Ich war immer der beste Schütze, sogar besser als Goossens.«

»Wieso haben Sie Streichhölzer …«, begann van Appeldorn, aber Ackermann fiel ihm ins Wort.

»Küppers sagt, du und Pitz, ihr beide habt damals die Sabine vergewaltigt.«

Van Beeks Augen wurden schmal. »Ich und Pitz? Ich und Pitz?« In seinen Mundwinkeln bildeten sich klebrige Schaumflocken. »Ja, ich hab sie auch gevögelt. Obwohl ich kaum noch was davon weiß, hackedicht, wie ich war. Und Adolf war auch dabei, der hat sie auch gefickt. Aber eigentlich war es Küppers, der uns heißgemacht hat. Der wollte der Sabine immer schon an die Wäsche, aber sie hat ihn ja nicht gelassen. Hätte sie vielleicht mal besser.

Küppers und Goossens. Goossens, der hat uns dauernd mit ihren dicken Möpsen in den Ohren gelegen.«

»Ihr wart also zu viert.«

»Wir waren vier, ja. Wir haben sie blond und blau gepoppt, Goossens, Küppers, Pitz und ich.«

Er fing an zu weinen.

»Ich kann jetzt nicht mehr«, sabberte er. »Ihr müsst wissen, ich habe ein bisschen was getrunken.«

Cox drückte den Knopf für die Wache, aber Bernie konnte nicht mehr warten. Er packte van Beek hart am Arm. »Stehen Sie auf. Ich bringe Sie in den Arrest.«

Hinter den beiden fiel die Tür zu.

»Die hängen den hin«, sagte Penny.

Cox schaute sie an. »Ein glasklares Bauernopfer …«

»Zeugenaussagen, die sich decken.« Toppe stand auf.

»Genau wie damals.«

Unten klappte die Eingangstür.

Ackermann fegte durchs Zimmer und riss das Fenster auf.

»Goossens!«, brüllte er. »Zieh dich warm an. Wir kriegen dich. So wahr ich Ackermann heiße.«