Sechs

»In unserer Region liegen Kies- und Sandvorkommen sehr nah unter der Erdoberfläche und sind deshalb leicht abzubauen«, begann Peter Cox seinen Bericht. Er wirkte recht zufrieden.

Auch van Appeldorn ging es besser. Pauls Zahn war gestern endlich durchgebrochen, und der Kleine hatte, von seiner Qual befreit, die ganze Nacht friedlich geschlafen.

Obwohl es erst halb neun war, zeigte das Thermometer schon über zwanzig Grad an. Ackermann hatte eine große Thermoskanne mit Eistee mitgebracht –»selbstgebraut« – und allen einen Becher voll eingegossen.

»Deshalb haben sich in den letzten dreißig Jahren bei uns zahlreiche Kiesunternehmen angesiedelt«, fuhr Cox fort. »Das geförderte Material geht an die Bauindustrie, zum Beispiel zur Herstellung von Beton.«

»Ja, und zwar größtenteils nach Holland und Belgien«, fiel ihm Schnittges harsch ins Wort. »In letzter Zeit aber auch nach Dubai und China, was den Bedarf an Kies natürlich mächtig gesteigert hat.«

Cox schaute ihn erstaunt an.

»Ich habe gestern Abend mit einer Bekannten in Kessel gesprochen. Sie ist bei den Grünen«, erklärte Bernie. »Aber mach du erst mal weiter.«

»Gut, normalerweise erteilt der Kreis die Genehmigung für eine Auskiesung, und die Höhere Landschaftsbehörde in Düsseldorf muss als Fachaufsichtsbehörde die ordnungsgemäße Aufgabenwahrnehmung der Genehmigungsbehörde sicherstellen.«

Penny ächzte leise. »Das muss ich mir gleich noch einmal in Ruhe durchlesen. Amtsdeutsch ist nicht gerade meine Stärke.«

Cox lächelte ihr zu. »Wenn es sich allerdings um besonders hochwertige Kiese und Sande handelt – das sind solche, die sich zur Herstellung feuerfester Erzeugnisse eignen –, fallen sie unter die Regelung des Bundesberggesetzes.«

»Ganz genau«, bestätigte Bernie. »Und das hat so ein findiger Kiesanwalt im vorletzten Jahr erstritten. Seitdem ist die Bezirksregierung Arnsberg für die Genehmigungen zuständig.«

»Stimmt«, sagte Cox. »Aber weiter im Text: In unserer Gegend werden sogenannte Nassabgrabungen durchgeführt, das bedeutet, dass das Grundwasser freigelegt wird und Baggerseen entstehen. Dafür ist grundsätzlich ein Planfeststellungsverfahren nach Paragraph 31 des Wasserhaushaltsgesetzes erforderlich. Und bei Flächen über zehn Hektar …«

»Entschuldige«, meldete sich Penny,»aber wie groß ist das ungefähr?«

»Hunderttausend Quadratmeter, glaub ich. Also, bei Flächen dieser Größe muss grundsätzlich auch eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt werden. Und weil Abgrabungsvorhaben oft den Grundwasserschutz gefährden oder Naturschutzgebiete betreffen, werden die Genehmigungen häufig verweigert.«

»Schön wär’s«, meldete sich Schnittges wieder zu Wort. »Die Kiesindustrie ist knallhart. Wenn denen die Genehmigung verweigert wird, ziehen sie vor Gericht und haben viel zu oft Erfolg, weil die Landesgesetzgebung in dem Punkt völlig veraltet ist. Lettie sprach übrigens nur von der ‹Kiesmafia›. Sie sagt, dass jedes Jahr fünfzehn Millionen Tonnen Kies und Sand exportiert werden, und zwar hauptsächlich vom unteren Niederrhein. Und nur ganz nebenbei: Holland, zum Beispiel, hat selbst genügend hochwertige Quarzsande, aber die sind nicht so blöde, sie abzubauen. Mit jedem Baggerloch werden nämlich Freiflächen und – besonders fatal – landwirtschaftliche Nutzflächen vernichtet, zudem wird über Quadratkilometer hinweg das Grundwasser freigelegt, und das hat böse Folgen.«

»Das hört sich auf der Homepage von der KGG aber ganz anders an«, bemerkte Cox. »Nach Stein- und Braunkohle sei Kies der wichtigste Bodenschatz unserer Region, den könne man unmöglich brach liegen lassen, außerdem schaffe dieser Industriezweig zahlreiche Arbeitsplätze. Und sie seien ja auch verpflichtet, die Baggerseen zu renaturieren, und diese Maßnahme hätte immerhin Fischreiher und Kormorane an den Niederrhein zurückgeholt. Ganz zu schweigen vom touristischen Reiz eines Seengebiets, von wegen Ankurbelung der heimischen Wirtschaft und so.«

»Schwachsinn!«, schimpfte Schnittges. »Kies und Sand und die Fauna, die sich in den Schichten angesiedelt hat, sind natürliche Bodenfilter für das Grundwasser. Wenn dieser Schutz verloren geht, verdreckt unser Trinkwasser.«

»Na ja, man könnte das Wasser ja künstlich filtern«, warf van Appeldorn ein.

»Aber klar doch«, antwortete Bernie. »Solche Filteranlagen verschlingen Unsummen. Ich will mir gar nicht vorstellen, was uns das Wasser dann kosten würde. Und außerdem, wenn das mit dem Klimawandel alles so stimmt, dann stehen uns in Zukunft größere Trockenperioden bevor. Und dann wird die Landwirtschaft reichlich Grundwasser nötig haben, und zwar sauberes.«

Cox verzog den Mund. »Jetzt guck doch mich nicht so giftig an. Ich gehöre nicht zur Kiesmafia.«

»Schon gut.«

»Und wie hilft uns das alles jetzt weiter?«, fragte Penny.

»Dat frag ich mich auch«, meinte Ackermann. »Wusste denn deine Lettie, mit wem in Kessel der Sebastian Finkensieper verhandelt hat?«

»Nein, sie hat ihn auch nie gesehen, sie wohnt ein bisschen außerhalb. Bis jetzt wird auch nur gemunkelt, dass eine neue Auskiesungsfläche genehmigt werden soll, auf der dann wieder mindestens fünfundzwanzig Jahre gebaggert werden darf. Lettie will sich bei den Kreis-Grünen erkundigen, was genau Sache ist.«

»Ich kenne mich ja noch nicht so genau aus.« Penny rieb sich das Ohrläppchen. »Was sind denn das für Leute, die Grünen hier?«

»Nette«, antwortete Ackermann sofort. »Auf alle Fälle keine, die mit ’ner Knarre rumlaufen würden.«

»Bevor wir uns irgendwelchen Hirngespinsten hingeben, sollten wir erst einmal herausfinden, in welcher Funktion Finkensieper für die KGG gearbeitet hat«, merkte Cox an.

»Und die werden uns auch sagen können, ob er überhaupt mit Grundbesitzern verhandelt hat, und wenn ja, mit welchen.« Van Appeldorn streckte sich. »Lasst uns losfahren. Wir nehmen meinen Wagen, Bernie.«

 

Finkensiepers Wohnung lag im zweiten Stock einer wohl erst kürzlich renovierten Jugendstilvilla direkt am Rhein.

Die Düsseldorfer Kollegen, die van Appeldorn und Schnittges begleitet hatten, warteten noch, bis der Schlüsseldienst die Wohnungstür geöffnet hatte, und fuhren dann zu ihrer Dienststelle zurück.

Bernie Schnittges musste sich einen Ruck geben. Er hasste es, in den Sachen eines Toten herumzuschnüffeln, intime Geheimnisse oder vielleicht auch nur kleine Schwächen zu entdecken, die ihn nichts angingen, Schlüsse zu ziehen, gegen die sich der Mensch nicht mehr wehren konnte.

Die Wohnung mit ihren mehr als vier Meter hohen Decken war luftig und hell mit einer dicken Strukturtapete, die in hochglänzendem Weiß gestrichen war, und hellem Ahornparkett.

Eine Küche mit brandneuen Schränken und Elektrogeräten – Ikea, dachte van Appeldorn, er hatte das gleiche Modell bei sich zu Hause –, eine Essecke mit einem angejahrten, nachgedunkelten Weichholztisch und zwei nicht zueinanderpassenden Stühlen.

Man sah gleich, dass Finkensieper erst vor kurzem eingezogen war, alles war noch ein wenig unfertig, aber man erkannte sein Bemühen, das neue Reich wohnlich zu machen.

Im Wohnzimmer standen schwarze Bücherregale, ebenfalls von Ikea und nicht mehr neu, in denen Bücher gestapelt lagen. Finkensieper hatte wohl noch nicht die Zeit gefunden, sie einzusortieren. Außerdem gab es hier einen Schreibtisch mit Sessel und ein flaches Ledersofa in dunklem Türkis, das nach teurem Design aussah.

Im blitzsauberen, winzigen Bad standen in der Duschwanne ein paar Topfpflanzen, noch in Plastikfolie, aber offensichtlich vor kurzem erst gegossen.

Das Schlafzimmer wirkte überraschend feminin. Ein schmiedeeisernes Himmelbett für zwei mit duftigen weißen Vorhängen und ebenso blütenweißen Leinenbezügen, sorgfältig glatt gestrichen. Gegenüber davon, an der Wand, das einzige antike Möbel in der Wohnung, ein Vertiko, auf dem eine große Schüssel aus dickem Glas stand, die mit sicher über hundert bunten Einwegfeuerzeugen gefüllt war – ein fröhlicher Farbtupfer.

»Scheint mir ein sehr ordentlicher Mensch gewesen zu sein«, sagte van Appeldorn.

Schnittges nickte nur und öffnete die Tür zum begehbaren Kleiderschrank. Zwei Anzüge, einer schwarz, einer anthrazitfarben, mehrere Jacketts und Hemden, ein Wintermantel, ein langer Trenchcoat. Schnittges fing an, die Taschen zu durchsuchen.

»Ich nehme mir dann den Schreibtisch vor«, beschloss van Appeldorn und ging ins Wohnzimmer zurück.

»Nichts Besonderes«, berichtete Schnittges, als er aus dem Schlafzimmer kam. »In der Vertikoschublade ein paar Briefe von einer Sarah aus Sheffield, alle schon ein paar Jahre alt, drei alte Taschenkalender, Geburtstags- und Weihnachtskarten, der übliche Kram.«

Er ging zum Fenster, das zum Fluss hinausging. »Billig ist die Wohnung bestimmt nicht«, murmelte er.

»Tausendfünfzig kalt«, sagte van Appeldorn, der inzwischen die erste Schublade durchforstet hatte. »Hier ist der Mietvertrag. Finkensieper hat aber auch nicht schlecht verdient. Er ist übrigens nicht bei der KGG angestellt, sondern arbeitet in einer Anwaltskanzlei hier in Düsseldorf: ‹Wehmeyer und Söhne›.«

»Sollen wir Penny und Jupp Bescheid sagen?«, fragte Schnittges.

Van Appeldorn schüttelte den Kopf. »Das haben die inzwischen sicher schon rausgefunden.«

Schnittges nahm die beiden dicken Aktenordner, die im Regal lagen, setzte sich auf die Sofakante und arbeitete sie langsam durch. Sebastian Finkensieper war ein sehr guter Schüler gewesen, hatte ein erstklassiges Abitur gemacht, dann in Rekordzeit ein Jurastudium absolviert, das er mit Auszeichnung bestanden hatte. Ein Streber? Oder einfach sehr begabt?

Schnittges legte die Aktenordner beiseite und nahm sich ein Fotoalbum vor, das er vorhin schon entdeckt hatte. Das erste Bild zeigte einen etwa vier Jahre alten rothaarigen Jungen mit knubbeligen Knien in einem sommerlichen Garten, der ein weißes Kätzchen auf dem Arm hatte. »Basti und Micki – die Unzertrennlichen« stand in einer zierlichen, weiblichen Handschrift darunter.

Es war ein altmodisches Album, ledergebunden mit mattschwarzen Seiten, die Bilder mit Fotoecken eingeklebt, die Bildunterschriften mit weißer Tinte gemalt.

Bernie musste unwillkürlich lächeln, ein ganz ähnliches Album besaß auch er. Seine Mutter hatte, nachdem auch das letzte Küken ihr Nest verlassen hatte, für jedes ihrer sechs Kinder ein eigenes Album angelegt und es ihnen dann zu Weihnachten geschenkt.

Er blätterte weiter, Urlaubsfotos, Familienfeiern, das Abitur, Basti auf einem Motorrad, nichts Ungewöhnliches, nichts, das aus dem Rahmen fiel. Die Eltern wirkten nett, wenn auch nicht übermäßig fröhlich. Sebastian schien auch ein eher ernstes Kind gewesen zu sein, wie ein unangenehmer Streber sah er allerdings nicht aus.

»Hier sind ein paar Schlüssel.« Van Appeldorn stand auf. »Ein Zweitschlüssel fürs Auto, und dieser könnte der Ersatzschlüssel zum Haus hier sein.« Er ging zur Wohnungstür. »Passt!«

Auch Bernie Schnittges hatte sich erhoben. »Ich frage mich, warum Finkensieper in Kessel in dieser Bruchbude gewohnt hat. Ein Zimmer bei Ophey hätte er sich doch locker leisten können.«

Der Geschäftsführer der KGG hatte Ackermann und Penny erklärt, dass die Firma sich schon seit Jahrzehnten vom Anwaltsbüro Wehmeyer, einer alteingesessenen Düsseldorfer Kanzlei, vertreten ließ. Sebastian Finkensieper habe man persönlich nicht kennengelernt, man überlasse es vertrauensvoll Herrn Wehmeyer, welchen Mitarbeiter er mit der Ausarbeitung der Verträge betraue.

Jetzt standen Penny und Ackermann vor einem Haus in der Schadowstraße und betrachteten die Kanzleitafel aus poliertem Messing. Acht Anwälte, unter ihnen auch Sebastian Finkensieper, waren dort aufgelistet.

»Zweimal Wehmeyer«, bemerkte Ackermann, »und immerhin zwei Frauen.«

Die Kanzlei lag im ersten Stock. Sie nahmen die Treppe und betraten einen nüchternen Empfangsraum. Hinter einem halbhohen Tresen saß eine Frau von Anfang vierzig am Computer. »Guten Morgen«, rief sie und lächelte professionell. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

Penny zückte ihren Ausweis. »Kriminalpolizei, Small.

Wir würden gern Herrn Wehmeyer sprechen … Den Senior«, fügte sie nach kurzem Überlegen hinzu.

»Oh, das tut mir leid«, sagte die Frau ein bisschen verwirrt. »Herr Wehmeyer senior ist in den Ruhestand getreten, und Herr Dr. Wehmeyer ist heute bei Gericht. Aber Sie könnten mit unserem anderen Junior sprechen, Herrn Ingmar Wehmeyer. Soll ich einmal schauen, ob er Zeit für Sie hat?«

»Das wäre sehr freundlich«, antwortete Penny.

Die Sekretärin führte ein kurzes Telefonat und stand dann auf. »Wenn Sie mir bitte folgen würden …«

Sie gingen einen Gang hinunter an mehreren Türen vorbei. Ganz am Ende blieb die Frau stehen, klopfte und wartete lächelnd auf das »Ja, bitte!«, bevor sie die Tür öffnete. »Hier wären dann die Herrschaften von der Kriminalpolizei für Sie, Herr Wehmeyer.«

Ingmar Wehmeyer schaute von seinen Papieren auf und erhob sich halb. Er war Mitte zwanzig, hatte zerzaustes dunkles Haar, intelligente Augen und einen auffallend großen Mund.

»Kripo?« Er setzte sich wieder hin und wies auf die beiden Klientenstühle vor seinem Schreibtisch. »Bitte nehmen Sie Platz.« Seine Hand fuhr kurz hoch zu seinem Krawattenknoten. »Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«

Penny berichtete so sachlich wie möglich von Finkensiepers Tod. Zu ihrer Bestürzung schlug Wehmeyer beide Hände vor den Mund und brach in Tränen aus. Er schluchzte so heftig, dass er kaum Luft bekam.

Ackermann zog eine Packung Taschentücher aus seiner Jacke, nahm eins heraus und schob es über den Schreibtisch.

»Weinen Sie ruhig«, sagte er sanft. »Das erleichtert. Und wir haben alle Zeit der Welt.«

Penny warf ihm einen erstaunten Blick zu. Sie hatte Ackermann noch nie eine andere Sprache sprechen hören als die seiner Region, und sie hatte oft genug ihre liebe Mühe, ihn zu verstehen. Als sie sein bekümmertes Gesicht sah, schloss sie ihn augenblicklich in ihr Herz.

Wehmeyer wischte sich mit dem Taschentuch Augen und Nase, aber er schluchzte noch immer. »Ich wusste doch, dass was passiert ist! Den ganzen Morgen hab ich es auf seinem Handy probiert.«

Schließlich beruhigte er sich ein wenig und erzählte, dass Finkensieper nicht einfach nur ein Kollege für ihn gewesen war.

»Wir haben zusammen studiert, in Bonn. Sebastian hat ein irre gutes Examen gemacht, deshalb hab ich ihn meinem Bruder empfohlen.« Er zerrte an seiner Krawatte. »Ich verstehe nicht, was Sebastian in Kessel verloren hatte. Die KGG hat doch ihre eigenen Leute, die die Grundbesitzer ansprechen. Wir sind doch nur für die Verträge zuständig.«

Seine Hände zitterten, und er faltete sie so fest, dass die Fingerknöchel scharf hervortraten.

»Ich wusste, dass etwas nicht stimmt«, sagte er leise.

»Sebastian war so komisch in den letzten zwei, drei Wochen. Zweimal hat er sich einen halben Tag freigenommen, dabei ist er das totale Arbeitstier. Und vorletzten Sonntag hat er meinen Bruder zu Hause angerufen und um eine Woche Urlaub gebeten.« Er schaute sie unsicher an. »Aus familiären Gründen …«

»Was könnte das bedeutet haben?«, fragte Penny.

Wehmeyer schaute an ihr vorbei. »Ich weiß es nicht.«

»Aber ihr wart doch Freunde«, meinte Ackermann.

Wehmeyers Blick war traurig. »Sicher, aber Sebastian ist …« Er schluckte trocken. »… Sebastian war ziemlich zurückgezogen, ziemlich ernst. Ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll … er war furchtbar nett, und er hat irgendwie immer, ich weiß nicht, immer irgendwie auf einen aufgepasst, war für einen da. Es ist wahrscheinlich …« Langsam fing er sich wieder. »Er ist sehr protestantisch erzogen worden. Sein Vater ist Presbyter.«

»Kennen Sie seine Eltern?«, fragte Penny.

Wehmeyer nickte. »Ich habe sie einmal getroffen, auf unserer Examensfeier. Sie waren nett, selbst beide Juristen, und die Mutter ist seit ein paar Jahren Bürgermeisterin von Radevormwald. Da kommt Sebastian her.«

Er wurde blass, und auf seiner Oberlippe sammelten sich Schweißperlen.

Ackermann schob ihm ein weiteres Taschentuch hinüber. »Ich geh Ihnen ein Glas Wasser holen.«

Wehmeyer presste das Tuch auf den Mund. »Es geht schon«, murmelte er und atmete tief durch.

»Sie wollten uns von Sebastians Eltern erzählen«, fuhr Penny behutsam fort.

»Wie gesagt, sie sind nett, man merkt, wie gern sie Sebastian haben, aber – wie soll ich das sagen? – sie sind sehr evangelisch.«

Penny schaute Ackermann fragend an.

Der nickte. »Also nix mit Karneval, mal einen draufmachen und alle fünfe grade sein lassen.«

Wehmeyers Augen lächelten. »Ja, so etwas meine ich wohl. Und Sebastian war eben auch ein bisschen … Ich meine, nicht dass er gepredigt hätte, um Gottes willen! Aber …«

»Ich weiß schon, was Sie meinen. Die Religion steckt einem in den Knochen, da kommt man nicht so schnell los von.« Ackermann machte eine Pause, dann fragte er:

»Hatte der Sebastian eine Freundin?«

Wehmeyer schüttelte den Kopf, und plötzlich huschte ein Grinsen über sein Gesicht. »Aber ich glaube, er ist in unsere neue Referendarin verknallt. Ich meine, er war … ach, Scheiße!«

Wieder kämpfte er mit den Tränen, aber er riss sich zusammen. »Als er nach Bonn kam, hatte er eine Freundin in Radevormwald, noch aus Schulzeiten, wie das so ist. Aber dann hat er eine Engländerin kennengelernt, die in Bonn ein Auslandssemester machte. Als dann bei uns der Examensstress losging, ist das wohl in die Brüche gegangen. Sebastian war sein Beruf unheimlich wichtig.«

Er ließ den Kopf sinken, und als er wieder aufschaute, lag Wut in seinem Blick. »Erschossen, haben Sie gesagt? Das ist völlig absurd! Was ist genau passiert? Ich will es wissen!«

Penny erzählte es ihm.

»Auf einem Parkplatz vor einem Restaurant? Aus hundertsechzig Metern Entfernung? Da muss ihn jemand verwechselt haben! Das kann gar nicht anders sein!«

»Was wir komisch finden«, sagte Ackermann, »ist, dass der Jung nix bei sich hatte, keinen Hausschlüssel, keine Kreditkarten, keinen Ausweis, keinen Führerschein, bloß den Autoschlüssel, den Schlüssel zum Hotel und ein rotes Portemonnaie mit Bargeld.«

Wehmeyer lächelte. »Das rote Portemonnaie, das war so eine Marotte von ihm. Solange ich ihn kenne, hatte er für sein Bargeld immer ein knallrotes Portemonnaie. Seine anderen Papiere waren in seiner Brieftasche. Und Wegwerffeuerzeuge hat er gesammelt, je knalliger, desto besser. Dabei hat er gar nicht geraucht …«

»Er hatte nicht einmal sein Handy bei sich«, bemerkte Penny.

»Dann wollte er wohl zum Essen.« Wehmeyers Stimme klang aggressiv. »Wenn Sebastian gegessen hat, hat er sein Handy immer ausgeschaltet. Das war auch so ein Tick von ihm. Beim Essen wollte er seine Ruhe haben. Wenn wir beide hier mal zusammen in die Mittagspause gegangen sind, hat er sein Handy immer im Büro gelassen.«

»Auch seine Schlüssel und seine Brieftasche?«, hakte Ackermann nach.

Wehmeyer zuckte die Achseln. »Er hatte immer sein rotes Portemonnaie dabei …«