Einundzwanzig
»Die Liste mit Finkensiepers Handyanrufen ist endlich gekommen«, berichtete Cox.
Neue Erkenntnisse hatte sie nicht gebracht. Ein paar Telefonate mit seinen Eltern und den Brüdern Wehmeyer, der Staatsanwaltschaft in Kleve, dem Anwalt in Goch, der Boskamps Kanzlei übernommen hatte, und zwei Gespräche mit seiner Bank.
»Besonders viele Kontakte hatte der Junge wohl nicht.«
In diesem Moment kam Ackermann ins Büro geschlurft. »Ich weiß, ich bin spät dran. Aber ich hab die halbe Nacht kein Auge zugetan.«
Schnittges goss Kaffee ein und reichte ihm einen Becher.
»Danke, den kann ich brauchen.« Ackermann ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Ich hab im Kopp alles Mögliche durchgespielt, un’ nix davon war schön. Wir müssen unbedingt rauskriegen, wat damals wirklich abgegangen is’. Wo steckt denn Helmut?«
»Der hat anderweitig zu tun, meldet sich aber später. Die Kinder vom Baggerloch habe ich ausfindig gemacht«, nahm Cox seinen Faden wieder auf.
Jörg Goossens, der ältere Sohn, war Manager bei einer Versicherungsgesellschaft in London, die van-Beek-Zwillinge betrieben ein Fitness-Center in Hamburg, und ihr jüngerer Bruder Andreas lebte in Amsterdam. »Eine Adresse konnte mir seine Mutter nicht geben. Sie hat sich sehr bedeckt gehalten. Ich vermute, der Sohn treibt sich in der Halbwelt herum, Drogenszene vielleicht.«
Er schaute in angespannte Gesichter. »So, wie es aussieht, können wir kurzfristig nur zwei befragen, nämlich Dennis Pitz, der noch bis Dienstag in Kessel bleibt. Er ist übrigens Verwaltungsbeamter in Recklinghausen. Und Heiko Goossens. Der ist Arzt und arbeitet in der Urologie im Klever Krankenhaus.«
Das Telefon klingelte. »Sekunde.«
Es war van Gemmern. »Bleib mal kurz dran«, sagte Cox. »Das ist Klaus. Er will jetzt nach Düsseldorf und sich Finkensiepers Wohnung vornehmen. Einer von euch soll mit.«
Ackermann hob den Zeigefinger. »Ich mach’ dat schon.«
»Dennis ist hinten im Garten und gräbt für mich ein paar Beete um. Aber ich verstehe, ehrlich gestanden, nicht, warum Sie mit ihm sprechen wollen.« Christa Pitz runzelte verstört die Stirn. »Was könnte er Ihnen denn über Sebastians Tod sagen? Er war ja nicht einmal hier.«
Es fiel Penny nicht leicht. »Im Moment geht es nicht um Sebastian Finkensieper, sondern um den Mord an Ihrem Sohn.«
»O Gott!«, wimmerte sie. Dann wurde ihr Gesicht ausdruckslos. »Setzen Sie sich bitte, ich hole ihn.«
Die Ähnlichkeit mit Finkensieper war nicht zu übersehen, aber Dennis Pitz war gröber gebaut, bewegte sich linkisch, ein Mann, der über seine eigenen Füße stolperte.
In seinen Augen stand Panik, als er Penny gegenüber in einem Sessel Platz nahm.
»Es ist bestimmt nicht leicht«, begann sie, »aber ich möchte mit Ihnen über den Tag sprechen, an dem Ihr Bruder starb.«
Pitz schüttelte stumm den Kopf.
»Sie waren doch mit ihm und ein paar anderen Jungen am See, zusammen mit Sabine Maas. Können Sie mir sagen …«
Er stieß ein Heulen aus, schlug die Hände vors Gesicht.
»Ich kann nicht«, flüsterte er, »ich kann nicht.«
Seine Mutter kam herein.
»Bitte lassen Sie meinen Sohn in Ruhe.« Sie war gefasst. »Dennis hatte damals einen schweren Schock. Er hat nie darüber gesprochen. Er konnte es nicht. Verstehen Sie das? Er konnte es einfach nicht. Und der Arzt hat uns geraten, nicht daran zu rühren.«
»Sie haben Glück, ich stehe heute nicht auf dem OP-Plan.«
Heiko Goossens hatte van Appeldorn und Schnittges in die Cafeteria mitgenommen. Er fragte nicht viel, schien gern zu plaudern, war offen und freundlich, für van Appeldorns Geschmack ein bisschen zu sonnig.
»Na, sicher kann ich mich an Sabine erinnern, die war toll. Die hat richtig mit uns gespielt, so als wäre sie selbst noch ein Kind. Wir hatten immer eine Menge Spaß mit ihr.«
»Hat Sabine Maas nackt mit Ihnen gebadet?«, fragte van Appeldorn, »oder hat sie …«
»… an uns rumgefummelt?« Goossens lachte verhalten. »Ja, dieser Quatsch ist später auch mir zu Ohren gekommen. Sabine soll pädophil gewesen sein. Das ist völliger Schwachsinn. Ich wüsste gern, welches kranke Hirn sich das ausgedacht hat.« Sein Lächeln galt der Vergangenheit. »Sabine hatte im Garten einen Pool und eine Dusche. Klar sind wir nackt rumgehüpft, wenn’s heiß war. Wir waren doch kleine Kinder. Aber …« Er überlegte. »Sabine war nie nackt, ich jedenfalls hab sie nur im Badeanzug oder im Bikini gesehen. Und selbst wenn sie nackt gewesen wäre, hätte sich niemand etwas Perverses dabei gedacht. So war sie nicht, Mensch.«
»Können Sie sich noch an den 12. August 1983 erinnern?«, fragte Schnittges. »An den Tag, an dem Kevin Pitz ermordet wurde.«
Goossens huschte ein Schatten übers Gesicht.
»O ja«, sagte er. »Als wäre es gestern gewesen. Komisch, eigentlich, aber, na ja.«
»Würden Sie uns diesen Tag schildern, so detailliert wie irgend möglich.«
»Ich will es gern versuchen.« Er machte die Augen zu.
»Wir haben zu Hause Mittag gegessen, und danach wollten mein Bruder und ich zu Sabine und Sebastian. Es waren Ferien, und bei Maasens war’s schön, irgendwas hat Sabine sich immer ausgedacht. Einmal haben wir einen Hindernisparcours für ihre Hündin aufgebaut, Hürden und so, das weiß ich noch gut. Und die Matschkuhle, was haben wir uns eingeferkelt! Aber immer alles abgeduscht, bevor wir nach Hause mussten. Unsere Eltern wären ihr sonst bestimmt aufs Dach gestiegen. An dem Tag? Ja, da haben wir auf dem Weg die anderen getroffen, Kevin, Dennis, Alex, Simon und Andreas. Bei Sabine haben wir dann im Garten gespielt, hinten auf der Obstwiese. Das war für mich so eine Art Paradies. Aber an dem Tag haben wir uns dauernd in die Wolle gekriegt, weil alle gleichzeitig ins Planschbecken wollten. Sabine schlug vor, wir sollten lieber zum Baggerloch gehen, da hätten wir mehr Platz. Und das haben wir dann auch gemacht. Da haben wir geplanscht und gesungen und Melonen gegessen. Und ich weiß noch, Sabine hat Dennis einen Perlenzopf in sein Haar gemacht. Das war komisch, weil der das sonst eigentlich nicht leiden konnte. Irgendwann musste Sabine dann nach Hause und hat uns mitgenommen, weil sie nicht wollte, dass uns was passiert. Dennis und Kevin hatten Schiss, heimzugehen. Die hatten nämlich Hausarrest gehabt und waren einfach ausgebüxt. Wenn ihr Alter sie erwischt hätte, hätte es ordentlich Senge gegeben. Der hat denen nichts durchgehen lassen. Um Punkt halb sieben gab es bei denen immer Abendessen.
Bei meinem Bruder und mir war das egal, da gab’s keine festen Essenszeiten. In den Sommerferien durften wir bis neun draußen bleiben. Na ja, an dem Abend haben wir vier uns dann unsere Räder geschnappt und sind noch mal zu Sabine. Sie hat ihren Kleinen zu uns rausgeschickt, wir sollten ein bisschen auf ihn aufpassen. Wir sind dann wieder zum See runter und haben im Wasser rumgetobt wie die Verrückten. Aber mir war dann auf einmal kalt, und ich bekam auch Hunger, deshalb bin ich abgehauen, nach Hause.«
»Die anderen sind noch geblieben?«
»Ja.«
»Und wo war Sabine Maas?«
»Die war bei sich zu Hause und hat Brot gebacken. Roch lecker, als ich an ihrem Küchenfenster vorbeiradelte.«
»Haben Sie andere Erwachsene in der Nähe des Sees gesehen?«
»Nein, das war damals anders. Die Leute aus dem Dorf gingen nicht einfach so schwimmen. Meine Eltern jedenfalls nicht, die hatten immer zu viel Arbeit.« Er hielt inne. »Es würde mich schon interessieren, warum Sie das alles wissen wollen, aber vermutlich werden Sie es mir nicht sagen, oder?«
Van Appeldorn schüttelte den Kopf. »Laufende Ermittlungen. Aber wie ist es dann weitergegangen an jenem Abend?«
»Ich weiß nicht, ob ich das noch zusammen kriege.«
Zum ersten Mal wirkte Heiko Goossens ein wenig unsicher. »Es war einfach ein furchtbares Durcheinander. Meine Mutter hat mich unter die Dusche gestellt, dann kam mein Bruder nach Hause und hat auch geduscht. Irgendwann kamen Pitz und noch einer, die sind dann mit meinem Vater weg. Meine Mutter hatte das Essen fertig, Grießbrei mit Himbeersirup. Dann kam mein Vater wieder und sagte, Kevin war tot, und Sabine hätte das getan. Es war furchtbar.«
Ackermann war tausend Tode gestorben. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass van Gemmern so ein grottenschlechter Autofahrer war. Entweder zuckelte er im Schneckentempo vor sich hin, oder er fuhr mit Überschallgeschwindigkeit, er überholte in den unmöglichsten Situationen, meist ohne vorher in den Rückspiegel zu schauen, und es hatte zwanzig Minuten gedauert, bis sie in der Nähe von Finkensiepers Wohnung eine Parklücke gefunden hatten, die ihm groß genug erschienen war.
»Groß genug für ‘n Trecker mit Anhänger«, dachte Ackermann und schloss die Wohnungstür auf.
»Wir suchen also die Papiere.«
»Nichts Genaues weiß man nicht …«, feixte van Gemmern. Er war heute ausnehmend gut gelaunt, was man daran merkte, dass er unablässig Hendrix-Songs vor sich hin brummelte: ›… and so castles made of sand …‹
Rasch verschaffte er sich einen Überblick. »Kümmere dich um den Schreibtisch, ich übernehme das Schlafzimmer.«
»Jawoll!« Ackermann schlug die Hacken zusammen.
»Soll ich auch gucken, ob et hier irgendwo lose Fußbodenbretter gibt?«
»Sicher.«
Schon beim ersten Blick auf den Schreibtisch wusste Ackermann, dass er die Akten hier nicht finden würde. Da lagen nur in dünnen Pappordnern abgeheftete Papiere, sauber sortiert, genau wie van Appeldorn gesagt hatte.
Er hörte van Gemmern einen leisen Pfiff ausstoßen.
»Was haben wir denn hier für einen kleinen Racker?«
Ackermann lief ins Schlafzimmer.
Van Gemmern hatte die Glasschüssel mit den bunten Feuerzeugen vom Vertiko genommen und auf der Bettdecke ausgeleert. Er hielt einen flachen blauen Gegenstand, kleiner als die meisten Feuerzeuge, zwischen den Fingern.
»Is’ dat eins von den Dingern, auf denen man Tausende von Daten speichern kann?«
»Ein USB-Stick, genau.« Van Gemmern lächelte fast.
»Offene Verstecke sind doch immer noch die besten.«
»Scheinen schwer in Mode zu sein«, murmelte Ackermann grimmig. »Wenn man jetz’ bloß ‘n Laptop dabei hätt’.«
»Hat man doch.« Van Gemmern ging in den Flur, wo er seine Sachen abgestellt hatte, zog das Gerät aus der Tasche und stöpselte es gleich dort ein. »Dann wollen wir mal sehen.«
Ackermann kniete sich neben ihn. »Lass mich mitgucken.«
»Prozessakte, da ist sie ja. Hier ist auch eine Datei ›Boskamp‹, eine heißt ›Erbschaft‹, alles da.«
»Lass uns doch ma’ kurz die Dateien aufmachen.«
»Nein, das ist Peters Aufgabe.« Van Gemmern fuhr das Gerät herunter. »Mir fehlt dazu wirklich die Zeit.«
»Warte ma’, warte ma’, da steht ›Schließfach‹. Mach wenigstens die ma’ auf.«
Van Gemmern gab sich geschlagen. »Okay, hier hast du es: Finkensieper hat offensichtlich am 5. April dieses Jahres bei der Deutschen Bank Düsseldorf, Filiale Elisabethstraße, ein Schließfach angemietet. Hier steht auch die Nummer.«
»Ein Schließfach, dat is’ et!« Ackermann strahlte. »Am 5. April, dat war dat erste Mal, wo er sich ‘n halben Tag freigenommen hat. Ich könnt’ wetten, dat wir in dem Fach die Papiere von der Erbschaft finden und wer weiß, wat sons’ noch.«
»Das hilft uns nur heute überhaupt nichts, es ist Samstag.«
»Weiß ich doch. Lass mich ma’ eben Peter anrufen. Der wird schon einen finden, der uns die Bank aufschließt.«
»Jupp, darauf kann ich nicht warten. Ich muss zurück, die brauchen mich bei den Hausdurchsuchungen.« Van Gemmern machte eine skeptische Pause. »Falls Toppe es geschafft hat, einem Richter die Durchsuchungsbeschlüsse aus den Rippen zu leiern. Könnte schwierig sein, diese Maßnahme zu begründen.«
»Ach wat, kommt immer drauf an, wen man grad erwischt. Vielleicht hat er Glück gehabt, un’ et war Knickrehm. Jedenfalls, wenn wir tatsächlich heut noch an dat Schließfach können, fahr ich zur Not eben noch ma’ los, is’ ja bloß ‘n Stündken von Kleve bis hier.«
»Ja, Pit, Jupp hier. Hör ma’ …«
Cox versprach, sein Bestes zu tun.
Ackermann überlegte. »Wenn der Sebastian die Akten hier auf dem Stick hat, dann muss er se wohl innen Laptop eingescannt haben.«
»Logisch.«
»Also war er auf jeden Fall nochma’ hier in Düsseldorf, und zwar zwischen Donnerstag und Samstagabend. Un’ vielleicht hat er da auch die Kopien von der Prozessakte in ‘t Schließfach getan.«
»Wenn du es sagst.«
Sie schauten sich noch weitere zwanzig Minuten gründlich in der Wohnung um, konnten aber nichts Wichtiges mehr entdecken.
»Du, hör ma’, Klaus«, meinte Ackermann beiläufig, als sie die Treppe hinunterliefen, »wenn du keine Lust has’ oder zu müd’ bis’, ich fahr’ gerne.«
Van Gemmern beäugte ihn argwöhnisch, gab ihm aber seine Autoschlüssel. »Bitte, ich reiße mich nicht darum.«
»Ich will heute noch einmal zu von Rath«, erzählte er, als sie wieder auf der Autobahn waren.
»Zu Guntram? Ich dacht’, du wärs’ durch mit den Knarren.«
»Wir haben am Tatort so ein kleines graues Ding gefunden, von dem ich zuerst dachte, es könnte sich um einen Dübel handeln. Ist aber nicht so. Und jetzt habe ich auf einmal so eine ganz dunkle Erinnerung. Da war mal was in Amerika, vor dreißig, vierzig Jahren …«
»In Amerika? Vor dreißig, vierzig Jahren? Na, wenn du meins’. Ich persönlich geb’ja viel auf Ahnungen.«