Sechzehn

Ackermann hatte sich gleich nach der Frühbesprechung ins Auto gesetzt und war jetzt auf dem Weg nach Krefeld.

Die anderen Mitglieder der Wohngemeinschaft seien mit Sabine Maas zur Berufsschule gegangen, hatte Küppers gesagt. Vielleicht hatte man dort ja alte Klassenlisten, oder es gab sogar noch Lehrer, die sich erinnern konnten.

Bernies Lettie hatte nett über Sabine gesprochen, das war ja mal was Neues. Die Tante weniger, die hatte ihr »eigenes Leben« gehabt. Irgendwie konnte Ackermann die Frau nicht leiden, obwohl er sie gar nicht kannte.

Und Penny hatte wohl recht gehabt: Finkensieper hatte tatsächlich seiner Mutter nachgespürt. Am Donnerstag war er beim Pfarrer gewesen, am Freitag bei ihrem früheren Lehrer. Wieso nicht bei ihrem alten Lehrherrn? Nun ja, vielleicht war er noch nicht dazu gekommen. Oder Küppers hatte gelogen. Zuzutrauen wäre ihm das, der war kalt wie eine Hundeschnauze. Aber warum sollte er lügen?

Die Bilder von der Sabine … Eine nette junge Frau, völlig normal. Obwohl, wer konnte das sagen? Damals, als das Museum Kurhaus eröffnet worden war, hatte er dort eine Installation gesehen. In einem Raum hatten lauter Fotoporträts von Mördern und ihren Opfern gehangen, ohne Bildunterschriften. Und es war ihm unmöglich gewesen zu sagen, wer Täter und wer Opfer gewesen war.

Hoppla, jetzt hätte er doch beinahe die Abzweigung verpasst! Da war die Schule auch schon, ganz schön groß. Er stellte seinen Wagen auf dem Lehrerparkplatz ab und machte sich auf die Suche nach dem Sekretariat.

Die Frau, die dort arbeitete, machte einen pfiffigen Eindruck. »Da brauche ich gar nicht im Archiv nachzuschauen, an Sabine Maas kann ich mich gut erinnern. Ich arbeite nämlich schon seit über dreißig Jahren hier. Und der Mord an dem Kind ist ja durch die ganze Presse gegangen. Sabine M. hieß es da nur, aber auf den Fotos hat man sie natürlich erkannt. Eine Lehrerin von ihr ist immer noch hier an der Schule, Frau Bauer. Augenblick mal.«

Sie ging zu einer riesigen Wandtafel mit Hunderten von verschiedenfarbigen Schildchen, dem Stundenplan, wie es aussah. Dann schaute sie auf die Uhr. »Ihr Unterricht hat gerade erst angefangen. Sie haben wohl nicht die Zeit, bis zur Pause zu warten?«

»Leider nich’.«

»Frau Bauer ist in einer Klasse drüben im Westflügel, aber das finden Sie nie. Ich werde sie auf ihrem Handy anrufen.«

Ackermann wartete auf dem Gang. Es dauerte nur ein paar Minuten, dann kam eine ältere Frau auf ihn zugelaufen: hüftlanges graues Haar, rote Pumphosen, weites graues T-Shirt, Gesundheitssandalen.

»Mist«, dachte Ackermann, »eine Ökoschlunze.« Mit denen tat er sich schwer, meistens konnten sie ihn nicht leiden.

»Sie hat sich umgebracht? Das ist ja schrecklich.«

Bestürzt legte Frau Bauer die Hände an die Wangen, fasste sich aber schnell. »Lassen Sie uns nach draußen gehen. Ich brauche frische Luft.« Sie führte ihn in einen begrünten Innenhof mit einem Springbrunnen und einer Bank.

»Wenn es doch ein Freitod war, wieso interessiert sich dann die Mordkommission dafür?«

»Weil der Sohn von Sabine Maas letzten Samstag in Kessel erschossen worden is’.«

Renate Bauer blickte fassungslos. »Ich verstehe überhaupt nichts mehr.«

»Macht nix«, meinte Ackermann, was die Lehrerin nicht zu erfreuen schien. »Erzählen Sie mir doch einfach ma’ wat von Sabine Maas. Wat Ihnen so innen Sinn kommt.«

Diese Aufforderung schien sie zu befremden, aber schließlich begann sie doch zu reden.

»Sie müssen wissen, dass Sabine nicht einfach eine Schülerin für mich war. Ich würde sagen, sie war eher eine Freundin. Wir haben uns gemeinsam politisch engagiert, gegen Kernkraft, gehörten 1977 beide zu den Gründungsmitgliedern der Bürgerinitiative ›Stop Kalkar‹. Bis 79 hatten wir sogar unsere Zentrale auf Sabines Hof.«

»Dann war die Sabine also ‘n politischer Mensch?«

Sie schaute überrascht. »Nein, überhaupt nicht. Das Mädchen war eher einfach gestrickt. Wissen Sie, ihre Eltern waren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, als sie gerade einmal achtzehn war. Ich war damals quasi die Einzige, die sich um sie gekümmert hat. Und ich denke, ihr politisches Engagement hat ihr über die Tragödie hinweggeholfen. Deshalb habe ich sie darin bestärkt.«

»Hm. Wir haben gehört, dat die Sabine auf dem Hof ‘ne WG gehabt hat.«

»Ja, das stimmt, so zwei, drei Jahre lang. Das Kind musste sich schließlich die Hörner abstoßen, wie Sie und ich auch.«

»Wissen Sie, wer bei ihr gewohnt hat?«

»Ich weiß, wer am Anfang dort eingezogen ist«, entgegnete sie kühl. »Die waren alle in Sabines Klasse, alles meine Schüler. Karen Wimmers, Stefan Möllemann, Monika Groß …«

»Stopp, stopp«, rief Ackermann, »so schnell kann ich nich’ schreiben.«

Sie wiederholte die Namen und fuhr fort: »Volker Kluge und Sabines Freund, Kai Stepanski. Wer später noch alles dort gewohnt hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Das wechselte ständig. Sabine war naiv, leicht auszunutzen. Ich habe ihr schließlich geraten, die ganze Bande rauszuwerfen, und sie hat auf mich gehört.«

»Un’ wann war dat?«

Die Lehrerin überlegte kurz. »Das war nach der Pfingstdemo in Kalkar, also im Frühsommer 79. Karen und Stefan haben noch ein paar Wochen länger dort gewohnt, sind dann aber auch ausgezogen.«

»Un’ wat war mit Sabines Freund?« Ackermann schaute auf seinen Zettel. »Diesem Kai Stepanski?«

»Ach der! Den hatte Sabine schon Monate zuvor in die Wüste geschickt. Er war drogenabhängig.«

Ackermann rechnete. »Sabine muss im September 79 schwanger geworden sein«, stellte er fest. »Dann kann der Stepanski nicht Sebastians Vater sein.«

»Tja, wer weiß? Vielleicht hat er Sabine noch einmal besucht. Das könnte schon passen. Sabine hat sich über den Kindesvater ausgeschwiegen. Vielleicht, weil es ihr peinlich war, dass sie sich wieder mit diesem Junkie eingelassen hatte.«

»Können Sie mir denn sagen, wat aus denen geworden is’, aus denen, die zuerst da gewohnt haben?«

»Selbstverständlich«, antwortete sie herablassend. »Ich halte mich auch über ehemalige Schüler auf dem Laufenden, soweit es mir möglich ist.«

Ackermann zückte sofort wieder seinen Stift.

»Zu Karen und Stefan habe ich noch guten Kontakt. Sie sind miteinander verheiratet und haben sich vor ein paar Jahren mit einem Restaurant in Kleve selbstständig gemacht. Kai ist damals nach Berlin gegangen, und Volker arbeitet in den USA, in Boston, soweit mir bekannt ist.«

»Un’ die Monika Groß?«

»Ach ja, die lebt in Neuseeland, hat einen Schafbaron geheiratet.«

»Wenn ich dat richtig versteh’, hatten Sie noch Kontakt mit Sabine, als et die WG schon nich’ mehr gab.«

»Natürlich! Ich war praktisch die Einzige, die sich während ihrer Schwangerschaft um sie gekümmert hat. Ich hatte ihr sogar angeboten, ihr bei der Geburt zur Seite zu stehen, aber das hat sie abgelehnt. Vermutlich war es ihr unangenehm. Tja, und dann …« Sie drehte die Handflächen nach oben und schaute sehr ernst.

»Als Sebastian geboren war, haben wir nach und nach den Kontakt zueinander verloren. Sabine ist noch ein paarmal zu den Initiativtreffen gekommen, aber da hat sie schon in ihrer eigenen Welt gelebt. Als der Mord passierte, habe ich mir die bittersten Vorwürfe gemacht. Ich nehme an, Sabine hatte eine schwere postnatale Depression, und keiner hat es bemerkt, nicht einmal ich. Wenn eine solche Krankheit sich manifestiert, kann das Schlimmste passieren, und das ist dann ja auch geschehen.«

»Haben Sie die Sabine nochma’ gesehen? Als sie aus dem Knast raus war, mein’ ich. Die hat nämlich hier in Krefeld gewohnt.«

»Nein.« Renate Bauer stand abrupt auf. »Wenn Sie weiter keine Fragen haben, ich muss zurück in den Unterricht.«

Ackermann setzte sein freundlichstes Lächeln auf.

»Okay, für ‘n Moment wär’ et dat, un’ sonst meld’ ich mich nochma’. Ach nee, Sekunde, die Adresse von dem Restaurant von diesen Möllemanns braucht’ ich noch.«

Sie nannte sie ihm und rauschte davon.

»Blöde Schnepfe«, murmelte er und holte sein Handy heraus, um Cox anzurufen.

 

Peter Cox hatte zwei unangenehme Stunden hinter sich.

Um kurz vor neun war ein energischer uniformierter Kollege, den er nicht kannte, in sein Büro gekommen:

»POM Schliepkötter aus Radevormwald. Ich bringe Ihnen die Finkensiepers. Wir konnten sie nicht alleine fahren lassen, sie sind nicht ganz bei sich. Eigentlich hätte man einen Arzt holen müssen, aber sie wollten unbedingt sofort hierher, dabei sind sie schon seit über dreißig Stunden ohne Schlaf.«

Rolf und Marita Finkensieper waren beide tief verstört gewesen, der Mann wie erstarrt, die Frau, höchstens Mitte fünfzig, hatte sich bewegt wie eine Achtzigjährige. Sie war es gewesen, die mit fiebrigem Glanz in den Augen gefragt hatte, was genau passiert war.

Sebastian hatte ihnen nicht erzählt, dass er herausgefunden hatte, wer seine leibliche Mutter war, nichts von ihrem Tod, nichts von der Erbschaft, nicht, dass es ihn nach Kessel zog.

Die Eltern hatten nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass sie ihn adoptiert hatten. Als er in dem Alter gewesen war, in dem man Fragen stellte, hatten sie ihm erklärt, seine Eltern seien bei einem Unfall getötet worden, er sei in ein Heim gekommen, und dort hätten sie ihn gefunden. Seine Geburtsurkunde hatte er nie sehen wollen.

»Wir konnten ihm doch nicht sagen, dass seine Mutter eine Mörderin war«, hatte der Vater gejammert, »eine Kindermörderin!«

»Seit wann wusste Bastian es?« Das war von der Mutter gekommen.

»Seit vier Wochen«, hatte Cox geantwortet. »Wann haben Sie Ihren Sohn das letzte Mal gesehen?«

»Anfang März.« Der Vater hatte es wie eine Frage klingen lassen. »Aber wir haben miteinander telefoniert. Zuletzt an dem Tag, als wir nach Afrika aufgebrochen sind, am 14. April. Er klang ganz normal, wie immer …«

Dann hatte die Mutter gestöhnt: »Ich will ihn sehen, ich will mein Kind sehen.«

Cox war erleichtert gewesen, dass er das Wort Identifizierung nicht hatte in den Mund nehmen müssen.

»Ich begleite Sie. Ich muss uns nur kurz telefonisch anmelden. Gehen Sie doch schon einmal hinunter, ich komme sofort.«

Bonhoeffer war gleich selbst am Apparat gewesen.

»Hör zu, Arend, ich bin in einer halben Stunde mit Finkensiepers Eltern bei dir.«

»Gut, ich werde ihn so abdecken, dass man nur die heile Gesichtshälfte sieht.«

»Und sorge dafür, dass ein Arzt in der Nähe ist.«

»Ich bin Arzt.«

»Du weißt schon, was ich meine. Ich furchte, die klappen uns beide zusammen.«

Und so war es dann auch gekommen.

 

Als Ackermann anrief, war er gerade wieder aus Emmerich zurück.

Jupp hatte also tatsächlich zwei Leute ausfindig gemacht, die damals in der Kesseler WG gelebt hatten, die Besitzer des Restaurants »Agave«. Cox kannte das Lokal nur vom Hörensagen – klein, fein und sehr teuer.

 

Van Appeldorn hatte Karen Möllemann angerufen und ihr von Sabine Maas’ Selbstmord berichtet, damit sie sich ein wenig fassen konnte, bevor sie miteinander redeten. Ihr Mann sei nicht da, hatte sie gesagt, er besuche gerade ein paar Weingüter im Elsass, aber sie sei gern bereit, sich Zeit zu nehmen.

Eine Köchin hatte er sich anders vorgestellt. Karen Möllemann war schlank, fast schon mager, hatte kurzes blondes Haar und sehr helle Haut.

»Ich dachte, es ist so warm heute, dass wir uns nach draußen setzen können. Kommen Sie.«

Sie führte ihn ums Haus herum zu einer Terrasse aus Naturstein. Unter einer alten Buche war ein Tisch gedeckt: Bruschetta, Oliven, geröstetes Körnerbrot mit Ziegenkäse, Krüge mit Saft und Wasser.

Van Appeldorn fühlte Verärgerung aufsteigen. Er war nicht zu seinem Vergnügen hier, er hatte einen Mord aufzuklären, er wollte wissen, wer Sebastians Vater war, wollte etwas über den Geisteszustand der Maas herausfinden.

Die Frau schien seine Verstimmung zu spüren.

»Wenn Sie Appetit haben …«, sagte sie leise.

Van Appeldorn bemühte sich um ein Lächeln. Es brachte gar nichts, wenn er sie einschüchterte. »Ein Glas Saft wäre wunderbar.«

Sie sollte möglichst ungezwungen in ihren Erinnerungen kramen, was sie schließlich auch tat.

»Sabine war ein richtiges Landei, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollte.«

»Kurz vor Weihnachten 76 sind wir fünf zu ihr auf den Hof gezogen und kamen uns so toll vor – eine Kommune.«

»Natürlich haben wir alle gekifft! Das waren die Siebziger, was denken Sie denn? Aber Sabine hat sich eigentlich nichts daraus gemacht.«

»Was die Leute im Dorf uns nicht alles angedichtet haben. Gruppensexorgien! Freie Liebe, dass ich nicht lache. Wir waren so was von brav und bieder, zumindest Sabine und ich. Ich war damals schon fest mit meinem jetzigen Mann zusammen und Sabine mit Kai.«

»Nein, Kai kann nicht Sebastians Vater sein. Als Sabine schwanger wurde, war er schon tot. Sie hat sich von ihm getrennt, als er anfing zu fixen. Ich glaube, das war im Sommer 78. Er ist dann nach Berlin gegangen und hat sich ein paar Monate später den goldenen Schuss gesetzt. Ich weiß davon nur, weil Kais Familie und meine Eltern Nachbarn sind. Die Stepanskis haben das nicht an die große Glocke gehängt.«

»Ich glaube, am Anfang war die WG für Sabine so etwas wie ein Familienersatz. Später wurde es dann chaotisch, ständig neue Leute, die man kaum kannte. Sabine war ein Schaf, ließ sich auf der Nase herumtanzen. Aber eines Tages ist es sogar ihr zu viel geworden, und sie hat alle rausgeworfen. Stefan und ich hätten bleiben können, aber uns war inzwischen mehr nach Zweisamkeit, und wir wollten auch beruflich weiterkommen.«

»Unser Kontakt später war eher lose. Einmal haben mein Mann und ich sie Weihnachten besucht, aber wir hatten nicht viel gemeinsam. Und als sie dann das Kind kriegte … Vielleicht wissen Sie, wie junge Mütter sind. Für Sabine gab es kein anderes Thema mehr. Sie hatte ein Kind, ich hatte keines und wollte auch keines.«

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wer Sebastians Vater ist. Natürlich habe ich gefragt, aber Sabine sagte nur, das wäre völlig unwichtig, es sei ihr Kind und nur ihres. Da habe ich nicht weiter nachgebohrt, wäre auch zwecklos gewesen, sie konnte nämlich auch stur sein.«

»Wann ich Sabine das letzte Mal gesehen habe? Das ist sehr lange her. Wir sind noch einmal bei ihr gewesen, als das Kind so um die zwei war. Mein Mann und ich arbeiteten damals beide in Köln und standen beruflich unter einem enormen Druck. Wir dachten wohl, eine Woche bei Sabine auf dem Land würde uns guttun, aber es war unerträglich. Nicht nur, dass Sabine und der Kleine aneinanderklebten wie siamesische Zwillinge, sie hatte auch Tag und Nacht sämtliche anderen Kleinkinder aus dem Dorf bei sich versammelt. Aber für sie war das anscheinend das Richtige. Man merkte, wie viel Spaß ihr das machte. Ich weiß noch, dass ich gesagt habe, sie solle sich zur Erzieherin ausbilden lassen, dann würde sie wenigstens Geld dafür bekommen. Aber Sabine hat darüber nur gelacht. ›Mir geht’s doch gut‹, sagte sie immer. Ich konnte es manchmal schon nicht mehr hören. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen, ich mochte sie gern. Nur, na ja, sie machte ihr Ding, ich machte meines. Das war ganz in Ordnung.«

»Von dem Mord habe ich aus der Zeitung erfahren. Ich war völlig geschockt.«

»Nein, ich habe nicht versucht, zu ihr Kontakt aufzunehmen. Ich weiß nicht, ob Sie eine Vorstellung von unserem Beruf haben. Als Sabine ins Gefängnis kam, arbeitete Stefan in London, und ich machte eine Zusatzausbildung zur Patissière in Zürich. Sabine und ihre heile Welt waren Lichtjahre entfernt.«

»So heil ist ihre Welt wohl doch nicht gewesen«, warf van Appeldorn ein.

Karen Möllemann schaute ihn betreten an. »Das stimmt wohl. Verstanden habe ich es nie. Sabine war lieb, vielleicht ein bisschen weltfremd manchmal.« Sie lachte kurz auf. »Obwohl sie doch tatsächlich die Anti-AKW-Bewegung mitbegründet hat. Aber da war sie wohl eher williges Werkzeug der lieben Renate, unserer SoWi-Lehrerin. Sabine hat den Leuten ihren Hof als Zentrale zur Verfügung gestellt und uns damit tatsächlich eine Polizeirazzia eingehandelt vor der großen Demo 77 in Kalkar. Und irgendwie hat sie sogar alle aus der WG, selbst die ständig Bekifften, dazu gebracht, an der Demo teilzunehmen. Sie hatte für alle Räder besorgt und geheime Zufahrtswege ausgearbeitet. Das hatte ein bisschen was von ›Räuber und Gendarm‹. Echt süß.«

Wieder unterbrach van Appeldorn sie: »Echt süß, ein Schaf, weltfremd, lieb – so beschreiben Sie Sabine. Wie geht das zusammen mit der Tatsache, dass sie auf brutale Weise ein kleines Kind tötet?«

Karen Möllemann rieb sich die Arme. »Ich weiß es nicht. Ich sage ja, ich habe es nie verstanden. Bis heute nicht. Es tut mir so leid. Sie war jünger als ich, und jetzt ist sie tot.«

»Vielleicht haben Sie es in der Zeitung gelesen: Am Samstag ist in Kessel ein junger Mann erschossen worden.«

»Ja, davon habe ich gehört. Schrecklich! Und ausgerechnet hier bei uns, wo die Welt noch in Ordnung ist.«

»Der Tote war Sabines Sohn Sebastian.«