Siebzehn
Cox hatte über Grundbucheintragungen und Katasterauszügen gesessen und schaute sich gerade auf einer alten Karte das Grundstück an, das zum Maashof gehört hatte, als Penny anrief.
»Ich bin noch bei der KGG. Sie haben mir alle Kaufverträge mit Grundstückseignern in Kessel aus den Jahren 84 bis 89 vorgelegt. Der Vertrag mit Sabine Maas ist koscher. Man hat ihr sogar einen sehr guten Preis gezahlt. Ich habe dir den Vertrag gerade zugemailt, weiß aber nicht, ob es geklappt hat. Schaust du mal nach?«
»Doch, ist angekommen.« Cox klickte auf ›Drucken‹.
»Dann kannst du dich ja jetzt auf den Rückweg machen, Sweetie, ich hab schon Sehnsucht.«
»Bis gleich«, antwortete sie nur – offenbar war sie nicht allein.
Er überflog das Vertragswerk. Karl-Heinz Boskamp, ein Anwalt aus Goch, hatte für Sabine Maas die Verhandlungen geführt. Penny hatte recht. Das Katasteramt hatte ihm den in jenen Jahren üblichen Quadratmeterpreis genannt, und der von Boskamp mit der KGG ausgehandelte lag ein wenig höher.
Wegen der KGG war Finkensieper jedenfalls nicht in Kessel gewesen.
Bei der Staatsanwaltschaft hatte Toppe erfahren, dass auch Sebastian Finkensieper sich für die Akte ›Der Staat gegen Sabine Maas‹ interessiert hatte. Am vorletzten Montag, am Morgen des 16. April, war er dort gewesen, um sich eine Kopie der Prozessakte zu ziehen.
Am frühen Montagmorgen … dann war das vielleicht das Erste gewesen, was er unternommen hatte, nachdem er bei van Beek in Kessel eingezogen war.
Toppe lief die Stufen hinauf.
Der Diensthabende auf der Wache feixte. »Im Büro wartet eine Überraschung auf Sie.«
Es war Astrid, die gerade den Tisch an seiner neuen Sitzecke deckte.
»Pizza!« Sie lächelte. »Ich habe denen eine Warmhaltebox abluchsen können.«
Er warf die Akte auf den Schreibtisch und umarmte sie. Sie wurde ganz weich, küsste ihn lange.
»Dir geht es besser«, stellte er fest, und ihm wurde ganz mulmig vor Erleichterung.
»Ja, mir geht es viel besser.« Endlich lächelten auch ihre Augen wieder mit.
»Was ist passiert?«
»Ich weiß es eigentlich gar nicht. Ich saß da in der Firma über meinen Zahlenkolonnen und dachte auf einmal: Ich habe Hunger, und ich will meinen Mann sehen.«
Teller, Besteck, Gläser und Servietten hatte sie in der Pizzeria ausgeliehen und eine Flasche Rotwein gekauft.
»Komm, ich habe wirklich Hunger.«
Er freute sich. Sie hatte so viel abgenommen in den letzten Monaten, im Essen nur herumgestochert, obwohl er sich alle Mühe gegeben hatte. Wann immer es ging, hatte er das Kochen übernommen und alle ihre Lieblingsgerichte auf den Tisch gebracht.
Sie stürzte sich förmlich auf ihre Pizza und war schon fertig, als Toppe seine gerade einmal zur Hälfte geschafft hatte. Dann goss sie sich ein zweites Glas Wein ein.
»Weißt du, als ich vorhin ankam, dachte ich, mich würde das heulende Elend überfallen. Aber das ist nicht passiert. Ich vermisse den Laden hier überhaupt nicht. Komisch, oder? Die Arbeit in der Firma fängt an, mir Spaß zu machen, jetzt, wo ich langsam den Durchblick bekomme. Und unsere Tochter fühlt sich im Hort pudelwohl.«
Das Erste, was sie eingeführt hatte, als sie die Fabrik übernehmen musste, war der Hort für die Kinder der Angestellten.
»Das Einzige, was ich wirklich vermisse, ist, dass wir beide nicht mehr den ganzen Tag zusammen sind.«
Sie nahm ihm das Besteck aus der Hand, küsste ihn, ging dann zur Tür und schloss ab.
»Also heißt es ab jetzt: Nutze den Augenblick.«
Zu den Annehmlichkeiten seiner neuen Position gehörte zweifelsohne das eigene Bad.
Toppe trocknete sich ab und schlüpfte in frische Kleider. Auch das bequeme Sofa hatte durchaus etwas für sich. Er musste grinsen. »Ist dir eigentlich klar, dass du es hier mit einer Multimillionärin treibst?«, hatte sie gefragt. Daran hatte er tatsächlich noch keinen Gedanken verschwendet, an ihrem Alltag hatte das bisher nichts geändert.
Er brühte sich einen Espresso auf, setzte sich an den Schreibtisch und nahm sich die Prozessakte vor.
Die Tatortfotos.
Das tote Kind, bekleidet mit einer Badehose, eine weiße Plastiktüte über dem Kopf, am Hals zusammengebunden mit einer Art Angelschnur, unordentlich umwickelt, nicht verknotet. Gleich neben der linken Hand, halb im Wasser, ein geringeltes Achselhemdchen und ein Badeschuh.
Ein Foto von im Gras verstreuten Gegenständen: eine Rolle Nylonschnur, eine Zigarrenkiste voll bunter Perlen und Federn, ein Kulturbeutel mit Theaterschminke, eine Plastikdose mit Stücken von der Schale einer Wassermelone, zwei leere Mineralwasserflaschen.
Fußspuren im nassen Sand, alle mit den üblichen Spurentäfelchen markiert, ebenso verschiedene Schuhspuren.
Ein Foto von einem umgekippten Dreirad.
Der Bericht des Pathologen: Tod durch Ersticken. Keine äußeren und inneren Verletzungen, auch keine Abwehrverletzungen, keine Anzeichen von Gewaltanwendung. Unter den Fingernägeln Sand.
Das Protokoll zur polizeilichen Vernehmung von Sabine Maas am späten Abend des 12. August 1983: Sabine hatte mit ihrem Sohn Sebastian im Garten gespielt, als gegen 13 Uhr 30 ein paar Kinder aus dem Dorf zu Besuch gekommen waren. Mit ihnen und ihrem Sohn war sie dann zum Baggersee gegangen, wo sie gemeinsam geschwommen waren und gespielt hatten.
Gegen 17 Uhr war Sabine Maas in den Ort zurückgekehrt und hatte die Kinder nach Hause geschickt. Sie selbst hatte dann Brot gebacken.
Etwa eine halbe Stunde später waren einige Kinder aus dem Dorf wieder bei ihr aufgetaucht, diesmal mit ihren Fahrrädern, und Sabine Maas hatte ihren Sohn mit seinem Dreirad hinausgeschickt, damit er noch ein wenig mit den anderen Kindern spielen konnte.
Gleichzeitig hatte sie festgestellt, dass ihre Kuh sich losgerissen hatte und im Morast feststeckte. Es hatte etwa zwanzig bis dreißig Minuten gedauert, bis sie die Kuh in den Stall zurückgebracht hatte.
Also war es wohl gegen 18 Uhr gewesen, als sie ihren Sohn den Weg aus Richtung Baggerloch entlangkommen sah, ohne Dreirad, völlig verstört und sprachlos.
Sie hatte den Jungen gebadet, ihm etwas zu essen gegeben und sich dann mit ihm ins Bett gelegt, weil er ohne sie nicht einschlafen konnte.
Ihr Haus hatte sie an diesem Abend nicht mehr verlassen.
Die Anklageschrift:
Hier fand Toppe die Namen und das Alter der Kinder, mit denen Sabine Maas am See gewesen war: Dennis Pitz (9 Jahre), Kevin Pitz (6 Jahre), Jörg Goossens (10 Jahre), Heiko Goossens (8 Jahre), Simon und Alexander van Beek (beide 6 Jahre) und Andreas van Beek (4 Jahre).
Toppe blätterte nach hinten, aber er fand nichts. Offensichtlich hatte die Polizei die Kinder nicht vernommen. Auch der Anwalt von Sabine Maas schien keine Vernehmung beantragt zu haben. Seltsam … Wie hieß der Mann überhaupt? Boskamp, nie gehört.
Der Bericht von der Spurensicherung und die Auswertung: Die am Tatort gefundenen Gegenstände konnten eindeutig Sabine Maas zugeordnet werden, alle, auch die Plastiktüte, wiesen unter anderem ihre Fingerspuren auf. Das gefundene Dreirad gehörte ihrem Sohn.
Im Bereich des Badestrandes hatte man ausschließlich Fußspuren von Kindern und von Sabine Maas gefunden. Darüber hinaus Schuhspuren der vier Väter, die den toten Jungen gefunden hatten.
Indizien, dachte Toppe. Und nicht einmal besonders gute. Warum lässt die Täterin quasi ihre Visitenkarte am Tatort zurück? Warum hat sie, nachdem das Kind tot war, die verräterische Plastiktüte nicht entfernt? Auch die Fußspuren waren ein dünnes Indiz. Der Täter hätte doch auch mit einem Boot über das Wasser gekommen sein können. Außerdem hatten die Schuhsohlen der Männer etliche darunterliegende Abdrücke zerstört. Auf den Gegenständen am Tatort, auch auf der Plastiktüte, hatte man Sabine Maas’ Fingerspuren gefunden, unter anderen. Wer, außer ihr, hatte seine Fingerabdrücke hinterlassen? Das war offenbar nicht untersucht worden.
Aber da gab es die Aussagen von drei Zeugen, die alle dasselbe beobachtet hatten: Gegen 18 Uhr 10 an diesem Freitagabend war Sabine Maas mit ihrem Sohn, der auf seinem Dreirad saß, und Kevin Pitz zum Baggerloch gegangen. Sie hatte eine weiße Plastiktüte bei sich gehabt.
Die Zeugen waren: Kurt Goossens, Hans-Jürgen Küppers und Manfred van Beek.
Goossens hatte es von seinem Garten aus beobachtet, Küppers auf der Rückfahrt von einem Waffenladen aus seinem Auto, und van Beek war mit dem Fahrrad unterwegs gewesen.
Dann gab es noch eine vierte Zeugenaussage.
Toppe schüttelte ungläubig den Kopf.
Herta van Beek hatte wiederholt beobachtet, dass Sabine Maas am helllichten Tag mit ihrem Sohn nackt im See gebadet hatte und dass auch andere Kinder – alles Jungen –, wenn sie in Maas’ Garten gespielt hatten, nackt gewesen waren.
Toppe suchte nach weiteren Aussagen, aber er fand keine. Wo waren berechtigte Zweifel angemeldet worden? Wo waren die Entlastungszeugen? Wo war jemand, der etwas Positives über Sabine ausgesagt hatte? Was war das für ein Anwalt? Was hatte er für Sabine getan?
Dieser Prozess stank zum Himmel.
Man hatte einen Psychiater als Gutachter hinzugezogen: Das EEG war unauffällig gewesen, der Intelligenztest bescheinigte einen durchschnittlichen IQ. Darüber hinaus waren noch verschiedene Persönlichkeitstests durchgeführt worden.
»Die übertriebene Sorge um ihr eigenes Kind, das zur Zeit in einem Heim untergebracht ist, weist auf mangelndes Mitleid mit dem Opfer und ein inneres Verleugnen der Tat hin.«
Aus der Tatsache, dass Berichte vom Staatsschutz über Sabines aktive Anti-AKW-Zeit vorlagen, schloss der Psychiater: »Es könnte eine narzißtische Störung vorliegen. Die Probandin möchte der Welt vorschreiben, wie sie zu funktionieren hat. Das sture Beharren auf bestimmten Prinzipien mag der Versuch sein, eine drohende Psychose abzuwenden.«
»Es besteht keine ausgeprägte Form der Aggressivität. Jedoch könnte es sein, daß die Probandin durchaus die Fähigkeit besitzt, die Kontrolle der zweifelsohne in ihr vorhandenen aggressiven Triebimpulse durch die Fassade der bescheidenen jungen Frau‹ vorzutäuschen.«
»Es kann nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass keine Pädophilie vorliegt.«
Dieses Gutachten hatte Sabine Maas wohl endgültig den Hals gebrochen.
Toppe zog sein Telefonregister heran und suchte die Nummer der Anwaltskammer heraus.
Die Firma, die die Überraschungseier herstellte, war außergewöhnlich kooperativ, man hatte extra einen Mitarbeiter freigestellt, der Cox bei der Identifizierung der am Tatort gefundenen Kleinteile helfen sollte.
Cox hatte sieben Fotos hinübergemailt und bekam jetzt viertelstündlich Post von einem Marco Ferreira, der offensichtlich Spaß an der Sache hatte. »Foto 89 zeigt einen Liegestuhl aus unserer Serie ›Happy Hippos‹.«
Am Ende blieben Foto Nr. 4 und Foto Nr. 56 übrig, bei denen Ferreira sicher ausschließen konnte, dass sie Teile aus Überraschungseiern zeigten.
Cox nahm die beiden Fotos und ging ins Labor hinüber.
Van Gemmern stand am Tisch. Er trug eine Lupenbrille und stocherte mit einer langen Pinzette in einem braunen Klumpen herum, der nicht sehr angenehm roch.
»Was treibst du denn da?«, fragte Cox neugierig.
»Glaub mir, das willst du gar nicht wissen.« Van Gemmern nahm die Brille ab. »Bist du bei deinen Überraschungseiern fündig geworden?«
»Ja, tatsächlich. Nur diese beiden Dinger hier müssen etwas anderes sein.«
»Zeig noch mal her. Das rote hier sieht aus, als wäre es irgendwo abgebrochen.«
»Ja«, nickte Cox. »Vielleicht von einem Sandförmchen. Siehst du die Wölbung hier?«
»Hm.« Van Gemmern konzentrierte sich auf das andere Foto, das einen sehr kleinen grauen Kunststoffgegenstand zeigte, rund mit einem Loch in der Mitte und sechs gespreizten Armen. »Das könnte eine Art Spezialdübel sein«, überlegte er. »Da gibt es doch diesen Werkzeugladen in Materborn …«
»›Van Geldern)«, half Cox ihm aus. Das Geschäft war, seit er mit der Hausrenovierung angefangen hatte, zu seinem zweiten Heim geworden. »Alles Fachleute.«
»Dann lass mir das Bild mal da. Ich werde später hinfahren.«
Selbst Ackermann fand zunächst keine Worte, als Toppe seinen Bericht über den Prozess gegen Sabine Maas beendet hatte.
»Und es kommt noch besser.«
Toppe war zu Boskamps ehemaliger Kanzlei gefahren. Er hatte eigentlich nicht viel Hoffnung gehabt, dass Boskamps Nachfolger die alten Akten seines Vorgängers aufbewahrt hatte – schließlich waren seit dem Prozess dreiundzwanzig Jahre vergangen –, aber er hatte eine Überraschung erlebt. »Die Akte Sabine Maas?« Der Anwalt war ziemlich perplex gewesen. Erst vor vierzehn Tagen war ein junger Kollege, ein Herr Finkensieper aus Düsseldorf, bei ihm gewesen und hatte nach derselben Akte gefragt. Man hatte ihn in den feuchten Keller geschickt, in dem Boskamps Papiere in unordentlichen Stapeln vor sich hin moderten. »Der Kollege hat zwei Tage benötigt, aber er ist tatsächlich fündig geworden.«
Das war am 18. und 19. April gewesen. »Ich wollte ihm die Akte eigentlich mitgeben, aber als er mir erklärte, dass er ein Wiederaufnahmeverfahren anstrengen will, habe ich doch lieber Kopien gemacht.«
»Es war Boskamps erster Strafprozess«, erklärte Toppe, »aber das wird ja nur allzu deutlich. Zwei wichtige Dinge habe ich in seinen Anmerkungen gefunden. Erstens: Es war Sabine, die es vehement abgelehnt hat, die Kinder vernehmen zu lassen. Und zweitens steht hier folgender Satz: ›Ich habe Sabine dringend davon abgeraten, die Vergewaltigung im Jahre 1979 ins Feld zu fuhren. Das könnte gerade unter den jetzigen besonderen Umständen als Schutzbehauptung verstanden und gegen sie verwendet werden.«)