Fünf
Deutschland ist Fußballweltmeister – nach zwanzig Jahren wieder. Das ist schon toll, aber irgendwie bin ich auch froh, dass der ganze Rummel vorbei ist. Es wurde ja über nichts anderes mehr gesprochen, bloß noch Fußball, im Dorf, im Zug, in der Schule, sogar in der Küche.
Aber etwas war doch klasse: Papa hat sich so gefreut, dass er mir endlich ein Mofa gekauft hat. Jetzt kann ich alleine zum Bahnhof fahren. Macht Spaß. Am ersten Tag bin ich allerdings viel zu früh los und musste ewig auf den Zug warten. Da fahren morgens immer dieselben Leute mit, ein paar gehen auch auf meine Schule, aber mit mir hat noch keiner gesprochen. Ich traue mich nicht. Vielleicht geht es den anderen ja genauso.
Mama ist so altmodisch. In der Schule sind alle Mädchen geschminkt und haben Jeans mit Schlag an und Lederclogs mit dicken Korksohlen. Und ich muss Kleider anziehen. Kleider sind am schlimmsten. Röcke gehen ja noch. Die kann ich oben umkrempeln, obwohl, supermini geht nicht, sonst habe ich so eine dicke Rolle um die Taille.
Ich habe Papa gesagt, dass ich festes Taschengeld brauche. Er sagt immer, das ist doch nicht nötig, wir kaufen dir doch alles. Aber ich habe ihm gesagt, ich wäre jetzt schließlich zweimal die Woche in der Großstadt, und außerdem ist es wichtig, dass ich selbstständig werde und Verantwortung übernehme. (Ich hatte mir das alles vorher zurechtgelegt.) Und alle anderen in meiner Klasse kriegten schon lange ihr eigenes Taschengeld. Klar kam dann wieder: Wenn alle von der Brücke springen, springst du dann auch? Aber dann hat er gesagt, er würde es sich überlegen.
Ich habe mir in der Drogerie gegenüber vom Bahnhof Schminke gekauft, nicht viel, bloß Wimperntusche und einen hellrosa Lippenstift. Und gestern hatte ich Schule, und morgens hab ich mich einfach geschminkt an den Frühstückstisch gesetzt. Und dann die Überraschung: Mama und Papa haben bloß ein bisschen komisch geguckt, aber kein Wort gesagt. Ich glaube, die merken jetzt doch, dass ich wirklich kein Kind mehr bin.
Einer aus meiner Klasse ist total süß. Er heißt Kai und ist schon fast achtzehn. Er hat so lange blonde Locken wie Harpo, den ich ja sowieso süß finde. Und er ist, glaube ich, ziemlich schüchtern, jedenfalls redet er nicht so viel. Die anderen in der Klasse sind überhaupt nicht schüchtern, aber die kommen ja auch fast alle aus Krefeld. Ich glaube, man wird ganz anders, wenn man in der Großstadt aufwächst. Die Mädchen sind sehr selbstbewusst, da kann ich mir was abgucken. Außer bei Claudia, die benimmt sich wie eine Nutte. Die hat bestimmt schon mit vielen Jungs geschlafen. Das könnte ich nie. Ich würde nur mit einem Jungen schlafen, den ich wirklich liebe. Und er muss mich auch echt lieben, und er soll es mir auch sagen.
Heute habe ich mich getraut. Ich bin zum ersten Mal geschminkt zur Arbeit gegangen. Der Chef hat getobt. Ob ich zum Zirkus will, und ich soll mir das Zeug aus dem Gesicht waschen, das wäre ja unhygienisch. Und Melanie, die ist schon im dritten Lehrjahr, hat mir den Vogel gezeigt. Die sind alle so was von spießig!
Und überhaupt, was hat das mit Kochlehre zu tun, wenn ich bloß die Drecksarbeit machen darf? Ich habe noch nicht ein einziges Mal gekocht. Und der Chef triezt mich, wo er kann, wenn er mir nicht gerade auf den Busen glotzt.
Nur noch zweieinhalb Jahre, und dann können die mich alle mal gerne haben. Dann suche ich mir eine Stelle in Krefeld. Und eine eigene Wohnung. Ich hoffe, dass ich das schaffe. Mama und Papa haben ja bloß mich, und ich habe sie ja auch so lieb. Aber in zwei Jahren bin ich bestimmt schon erwachsener, dann bin ich ja auch volljährig. Hoffentlich schaffen die Eltern dann die Arbeit auf dem Hof alleine.
Senta nehme ich auf alle Fälle mit, obwohl, ich weiß nicht, ob sie sich an eine Großstadt gewöhnen könnte. Die kennt ja nur Freiheit, die braucht ihren Auslauf in der Natur, genau wie ich. Aber damit wird es bei uns hier auch immer weniger, wo sie jetzt angefangen haben zu baggern. Den ganzen Tag nur Krach. Meine Wiese, wo ich letzten Sommer immer im Gras träumen konnte, ist schon weg, und jetzt sind die Felder von Onkel Kurt dran.
Letzte Woche waren wieder zwei von der KGG bei uns und haben ihr Angebot noch mal erhöht. Aber Papa ist hart geblieben: In Gottes Schöpfung pfuscht man nicht rein. Und das sehe ich ganz genauso. Dann hat er sie vom Hof gejagt.
Abends sind dann noch Onkel Kurt und die anderen gekommen und wollten schön Wetter machen und haben sich einen abgelabert. Von wegen, Papa könnte doch den Fortschritt nicht aufhalten, und wenn er nicht verkauft, würde er das Dorf schädigen. Aber Papa hat bloß gesagt, er hätte sein letztes Wort gesprochen.
Ich werde keine »Bravo« mehr lesen! Unsere Deutschlehrerin sagt, die wäre wirklich Schund. Wir sollten lieber was für unsere politische Bildung tun. Schließlich würden wir demnächst das Land gestalten, die Welt sogar. Dabei wird einem schon ein bisschen komisch. Aber ich werde jetzt jeden Tag die Zeitung lesen, auch über Politik, und dann vielleicht noch »Pardon« kaufen. Sie hat uns auch eine Bücherliste gegeben, die wir unbedingt lesen müssen. Ich besorge mir auf alle Fälle eins von Heinrich Boll, weil ein paar aus der Klasse schon was von dem gelesen haben und sagen, der wäre toll. Kai hat endlich auch mal was gesagt. Boll hätte ihm wohl auch gefallen, aber am besten fände er »Deutschstunde« . Ich hab es auf der Liste nachgeguckt, das ist von Siegfried Lenz. Und dann brauche ich ein Lexikon. Ich habe mir nämlich fest vorgenommen, dass ich jeden Tag ein neues Fremdwort lernen will.
Mama sagt, dass sie jetzt in den Lesering eintreten wollen, dann könnte ich mir jeden Monat zwei Bücher bestellen.
Keiner aus meiner Klasse geht jeden Sonntag in die Kirche, und ich will das auch nicht mehr. Gestern habe ich gesagt, ich hätte meine Tage, aber das geht ja auch nicht jedes Mal. Ich bin ja Christin, ich glaube an Gott, aber dafür brauche ich doch keinen Popen und das ganze Brimborium! Zur Beichte gehe ich auf keinen Fall mehr, und das habe ich mit Papa auch schon ausdiskutiert. Bloß Mama ist noch ein Problem, weil die dann immer so traurig wird.
Heute in SoWi ist was passiert. Wir haben über Kiesabbau geredet, und ich habe mich gemeldet und gesagt, was meine Familie davon hält, und auf einmal war ich wer, von wegen Ökologie und so. Alle fanden mich toll, sogar Kai.