Neun
Jetzt ist es schon zwei Wochen her, und ich kann es immer noch nicht begreifen: Mama und Papa sind tot, alle beide tot!
Ich laufe rum wie immer, mache alles wie immer, und dann überfällt es mich, und ich kann es nicht fassen.
Aber das Allerschlimmste ist: Als sie gestorben sind, lag ich mit Kai im Bett.
Wir wollten nach Elten auf Tante Marias Silberhochzeit. Mit Mamas Käfer, denn Papa wollte auf der Feier was trinken. Im letzten Moment, bevor es losgehen sollte, habe ich gesagt, dass ich Kopfschmerzen hätte und dass mir furchtbar schlecht wäre. Das hatte ich alles so mit Kai abgesprochen, er saß schon hinten im Obsthof und hat nur darauf gewartet, dass meine Eltern abfahren.
Und dann ist ihnen auf der Emmericher Rheinbrücke ein besoffener Holländer frontal in den Wagen gerast. Sie wären beide sofort tot gewesen, sagte der Polizist. Als ob mir das was helfen würde …
Ich bin nur müde, und ich kann nicht mehr weinen, so als wäre ich ausgetrocknet.
Tante Maria war die ersten paar Nächte bei mir, und irgendjemand aus der Nachbarschaft hat sich um die Tiere gekümmert.
Jetzt bin ich wieder allein. Tante Maria wollte mich mit zu sich nehmen, aber ich wollte lieber hierbleiben.
Ich will, dass alles so bleibt, wie es ist.
Die Frauen aus dem Dorf bringen mir Essen, und sie putzen und waschen für mich, aber sie sagen nicht viel.
Renate besucht mich jeden Tag auf ihrem Rückweg von der Schule und redet mit mir. Sie meint, ich soll mir Zeit lassen und erst wieder zur Schule gehen, wenn es mir wieder besser geht.
Wie soll es mir denn besser gehen?
Aber nein, nächste Woche gehe ich wieder zur Schule und morgen auch wieder zur Arbeit. Ich muss doch meine Lehre zu Ende machen.
Gestern war Vaters Anwalt bei mir, Onkel Kalli, ich kenne ihn schon, seit ich ein Baby war. Er meint, es ist gut, dass ich vor zwei Monaten volljährig geworden bin, das würde alles leichter machen. Ich könnte den Hof verkaufen, er sei schuldenfrei, und ich würde einen guten Preis dafür bekommen.
Aber verkaufen werde ich ganz bestimmt nicht, niemals! Der Hof ist mein Zuhause, und Vater würde es auch nicht wollen, das weiß ich.
Heute hat mich Renate zu einem Treffen ihrer Gruppe mit holländischen Atomkraftgegnern mitgenommen.
Es hat mir gutgetan, über etwas anderes nachzudenken und mich zu engagieren.
Als ich wieder zu Hause war, habe ich endlich die Kraft gefunden, Mutters und Vaters Kleider in Müllsäcke zu packen und auf die Tenne zu schaffen. Lettie bringt sie für mich zur Caritas. Sie ist immer so praktisch und so nett zu mir. Sie will eine Theatergruppe gründen und mich dabeihaben, wenn es so weit ist. Ich und Theater! Das habe ich ihr natürlich nicht gesagt, denn ich weiß ja, dass sie mich nur trösten will. Und das kann sie besser als die meisten anderen.
Morgen melde ich mich zum Führerschein an. Ich muss ja jetzt alles allein erledigen, und dafür reicht mein Mofa nun mal nicht. Und Vaters Mercedes soll nicht ungenutzt vor sich hin rosten.
In der Schule gehen sie immer noch komisch mit mir um. Keiner lacht mehr, wenn ich in der Nähe bin, und das macht mich ganz wütend. Karen ist sehr lieb zu mir, nimmt mich immer wieder in den Arm und erklärt mir, dass mit der Zeit alles leichter würde. Tja …
Und Kai? Der will mir dauernd einen Joint aufschwatzen, mir würde es dann wenigstens für eine Weile gut gehen. Aber ich will das blöde Zeug nicht. Einmal hat er sich Stefans Wohnungsschlüssel geliehen, und wir haben miteinander geschlafen. Aber es war furchtbar, hinterher habe ich geheult wie ein Schlosshund, weil ich immer daran denken musste …
Besuchen will Kai mich nicht, noch nicht. Es wäre ihm einfach noch zu deprimierend, sagt er.
Meine Eltern sind noch keine drei Monate unter der Erde, und schon stürzen sich die Geier auf mich. Die KGG natürlich vorneweg. Aber ich verrecke eher, als dass ich Vaters Land wegbaggern lasse!
Und so ziemlich jeder Bauer aus dem Dorf war da und wollte mir was abluchsen oder mich belatschen, dass ich an die Kiesmafia verkaufe.
Ich bin froh, dass ich mich immer für unseren Hof interessiert habe und Vater mich auf dem Laufenden gehalten hat, denn jeder, der bei mir war, wollte mich übers Ohr hauen.
Aber natürlich muss ich endlich was unternehmen, denn ich schaffe es nicht mehr alleine. Am Anfang hat mir die viele Arbeit gutgetan, weil sie mich vom Denken und Weinen abgehalten hat, aber jetzt wächst mir alles über den Kopf, und es tut mir auch in der Seele weh, das Land brach liegen zu lassen. Außerdem ist Vaters Sparbuch so gut wie leer. Was allein schon die Beerdigung und der Grabstein gekostet haben!
Ich habe also einen Plan gemacht: Das Milchvieh verkaufe ich, nur Flora will ich behalten, sie lässt sich gut mit der Hand melken. Rinder und Schweine gehen auch weg. Ich behalte nur ein paar Ferkel, die Hühner und vielleicht einige Gänse. Melkmaschine, Mähdrescher und ein paar von den größeren Maschinen habe ich schon ins »Landwirtschaftliche Wochenblatt« gesetzt, aber den Trecker gebe ich erst mal noch nicht weg. Die Acker und Wiesen kann ich alle verpachten, es waren ja genug Interessenten da. Onkel Kalli wird dafür sorgen, dass ich einen anständigen Preis dafür kriege. Davon dürfte ich gut leben und sicher auch noch sparen können. Viel brauche ich ja nicht, ich habe dann ja noch unseren großen Nutzgarten und die Obstwiese. Und wenn es einmal hart auf hart kommt, kann ich immer noch Land verkaufen – aber nur an einen Bauern, nicht an die KGG.
Ab jetzt trifft sich unsere Anti-AKW-Gruppe immer bei mir. Ich habe schließlich jede Menge Platz. Wir haben Vaters Büroschrank für unsere ganzen Papiere ins Esszimmer gerückt, und dort ist jetzt unsere Schaltzentrale. Im Augenblick treffen wir uns jeden Mittwoch, denn wir wollen bald die einzelnen Gruppen zusammenlegen zu einer Bürgerinitiative »Stop Kalkar«, und da ist eine Menge Vorarbeit zu leisten. Außerdem brauchen diejenigen, die gegen die Genehmigung des Brüters klagen, finanzielle Unterstützung, und dafür müssen wir Spenden sammeln.
Heute bin ich zum ersten Mal mit dem Auto zur Schule gefahren. Die haben vielleicht alle Augen gemacht, ich hatte nämlich niemandem erzählt, dass ich mit dem Führerschein dran war. Bloß Renate hat ein bisschen die Nase gerümpft und gemeint, so eine Bonzenschleuder würde doch nicht zu mir passen, ich sollte mir doch lieber eine Ente oder einen R4 anschaffen. Vielleicht mache ich das irgendwann, aber erst einmal fahre ich Vaters Wagen, schon weil er immer noch nach seinen Zigarillos riecht.
Kai war total begeistert. Wir hatten es so gedreht, dass wir gleichzeitig zwei Wochen Urlaub haben, und er wollte dann zu mir auf den Hof kommen. Aber jetzt meinte er, wenn ich doch das Auto hätte, könnten wir einfach in den Süden abzischen und richtig Urlaub machen. Ich hab ihn gefragt, wie er sich das vorstellt, ob Flora sich selbst melken soll, und gefüttert und gemistet muss ja auch werden. Aber er meinte, ich könnte ja die Nachbarn fragen. Der hat gut reden! Mein nächster Nachbar ist Goossens, und der redet kein Wort mehr mit mir, seitdem ich die Typen von der KG G habe abblitzen lassen. Auch die anderen werden mir was husten. Ich kann sie schon hören: »Damit die junge Dame in Urlaub fahren kann. In Urlaub! Hat unsereins jemals Urlaub gemacht? Ein Bauer fährt nicht in Urlaub.«
Kai war ganz schön sauer. »Du bist doch kein Bauerntrampel.« Aber dann hat er sich doch wieder eingekriegt und ist mit nach Kessel gekommen. Wir wollen nämlich morgen nach Nimwegen. Kai kennt da einen Dealer, der erstklassigen Stoff verkauft, und ich will mir noch mehr indische Klamotten kaufen und Henna für meine Haare.
Tante Maria hat angerufen. Im Dorf würde man sich das Maul zerreißen, weil ich mit einem Mann zusammenlebte. Ich habe ihr erzählt, dass meine Eltern gewusst hätten, dass ich einen Freund habe, und dass sie Kai gut hätten leiden können. Ich hatte schon ein schlechtes Gewissen dabei, aber eigentlich geht es doch keinen etwas an, was ich tu. Sonst erwarten doch auch alle von mir, dass ich auf eigenen Füßen stehe. Ich lasse mir meinen Urlaub von keinem vermiesen.
Wir haben eine so tolle Zeit, Kai und ich, bekochen uns, füttern uns gegenseitig. Das Wetter ist herrlich, und ich habe uns ein großes Planschbecken gekauft (Kai hat sein ganzes Geld für Haschisch ausgegeben, aber das macht nichts, ich habe ja genug), das wir im Obsthof aufgestellt haben. Den ganzen Tag liegen wir nackt in der Sonne und springen zwischendurch ins Wasser. Und abends, wenn es dunkel ist, legen wir Musik auf (Kai hat tolle psychedelische Kassetten), ziehen einen Joint durch und machen Liebe unterm Sternenhimmel. Es ist irre romantisch, und mir geht es zum ersten Mal wieder ein bisschen gut. Und wenn ich an meine Eltern denken muss und traurig werde, gehe ich einfach aufs Klo oder in die Badewanne, damit Kai nichts merkt. Er ist super, verzichtet sogar auf seine LSD-Trips, weil er weiß, dass ich Angst davor habe.
Gestern war ich im Dorf, um Brötchen zu holen. Und als ich aus der Bäckerei komme, steht plötzlich die alte Goossens da und spuckt mir vor die Füße. Ich war so geschockt, dass ich gar nichts sagen konnte. Aber als ich dann nach Hause ging, wusste ich auf einmal, was ich tun werde: Ich mache eine WG auf! Die sollen doch mal sehen, diese Scheißspießer.