Zwölf

In der Nacht musste es kräftig geregnet haben, denn der Asphalt glitzerte in den ersten Sonnenstrahlen, als Bernie Schnittges zu seiner Laufrunde aufbrach.

Als er seinen Rhythmus gefunden hatte, ließ er die Gedanken fließen, dachte an das, was Lettie ihm gestern Abend beim Essen erzählt hatte.

Sie war die erste Ausländerin im Dorf gewesen. »Die haben mich jahrelang wie Luft behandelt, aber du kennst mich, ich bin hartnäckig. Meine Idee mit dem Laientheater fanden sie gut, aber dass ich als Regisseurin fungierte, das ging gar nicht. Den Zahn haben sie mir nach der ersten Produktion schnell gezogen, denn ich hatte ja gleich drei schwere Fehler: nicht aus Kessel, Frau und auch noch Ausländerin. Ich bitte dich! Aber, wie gesagt, ich kann ganz schön stur sein.«

Laut Lettie war Kessel damals ein verschlafenes, armes Nest am Arsch der Welt gewesen und es auch lange geblieben. Durch das Geschäft mit dem Kies waren ein paar wenige reich geworden, die anderen hatten weiter vor sich hin gekrautert. »Alles schön katholisch. Hier wurde nicht aus der Reihe getanzt.«

Das Wasser hatte mit den Jahren die ersten Touristen gebracht, und Kessel hatte seine Chance erkannt. Überall hatte man Bauland geschaffen und damit junge Familien angelockt. Allmählich wandelte sich das Dorf.

Die Männer, die in den Siebzigern das Sagen gehabt hatten, waren noch da, aber heute hingen sie, alt und abgehalftert, in van Beeks Bruchbude an der Theke herum.

Als Schnittges bei der Kirche ankam, stellte er fest, dass er nicht der Einzige war, der so früh am Morgen lief. An der Gedenktafel, an der er gestern seine Dehnübungen gemacht hatte, stand gebeugt, die Hände auf die Knie gestützt, ein jüngerer Mann und atmete schwer. Er hatte kurz geschorenes Haar und einen Hippenbart, trug Shorts, Achselhemd und Laufschuhe.

Als Schnittges angetrabt kam, hob er den Kopf.

»Morgen.«

Schnittges trippelte auf der Stelle. »Da bin ich also doch nicht der einzige Frühaufsteher im Dorf.«

Der Mann richtete sich auf und streckte Bernie lächelnd die Hand entgegen. »Gereon Steinke, ich bin der Pfarrer von St. Stephanus.«

Er hatte einen angenehmen Händedruck. »Freut mich, Bernie Schnittges. Ich bin letzten Samstag hergezogen.«

»Ach, dann sind Sie der Polizist vom Seeweg.« Steinke schmunzelte. »Radio Tamtam, hier im Dorf bleibt nichts verborgen.« Dann blinzelte er neugierig. »Gehören Sie auch zu der Soko, die den Mord untersucht?«

»Na ja, eine Soko ist das nicht gerade, aber ja, ich gehöre auch zu den Ermittlern.«

Schnittges dachte daran, dass man Finkensieper auf dem Friedhof gesehen hatte.

»Eine schreckliche Geschichte das«, redete der Pfarrer weiter. »Der Tote soll noch so jung gewesen sein.«

»Noch keine dreißig«, bestätigte Schnittges. »Er hieß Sebastian Finkensieper.«

Steinke riss die Augen auf. »Finkensieper? Du meine Güte! Der Mann hat mich aufgesucht, letzten Donnerstag.«

Schnittges spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten. »Warum hat er Sie aufgesucht?«

»Er sagte, er hätte früher einmal Verwandte in Kessel gehabt, und hat darum gebeten, Einsicht in unser Geburten- und Sterberegister nehmen zu dürfen. Es ging um eine Familie Maas. Ich habe die Eintragungen schnell gefunden, es gab nämlich nur eine Familie Maas in Kessel, die allerdings schon seit dem achtzehnten Jahrhundert. Genauer gesagt, hat er nach einer Sabine Maas gefragt.« Der Pfarrer war aufgeregt. »Meinen Sie, das könnte wichtig sein?«

»Ich glaube, das ist sogar sehr wichtig.«

»Warten Sie, ich kann Ihnen alles zeigen. Gehen Sie rüber zur Kirche, ich hole den Schlüssel aus dem Pfarrbüro.« Damit war er schon losgelaufen.

 

Steinke holte ein dickes, ledergebundenes Buch aus einem Schrank, legte es auf den Tisch in der Sakristei und schlug es auf »Sehen Sie selbst.«

Schnittges fuhr mit dem Finger die Zeilen entlang:

Sabine Maria Maas, geboren am 23. Februar 1958 in Goch, getauft am 2. März 1958 in Kessel.

Vater: Friedrich Maas, geboren am 28. August 1926 in Kessel, getauft am 5. September in Kessel, Landwirt.

Mutter: Cäcilie Maria Maas, geborene Puff, geboren am 2. Oktober 1936 in Louisendorf, getauft am Ii. Oktober in Louisendorf, Hausfrau.

Eheschließung: 19. Mai 1957.

Beide Eheleute verstorben am 13. März 1976, in Kessel beigesetzt am 18. März 1976.

Wohnhaft: Kessel, Seeweg 2.

»Sie haben nicht zufällig einen Kopierer in Ihrem Pfarrbüro?«, fragte Schnittges.

»Doch, natürlich. Kommen Sie mit.«

 

Schnittges hatte die Kopien aus den Kesseler Kirchenbüchern an die Tafel gehängt.

»Wenn Finkensieper nur auf der Suche nach seinen Verwandten war, warum hat er dann so ein Geheimnis daraus gemacht?«, fragte Penny. »Ich kann das nicht verstehen.«

Weiter kam sie nicht, denn in diesem Augenblick betrat Toppe das Büro.

»Ich komme gerade vom Gocher Standesamt«, berichtete er. »Mir ist nämlich letzte Nacht eingefallen, dass Finkensieper in Goch geboren wurde.«

Cox brach der kalte Schweiß aus. Wie hatte er das übersehen können? Es war seine Aufgabe als Aktenführer, auf solche Details zu achten.

»Ein Sebastian Finkensieper ist dort am 26. Juni 1980 nicht geboren worden«, fuhr Toppe fort, »wohl aber ein Sebastian Friedrich Maas. Seine Mutter ist eine gewisse Sabine Maria Maas, wohnhaft in Kessel, Seeweg 2. Der Vater ist unbekannt.« Er setzte sich. »Hatte Finkensieper seinem Chef nicht erzählt, er brauche Urlaub aus familiären Gründen?«

Bernie Schnittges zeigte auf die Tafel. »Ich habe heute früh mit dem Kesseler Pfarrer gesprochen.«

Toppe stand wieder auf und betrachtete die Kopien.

»Gute Arbeit, Bernie.«

»Mein Gott«, flüsterte Ackermann, »die Kinderhex!«

Alle schauten ihn an, aber das merkte er nicht. »Sabine Maas, genau …«, nickte er. »Dat muss 1984 gewesen sein …«

»Jetzt red schon!«, fuhr van Appeldorn ihn an.

»Mach ich ja, Norbert, ich muss mich doch erst ma’ besinnen. Dat war ‘ne ganz furch’bare Geschichte damals. Sabine Maas … , die hat ‘n Kind ermordet … , in Kessel am Baggerloch. Einen kleinen Jungen. Sabine Maas … , stimmt, so hieß die. War selber noch jung, und ich mein auch, die hätte selbs’ ‘n Kind gehabt. Im Dorf wurd’ die immer nur die ›Kinderhex› genannt, weil die so wat Ähnliches war wie der Rattenfänger von Hameln. Hatte immer alle Dorfblagen bei sich versammelt. Ich glaub, die hatte keine Eltern mehr, die waren wohl zusammen im Auto verunglückt.«

»Das erklärt das gemeinsame Todesdatum«, warf Schnittges ein, »13. März 1976. Weißt du noch mehr?«

Ackermann schloss die Augen. »Die hat dat Kind mit ‘ner Plastiktüte erstickt. Un’ soviel ich weiß, is’ die für fuffzehn Jahre in den Bau gegangen.«

»Sebastian Finkensieper war also in Wirklichkeit Sebastian Maas«, sagte Penny leise. »Seine Mutter muss ihn zur Adoption freigegeben haben, als sie ins Gefängnis kam.«

Schnittges überlegte. »Das erklärt dann auch, warum es in Finkensiepers Album keine Babyfotos gibt. 1984, hast du doch gesagt, Jupp. Das könnte stimmen. Auf den ersten Bildern ist der Junge etwa vier, fünf Jahre alt.« Dann fiel ihm etwas anderes ein. »Die Adresse kann nicht richtig sein. Seeweg 2, das ist ein brandneues Haus an der Ecke vom Klosterweg. Am Seeweg stehen doch nur neuere Häuser.«

»Doch, das kann schon stimmen«, entgegnete van Appeldorn. »Elbers von der Autowerkstatt konnte sich erinnern, dass der Seeweg früher länger war, zum Wald hin, und dass dort in den Siebzigern noch ein Haus gestanden hat, wo heute der Angelsee ist. Aber das müsstest du doch eigentlich wissen, Jupp.«

»Dat weiß ich auch.« Ackermann war puterrot geworden. »Da bin ich bloß nich’ so besonders stolz drauf. Damals sind wir nämlich alle nach Kessel gefahren, weil wir gucken wollten, wo et passiert is’ un’ wo die Mörderin wohnt. Et is’ schon richtig. Da, wo heut’ dat renaturierte Baggerloch is’, stand früher ‘n Gehöft, un’ da hat die Maas gewohnt.«

»Und das Haus ist abgerissen worden, als man mit dem Baggern angefangen hat?«, hakte van Appeldorn nach.

»So is’ et.«

»Gehörte das Grundstück Sabine Maas?«

»Keine Ahnung.«

»Dann werde ich mal anfangen zu telefonieren.« Man hörte, dass Cox sauer auf sich war. »Das Amtsgericht wird uns etwas über die Adoption erzählen können, und es schadet auch nicht, wenn ich noch einmal mit unserem Kollegen in Radevormwald rede.«

»Gut«, sagte Toppe. »Und findet heraus, was aus Sabine Maas geworden ist. Wenn sie hier in Kleve verurteilt wurde, ist sie ins Frauengefängnis nach Anrath gekommen. Und sie muss schon lange wieder auf freiem Fuß sein. Selbst wenn sie die vollen fünfzehn Jahre abgesessen hat, ist sie um 99 herum entlassen worden. Was macht sie heute? Wo lebt sie?« Er ging zur Tür.

»Ich muss noch etwas erledigen. Ruft mich auf meinem Handy an, wenn ihr etwas herausgefunden habt.«

»Et könnt’ wohl auch nix schaden, wenn wir wüssten, wie dat damals mit dem Kindermord gewesen is’. Soll ich ma’ rüber zum Archiv vonne ›Niederrhein Post‹?«, fragte Ackermann.

»Gute Idee.« Toppe nickte.

 

Sie arbeiteten zügig, und als Ackermann kurz vor Mittag mit Zeitungsberichten über den Mord an dem sechsjährigen Kevin Pitz zurückkam, hatten sie ein ziemlich klares Bild gewonnen:

Die Tat war 1983 begangen worden – Ackermann hatte sich geirrt –, am 12. August 1983.

Sabine Maas, damals fünfundzwanzig Jahre alt, war die einzige Tatverdächtige gewesen und noch am selben Tag in Haft genommen worden. Ihren damals dreijährigen Sohn Sebastian hatte man in ein Gocher Kinderheim gebracht.

Am 18. Oktober 1984 war die Frau zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt worden, und unmittelbar danach hatte sie ihren Sohn zur Adoption freigegeben. Noch vor Weihnachten 1984 hatte das Ehepaar Finkensieper das Kind zu sich genommen. Jeder in Radevormwald wusste, dass Sebastian ein Adoptivkind war, aber über seine leiblichen Eltern war dort nichts bekannt.

»Das ist doch auch nicht verwunderlich«, hatte Penny gemeint. »Ich wette, dass Sebastian selbst nichts über seine richtigen Eltern gewusst hat. Wer würde seinem Sohn schon erzählen, dass seine wirkliche Mutter eine Kindermörderin ist?«

Sabine Maas war es während ihrer Haftzeit nicht gut gegangen. Sie hatte schwere Depressionen bekommen, und als sie 1999 im Alter von einundvierzig Jahren entlassen worden war, hatte sie immer noch starke Medikamente genommen.

Noch während ihrer Haftzeit hatte sie den Bauernhof in Kessel, der nach dem Tod der Eltern an sie gefallen war, über den Anwalt, der sie im Prozess verteidigt hatte, an die KGG verkaufen lassen, und zwar für umgerechnet sechshundertachtzigtausend Euro.

Nach ihrer Haftentlassung hatte sie sich in Krefeld eine Eigentumswohnung gekauft.

Wie es Sabine Maas in den darauffolgenden fünfeinhalb Jahren ergangen war, hatten sie noch nicht herausgefunden.

Erst 2005 tauchte sie wieder in den Akten auf. Seit August jenes Jahres war sie sozialpsychiatrisch betreut worden. Sie hatte zwar nach wie vor in ihrer eigenen Wohnung gelebt, war aber mit der Bewältigung ihres normalen Alltags überfordert gewesen.

Am 23. Februar 2007, ihrem neunundvierzigsten Geburtstag, hatte sie sich mit einer Überdosis Alkohol und ihrer Medikamente das Leben genommen.

Nur wenige Tage vorher war sie bei einem Notar gewesen und hatte ein Testament aufsetzen lassen, in dem sie ihrem Sohn Sebastian ein Vermögen von über fünfhunderttausend Euro hinterließ.

Die Gerichte hatten ungewöhnlich schnell gearbeitet. Schon wenige Wochen nach dem Tod von Sabine Maas hatte man Sebastian Finkensieper als Sebastian Maas identifiziert, und am 30. März 2007 waren ihm die Benachrichtigung über seine Erbschaft und persönliche Unterlagen der Mutter an seiner Arbeitsstelle in der Kanzlei Wehmeyer zugestellt worden.

»Und am 15. April taucht Finkensieper in Kessel auf«, schloss Cox.

»Un’ ich kann euch sagen, wo er am 5. April gewesen is’«, ließ Ackermann sich vernehmen. »Et war doch am 5., wo er sich dat erste Mal freigenommen hat, wa? Also, an dem Tag war er nachmittags im Archiv vonne ›Niederrhein Post‹, wo er sich dieselben Artikel fotokopiert hat, die ich da eben anne Tafel gepinnt hab.«

»Dann muss er zwischen dem 30. März und dem 5. April herausgefunden haben, dass seine leibliche Mutter ein Kind ermordet hat«, stellte van Appeldorn fest.

»Das dürfte für einen Anwalt nicht allzu schwierig gewesen sein«, meinte Toppe. »Um wie viel Uhr war er im Archiv?«

»Kurz nach dem Mittagessen«, antwortete Ackermann. »Ein sehr freundlicher junger Mann, haben die mir erzählt.«

»Wisst ihr, was ich nicht verstehe«, sagte Schnittges.

»Wir haben in Finkensiepers Wohnung keine Papiere gefunden, nichts über die Adoption, keinen Brief vom Gericht über die Erbschaft, kein Testament, schon gar keine persönlichen Unterlagen der Mutter, einfach gar nichts.«

»In seinem Büro in der Kanzlei war auch nichts?«, hakte van Appeldorn noch einmal nach.

»Nein, das weißt du doch«, antwortete Penny. »Weder in seinem Schreibtisch noch in den Schränken waren irgendwelche privaten Papiere.«

»Vielleicht hatte er sie bei sich«, schlug Cox vor. »In seinem Hotelzimmer in Kessel, meine ich.«

»Wo sie dann zusammen mit seinem Laptop und seinen anderen Sachen verschwunden sind«, spann Schnittges den Faden weiter.

»Verschwunden is’ gut!«, rief Ackermann. »Aber ma’ ehrlich, ich weiß et nich’. Würdet ihr so wichtige Papiere mit euch rumschleppen? Ich bestimmt nich’! Ma’ wat ganz anderes, guckt euch doch ma’ die Zeitungsartikel an. Der kleine Sebastian is’ bei dem Mord damals dabei gewesen.«

»Mir wird übel.« Penny sprach es aus.