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Kurz bevor sich die Beamten auf den Weg nach Erbenheim machten, fuhr Steffen Wellner in die Tiefgarage und stellte den Motor ab. Er öffnete die Tür und stieg aus. In dem Moment kam auch Delia angerollt und parkte direkt neben ihm, während sich das große Garagentor automatisch schloss.
»Was ist los, Steffen?« Sie schwang ihre Beine aus dem BMW. »Musst du mich immer so kurzfristig irgendwohin bestellen?«
»Wieso ich? Du hast mich doch herbeordert.«
»Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen«, sagte eine Stimme plötzlich aus der Ecke neben dem Tor. »Ich hab euch herbestellt.« Tobias trat ins Licht.
»Tobias!« Wellner blickte ihn überrascht an. »Was machst du denn hier?«
»Ich dachte mir, es wird Zeit, dass wir drei was besprechen.«
»Und warum machst du so ein Theater mit falschen SMS?«
»Ich wollte sichergehen, dass ihr kommt.«
»Woher weißt du von dem Haus?«
»Spielt doch keine Rolle.« Er griff hinter den Rücken und zog eine Pistole aus dem Hosenbund. »Legt eure Handys auf die Motorhaube und dann gehen wir nach oben.« Er richtete die Waffe auf Steffen und gab einen Wink, zum Zeichen, dass sie sich in Bewegung setzen sollten.
»Was soll das?«
»Frag nicht, geh! Sofort!« Der Ausdruck in seinen Augen ließ Steffen verstummen. Langsam ging er mit Delia an der Seite in den ersten Stock. Dort führte Tobias sie in einen großen Raum, der offensichtlich ein Operationssaal war, und forderte sie auf, sich auf den Boden zu setzen. Dann ging er zurück in den Flur, öffnete ein Fenster, ohne die beiden dabei aus den Augen zu lassen, und warf die Handys im hohen Bogen nach draußen.
»Schön habt ihr es hier«, sagte Tobias, als er zurück in den OP kam. »Alles so ergonomisch platziert und mit so viel Bewegungsfreiheit.«
Zentral im Raum stand der Operationstisch auf beigem PVC-Boden, darüber hingen die OP-Leuchten von der Decke und im Hintergrund standen das Narkosegerät sowie mehrere Instrumentenwagen. Alles war umgeben von weißen Wänden, in denen es keine Fenster gab.
»Tobias, was willst du von uns?« Steffen Wellner stand die Angst im Gesicht.
»Ich will euch spüren lassen, wie es ist, wenn man wie ein Ersatzteillager benutzt wird.« Tobias setzte sich auf den OP-Tisch. »Erinnert ihr euch noch an den Tag vor sechs Jahren, an dem ihr mich hier liegen hattet? Ein Kind, dessen Niere unfreiwillig gespendet wurde. Sozusagen von euch. Hattet ihr Spaß daran, mich aufzuschlitzen und mir mein Organ zu stehlen?«
»Ich kann dir das erklären«, sagte Wellner. »Deine Mutter hat darauf bestanden. Sie hat keine Ruhe gegeben.«
»Ja, das ist gentlemen-like. Oder sollte ich sagen Wellner-like? Meine Mutter lässt sich jetzt gut beschuldigen. Sie kann ja nichts mehr dazu sagen.«
»Glaub mir, ich hätte es nie getan, wenn sie mich nicht gezwungen hätte.«
»Als ob dich einer zwingen könnte. Mach dich nicht lächerlich und steh zu dem Scheiß, den du ständig verzapfst. Ich bin ja nicht der Einzige, den du ausgenommen hast.«
»Ich hab’s immer gewusst. Irgendwann kriegt er es raus.« Delia fing an zu weinen.
»Ja, ich hab alles rausgekriegt, weil meine liebe Mutter alles aufgeschrieben hat.« Tobias sprang vom Tisch.
»Diese blöde Kuh!«, fluchte Steffen.
»Ganz deiner Meinung.«
Delia hatte die Beine an ihren Körper gezogen und sie mit den Armen umfangen. Wie ein Päckchen saß sie zitternd auf dem Boden. Tobias betrachtete sie abschätzig.
»Du bist es doch gewohnt, hier zu arbeiten. Also, mach dich mal nützlich und schwing deine Büffelhüfte zum OP-Tisch.«
Langsam bewegte sie sich, während ihr unaufhaltsam die Tränen die Wangen hinunterliefen.
»Wellner, los. Du auch.« Tobias fuchtelte wieder mit der Pistole herum, so dass Steffen sich erhob und seinen Anweisungen Folge leistete. Als beide vor dem Tisch standen, sagte Tobias: »Wellner, du als Chef hast das Privileg, dich hinlegen zu dürfen. Mach’s dir bequem und zieh dein Hemd aus.«
»Tobias, was hast du vor?«
»Das ist dann gleich die Überraschung!«, sagte er freundlich, um ihn sogleich anzuschreien. »Zieh jetzt sofort das Hemd aus und leg dich auf den Tisch!«
Wellner starrte Tobias an. Ihm brach der Schweiß aus, während er langsam das Hemd aufknöpfte. »Du kommst damit nicht durch. Man wird uns suchen.«
»Und man wird euch auch früher oder später finden.« Zu Delia gewandt sagte er: »Und du schnallst die miese Wanze an Armen und Beinen fest. Genauso, wie ihr das immer mit euern Spendern macht.«
Als Wellner auf dem OP-Tisch lag und Delia die Bänder um seine Gelenke legte, setzte sich Tobias auf einen Hocker neben dem Tisch.
»Habt ihr das eigentlich nur wegen der Kohle gemacht oder gibt es euch einen gewissen Kick?«
»Wir wollten immer nur helfen.« Wellners Stimme klang flehend. »Wir haben nie jemanden umgebracht.«
»Peter Bielmann, war das niemand?«, schrie Tobias ihn an.
»Das war ein Unfall. Wirklich.«
»Ein bisschen Schwund ist immer, oder was?« Tobias ging um den Tisch herum und zog die Bänder straff, so dass Wellner das Gesicht verzog.
»Ein gewisses Risiko gibt es immer. Aber die Spender wurden gut bezahlt und versorgt. Wir haben damit anderen das Leben gerettet.«
»Mein Gott, wie peinlich ist denn diese Nummer? Jetzt machst du einen auf selbstlosen Samariter, nur um deine Haut zu retten. Wellner, du bist ein Weichei.« Er suchte Delias Blick. »Was zum Teufel findest du an dem? Ist er gut im Bett? Ich schätze mal, dass er eher der Typ ist, der sich gerne bedienen lässt.« Tobias führte ein paarmal seine Faust zum Mund und steckte dazu seine Zunge in die Backentasche. »Oder bist du einfach nur eine geldgeile Nutte?«
»Ich wollte das nie machen«, sagte sie leise schluchzend.
»Dafür hast du lange durchgehalten.«
»Wirst du uns umbringen?«
»Ich hab dich immer gut behandelt«, jammerte Wellner vom Tisch. »Tobias, mach dich nicht unglücklich.«
»Ich bin gerade dabei, mich glücklich zu machen.«
Tobias rollte mit dem Hocker zu einem Instrumententisch und nahm einen Stauschlauch und eine aufgezogene Spritze zur Hand.
»Heute assistiere ich dir, Delia.« Er reichte ihr beides und hielt die Pistole in ihre Richtung. »Du spritzt diesem verlogenen, kriminellen Perversen dieses Zeug in die Vene.«
»Nein.« Delia schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht.«
»Wellner, sag ihr, sie soll es tun. Ich denke, auf dich hört sie.«
»Was ist das?«, fragte Steffen ängstlich und starrte auf die glasklare Flüssigkeit in der Spritze.
»Wie schon gesagt, es ist eine Überraschung. Also, entweder du sagst ihr, dass sie dir die Spritze gibt, oder ich werde sie erschießen.«
Wellners Augen fuhren hektisch hin und her. »Sag mir, was das ist!«, schrie er.
»Ich zähle bis drei. Entscheide dich.« Tobias hob die Waffe. »Eins, …«
»Steffen!«, schrie Delia.
»Zwei!«
»Steffen, tu was!«, schrie sie verzweifelt mit weit aufgerissenen Augen.
»Drei!«
Wellner schloss die Augen. Tobias drückte ab und Delia fiel kurz darauf zu Boden. Als Steffen die Augen wieder öffnete, sah er seine Geliebte aus dem Augenwinkel am Boden liegen. Tränen traten ihm in die Augen.
»Nein, Nein!«
»Du hast sie auf dem Gewissen. Aber auf einen mehr oder weniger kommt es bei euch ja nicht an.«
Tobias legte den Stauschlauch um Wellners rechten Arm und zog ihn kräftig zu. »Die Liebe scheint ja nicht besonders groß gewesen zu sein, wenn du sie opferst. Aber das war mir schon klar. Das ist eben Wellner-like. Ein Rückgrat wie ein Gummibärchen.« Tobias hielt die Spritze hoch und drückte den Kolben ein Stück nach oben, so dass die Flüssigkeit aus der Nadel spritzte. »Hast du geglaubt, dann kommst du um deine Behandlung drumherum? Was bist du nur für ein Idiot.«
Die Vene war gut gestaut. Tobias schob die Nadel tief in das Blutgefäß und drückte die Flüssigkeit hinein.
»Hast du Angst, Wellner?«
»Was ist das für ein Zeug?«, fragte er mit schriller Stimme und Panik in den Augen.
»Du bist neugieriger als eine Frau. Wenn Delia gut ist und du Glück hast, wird sie dich am Leben halten können.«
»Was redest du für eine gequirlte Scheiße!«, schrie Wellner ihn an. »Du hast Delia umgebracht und ich werde hier auch verrecken.«
»Verdient hättet ihr es«, entgegnete Tobias ruhig. Er griff sich ein Skalpell vom Wagen, beugte sich zu Delia herunter und ritzte ihr etwas auf die Wange. Man hörte ein leises Stöhnen, dann schlug sie die Augen auf.
»Für eine OP-Schwester hältst du nicht viel aus«, sagte Tobias und half ihr, sich aufzusetzen.
Steffen riss ungläubig die Augen auf.
»Deine Bums-Matratze ist ohnmächtig geworden«, erklärte Tobias. »Ich hab vorbeigeschossen. Ich wollte nur sehen, ob du sie draufgehen lassen würdest.«
Er setzte sich wieder auf den Hocker, während Delia sich über ihre Wangen strich und erschrocken die blutigen Finger betrachtete.
»Nur eine kleine Verletzung. Das heilt wieder«, sagte Tobias in tröstendem Ton.