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Erst am Abend saßen die Männer des K11 wieder zusammen, um die Ergebnisse zu besprechen.

Dieter berichtete, dass der passende Saab noch nicht gefunden war, aber dass sie morgen mit der Überprüfung fertig werden würden.

Martin beschrieb die Eindrücke, die sie in der Bero-Bank von Robert Eltges gewonnen hatten.

Michael meinte abschließend: »Also, ich halte ihn, genau wie Tobias, für einen Stalker, und so einer würde prima ins Bild passen.«

»Du meinst, weil er ein Motiv haben könnte?«, fragte Paul.

»Nein, weil das englische Wort stalken soviel bedeutet wie jagen, hetzen, heranpirschen. Da wäre er doch mit Anja Schulte im Wald bestens aufgehoben.«

»… und weil Stalking-Verhaltensweisen in dramatischen Fällen von körperlicher Gewalt bis hin zu Tötung reichen können«, fügte Dieter an. »Das ist in jedem fünften Fall von Stalking so.«

»Das Ganze hat dadurch natürlich auch eine andere Seite«, überlegte Martin. »Viele Stalking-Opfer reagieren oft situationsbedingt aggressiv. Das hat Tobias auch angedeutet. Außerdem leiden nicht wenige der Opfer unter Depressionen. Und das wäre wieder ein Argument für Selbstmord.«

»Ja, aber nur, wenn’s nach Milster geht. Also, ich finde die erste Variante realistischer«, sagte Paul überzeugt. »Dieser Eltges wurde von Anja Schulte zurückgewiesen, ist ausgerastet und hat sie beseitigt. Nach dem Motto: Wenn ich sie nicht haben kann, dann kriegt sie keiner.«

»Ich muss zugeben, der Typ scheint mir nicht ganz koscher.« Martin fuhr sich durch die Haare und verschränkte die Hände im Nacken.

»Und Alibi hat er auch keins, habt ihr gesagt.«

»Aber ein Motiv für beide Morde.«

»Wieso für Bielmann?«, fragte Paul.

»Na, überleg doch mal. Wenn er annimmt oder wusste, dass Bielmann der Geliebte von seiner Anja gewesen ist, hat ihn das sicher nicht kalt gelassen.«

»Richtig!«

»Also zweifacher Mord aus Eifersucht. Ich würde sagen, der Fall ist geklärt.« Michael lächelte in die Runde.

»Schön wär’s!«

»Aber warum oder woran ist Bielmann kurz vor seinem Tod operiert worden?«, wandte Martin ein. »Eltges war das sicher nicht.«

»Womit wir beim Thema wären«, sagte Paul. »Der OP-Bericht vom St.-Augustin-Hospital ist einwandfrei. Die Operierten sind alle wohlauf und tatsächlich und unter ihrem Namen operiert worden. Außerdem gab es keine Lücke für eine andere OP zwischendurch.«

»Das Gleiche gilt für die Humboldt-Klinik«, erklärte Martin. »Dort ist Bielmann sicher nicht operiert worden.«

»Vielleicht ist die Operation ja völlig unerheblich für den Mord«, spekulierte Dieter.

»Scheiße!«, fluchte Martin plötzlich, nachdem er einen Blick auf die Uhr geworfen hatte. »Ich hab vergessen, bei Henkell anzurufen.«

»Wie viele Flaschen willst du denn deiner holden Gattin noch zu Weihnachten schenken?«, fragte Michael.

»Es geht um eure Weihnachtsfeier«, erklärte Martin, während er die Telefonnummer heraussuchte. »Hoffentlich ist da noch jemand.«

Er hatte Glück. Eine freundliche Dame am Telefon informierte ihn gerne über die Möglichkeiten, an einer Führung mit anschließender Sektprobe teilzunehmen. Auf Martins Frage nach Udo Gleisinger, der diese Führungen seines Wissens leitete, erhielt er eine Antwort, die ihn verblüffte. Herr Gleisinger war schon seit langem nicht mehr bei Henkell tätig. Warum, wollte die Dame zunächst nicht sagen. Als Martin sich aber als Hauptkommissar vorstellte, erfuhr er den Grund dafür.

»Wir mussten uns von dem Mitarbeiter trennen, weil er immer wieder gestohlen hat. Als das zum ersten Mal vorgekommen ist, hat man ihn zwar nicht gleich rausgeworfen, aber seine Stelle als Ökotrophologe hat er verloren. Stattdessen hat er dann die Führungen hier übernommen. Er hat das richtig gut gemacht, fand ich, aber geklaut hat er weiterhin. Und dann blieb nur noch die Kündigung.«

Martin bedankte sich für die Auskunft und drückte das Gespräch weg, das seine Kollegen mitgehört hatten.

»Warum erzählt der so eine Scheiße?«, fragte Michael.

»Eine richtig gute Frage, die ich ihm gerne persönlich stellen möchte«, sagte Martin.

»Wahrscheinlich war es ihm peinlich, zugeben zu müssen, dass er arbeitslos ist«, mutmaßte Dieter.

»Das kann sein, trotzdem ist er auch so ein Kandidat ohne Alibi.«

»Aber auch ohne Motiv«, gab Michael zu bedenken.

»Ja, bis jetzt. Aber wir wissen auch nicht wirklich was über ihn. Und was wir bisher wussten, sollten wir offensichtlich noch einmal gründlich überprüfen.« Martin dachte einen Augenblick über diesen Mann nach. »Vielleicht sollten wir seine Exfrau mal fragen, was für ein Typ ihr Verflossener ist.«

»Dümmer werden wir davon nicht«, pflichtete Michael seinem Chef bei. »Ich kann mich morgen darum kümmern.«

»Um Wellners Alibi haben wir uns heute schon gekümmert«, verkündete Paul.

»Und?« Martin machte ein gespanntes Gesicht.

Paul berichtete von ihrem Besuch bei Susanne Wellner und schloss mit den Worten: »Demnach kann er Bielmann nicht umgebracht haben.«

»Ganz ausschließen können wir das nicht«, entschied Martin. »Er könnte ihn trotz allem ermordet haben und ein anderer hat ihn entsorgt.«

»Aber wir können ja nicht mal nachweisen, dass er Bielmann gekannt hat«, wandte Dieter ein.

»Ich weiß. Die Benutzung von den passenden Fäden und Handschuhen in der Klinik und die Tatsache, dass er ein Arschloch ist, reichen nicht aus.«

»Du hättest ihn wohl gern als Täter?«, fragte Dieter.

»Hätte eben gut gepasst. Allein schon, weil er Arzt ist. Und mein Gefühl sagt mir, dass er Dreck am Stecken hat. Aber vielleicht hat er ja was mit Anja Schultes Tod zu tun. Wie sieht’s da mit seinem Alibi aus?«

Wieder berichtete Paul.

»Was seinen Aufenthaltsort angeht, hat er auf jeden Fall gelogen«, folgerte Martin.

»Ja, aber ich habe bei der Taxizentrale nachgefragt, ob sie am Abend des achtzehnten jemanden in die Schöne Aussicht gefahren haben. Und das haben sie, und zwar genau um einundzwanzig Uhr fünfundvierzig. Ich denke, wir können davon ausgehen, dass es sich um Wellner gehandelt hat. Außerdem hat die Werkstatt bestätigt, dass sie seinen Jaguar am nächsten Tag abgeschleppt haben.«

»Wo ist er ins Taxi gestiegen?«

»Das ist die Überraschung.« Paul schaute von einem zum anderen. »Ecke Aarstraße und Rubensstraße, das ist etwa eineinhalb Kilometer von dem in der E-Mail angegebenen Treffpunkt.«

»Ich wusste es«, sagte Martin triumphierend. »Da stimmt was nicht.«

»Dann stellt sich doch die Frage, ob er Anja Schulte vorher getroffen und ihr womöglich das Kalium gegeben hat«, überlegte Dieter. »Aber dann wär sie wahrscheinlich viel früher gestorben. Selbst wenn nicht, warum sollte sie noch zwei weitere Stunden im Wald herumlaufen und sich betrinken? Klingt irgendwie nicht logisch.«

»Wär ja möglich, dass er sich absichtlich ein Taxi ruft, um ein Alibi zu haben.«

»Aber der Wagen stand in Fahrtrichtung zum Treffpunkt. Das lässt vermuten, dass er auf dem Hinweg gewesen ist.«

»Kann man annehmen, muss aber nicht sein. Was das Kalium angeht, werd ich nochmal mit Stieber sprechen. Den wollte ich sowieso morgen anrufen.«

»Außerdem fehlt uns das Mordmotiv«, sagte Paul, als sein Handy klingelte. Er sah auf sein Display: Nicole. Sicher wollte sie wissen, wann er endlich käme. Paul drückte den Anruf weg.

»Du hättest ruhig drangehen können«, sagte Martin.

»Das kann warten. Obwohl … da fällt mir gerade ein, dass ich dich noch was fragen wollte.«

»Ja?«

»Kann ich zwischen Weihnachten und Neujahr irgendwann frei haben?«

Martin zog nur die Augenbrauen hoch und sah Paul fragend an.

»O.k., schon verstanden. Urlaubssperre.« Er ärgerte sich, dass er überhaupt gefragt hatte. Aber Nicole hatte ihm keine Ruhe gelassen.

»Wenn wir die Fälle morgen lösen können, kannst du auch Urlaub haben. Am besten steht ihr früh auf der Matte, dann sind die Chancen größer.«

»Nur der frühe Vogel pickt den Wurm.« Michael streckte sich. Er war müde und gähnte.

»Wir lassen die neuen Erkenntnisse jetzt mal sacken und machen morgen weiter. Ich hoffe, wir bekommen dann auch die Ergebnisse der KTU von Wellners Zeug. Und Katrin Buhr müssen wir auftreiben. Das ist wichtig! Treffen wir sie morgen früh nicht an, geben wir eine Fahndung raus.«

Die Männer lösten die Sitzung auf und machten sich auf den Heimweg.

Martin nahm heute den direkten Weg. Er schaltete das Radio ein und versuchte, sich mit jedem Kilometer, den er sich vom Präsidium entfernte, auch gedanklich von seinen Fällen zu entfernen. Er wollte den ganzen Kram abschütteln, bevor er zu Hause war – und konzentrierte sich auf den Verkehr. Die Straßen waren nass. Der ganze Schnee war im Lauf des Tages weggeschmolzen, und die Chance auf ein weißes Weihnachtsfest sank gegen null, wenn man dem Wetterfrosch im Radio Glauben schenken konnte. Das tat Martin irgendwie leid. Karla freute sich darüber immer wie ein kleines Kind, und allein das zu sehen, wäre das Schneeschaufeln wert gewesen.