26

 

Kurz darauf verließ auch Martin den Tatort und fuhr ins Präsidium. Auf seinem Schreibtisch fand er eine Mappe mit den ersten Fotos der Toten und allen Informationen, die Michael inzwischen zusammengetragen hatte. Martin nahm die Seiten in die Hand, ging damit hinüber zum Heizkörper und lehnte sich dagegen. Er war völlig durchgefroren. Die Wärme im Rücken empfand er als puren Luxus, wenn er an die Tote dachte. Ihr würde es nie wieder warm werden. Und den Angehörigen würde es auch einen eiskalten Schauer über den Rücken jagen, wenn sie von ihrem Tod und der Fundstelle erfahren würden, von der Todesursache, was immer es war, ganz zu schweigen. Martin betrachtete eines der Fotos. Die Frau schien um die vierzig. Womöglich hatte sie einen Ehemann, der sie liebte. Und die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Eltern noch lebten, war ziemlich groß. Hoffentlich hatte sie keine Kinder, wenigstens keine kleinen, die jetzt die Mutter verloren hatten. Martin zwang sich, diese Gedanken beiseite zu schieben. Er war für die Routine, die jeder Fall zu Beginn mit sich brachte. Das und seine langjährige Erfahrung ermöglichten ihm, die Fälle nicht zu nahe an sich herankommen zu lassen und Gefühle zu entwickeln, die ihm den objektiven Blick verstellten.

Der Kommissar konzentrierte sich auf seine Unterlagen. Auf der ersten Seite war die handschriftliche Notiz, dass die Tote nicht als vermisst gemeldet war. Dann hielt er den Ausdruck des Wetterberichtes in der Hand und las ihn sorgfältig durch. Die Temperaturen waren vor drei Tagen stark gesunken, am Tag auf minus fünf Grad, in der Nacht auf minus elf. In der letzten Nacht war noch ein starker Ostwind hinzugekommen. Martin überlegte, wie lange es bei dieser Kälte wohl dauerte, bis man erfroren war. Er nahm sich vor, Dr. Stieber danach zu fragen. Ihn wollte er ohnehin wegen Bielmann noch sprechen. Der Kommissar hoffte, dass er in Zukunft nicht öfter als nötig mit diesem Robert Richard zu tun haben würde. Auf Stieber wollte er keinesfalls verzichten.

Draußen war es dunkel geworden und Martin schaltete gerade das Licht an, als Michael hereinkam.

»Hallo, Martin. Hast du die Unterlagen schon gesehen?«

»Bin gerade dabei.«

»Ich frage mich die ganze Zeit, wie es wohl ist, zu erfrieren?« Nachdenklich blickte Michael vor sich hin.

»Ich schätze kalt!«

»Sehr witzig.«

»Ich will morgen zu Stieber, dann kannst du mitkommen und ihn fragen. Der wird uns das sicher erklären.«

»Sag mal, wo steckt Paul eigentlich?«

»Gute Frage. Er geht nicht an sein Handy und zu Hause scheint er auch nicht zu sein.«

»Das riecht nach Ärger.«

»Das kannst du glauben.«

»Ich weiß, wie seine Freundin mit Nachnamen heißt.« Michael blickte erwartungsvoll zu Martin.

»Was stehst du da noch rum? Such die Telefonnummer raus.«

Michael tat, wie ihm geheißen. Er tippte wenig später die entsprechenden Tasten des Telefons und reichte Martin den Apparat. Eine Frauenstimme meldete sich.

»Lauxmann.«

»Sandor hier. Ist Paul Fischer zurzeit bei Ihnen?«

»Ja, Paul ist hier.«

»Kann ich ihn bitte sprechen?«

»Aber er hat doch gar keinen Dienst.«

»Frau Lauxmann, ein Polizist hat immer Dienst. Also holen Sie mir Paul ans Telefon und wenn’s geht im Eiltempo.«

Nicole Lauxmann sagte nichts mehr und übergab an Paul.

»Hallo?«

»Martin hier. Wo, verdammt noch mal, steckst du die ganze Zeit?«

»Wieso? Ist was passiert?«

»Nichts Außergewöhnliches, nur eine Frauenleiche im Wald.«

»Wo soll ich hinkommen?«

»Ins Präsidium und das zackig.« Martin drückte das Gespräch weg. Noch ehe er etwas sagen konnte, wurde die Tür schwungvoll aufgerissen und Dieter kam herein.

»Stellt euch vor, wir haben zwei Pkws auf den Parkplätzen in Tatortnähe gefunden.«

»Das ist ja mal ’ne Sensation: Autos auf Parkplätzen.« Michael grinste seinen Kollegen an.

»Ich denke schon«, gab dieser ernst zurück. »Denn wir haben die Halter überprüft und ein Wagen gehört … jetzt haltet euch fest … Anja Schulte.«

»Das war doch die von der Bank«, überlegte Michael laut. »Ist sie die Tote?«

Gespannt warteten sie auf Dieters Antwort.

»Nach dem Foto vom Einwohnermeldeamt zu urteilen, ist sie das. Ich hab –«

»Scheiße! Verdammt noch mal!«, fluchte Martin, sprang auf und schubste dabei seinen Stuhl nach hinten weg, dass er umkippte. »Wär ich doch bloß gleich zu ihr gefahren. Ich wusste, dass da was faul ist.« Er stellte den Stuhl wieder auf und schlug mit der Faust auf die Rückenlehne. »Mist!«

»Ich hab die Bilder mailen lassen. Wir können sie auf dem PC nochmal ansehen, dann könnt ihr selbst urteilen«, beendete Dieter nun seinen Satz. Während er das Outlook und den Posteingang öffnete, fuhr er fort: »Der Wagen wird noch von der Spusi untersucht. Aber ein interessantes Detail fiel sofort ins Auge. An der Fahrertür war auch das Wort ›Bitch‹ in den Lack gekratzt.«

»Na, da haben wir doch den Beweis, dass die Inschrift im Waldboden dem Opfer gegolten hat«, folgerte Michael ganz logisch.

»Aber ist das auch ein Beweis für Mord?«, fragte Dieter skeptisch.

»Was soll es denn sonst sein?« Michael schien keine Zweifel zu haben.

»Man sollte Dinge nicht aufschieben.« Martin ärgerte sich immer noch über die verpasste Chance, mit Anja Schulte persönlich zu reden.

»Das kannst du jetzt nicht mehr ändern. Hier!« Dieter deutete auf den Bildschirm, wo das Passfoto von Anja Schulte erschien. Sofort war den Männern klar, dass es sich mit ziemlicher Sicherheit um die Tote handelte. Die gleichen roten, kurzen Haare, das schmale Gesicht, genau wie bei der Frau im Wald. Nur mit dem Unterschied, dass ihnen auf dem Bild grüne Augen entgegenblickten und ein nettes Lächeln ihren Mund umspielte.

»Da besteht wohl kein Zweifel mehr«, seufzte Martin. »Es sei denn, sie hat eine Zwillingsschwester, die mit ihrem Auto unterwegs war.«

»Ich stell mal fest, wo sie wohnt und wer die Angehörigen sind.« Dieter tippte auf der Tastatur herum.

»Mann, Mann, Mann!« Martin ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen und schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch.

»Willst du nicht mal aufhören, Staatseigentum zu drangsalieren?«, fragte Michael.

Martin warf einen Kugelschreiber in seine Richtung. »Ich hatte gleich so ein beschissenes Gefühl als ich mit der telefoniert hab. Und da sagt der Alte immer, ich soll nicht auf mein Gefühl hören. Jetzt haben wir die Scheiße am Backen. Zwei Todesfälle, die zweifellos zusammenhängen, und das innerhalb von zehn Tagen.«

»Vielleicht bleibt uns wenigstens die Weihnachtsleiche erspart«, hoffte Michael und dachte an all die Jahre zuvor, die in schrecklicher Regelmäßigkeit immer an den Feiertagen eine Leiche gefordert hatten, unter Kollegen als die »Weihnachtsleiche« bekannt. Fast immer handelte es sich dabei um Beziehungsdelikte. Die Familien hockten an Weihnachten tagelang eng beieinander, und das führte oft genug zu stressigen Situationen, die bei dem einen oder anderen im wahrsten Sinne des Wortes zu Mord und Totschlag führten.

Erneut ging die Tür auf und Paul Fischer trat ein. Seine dunklen Haare standen in alle Richtungen ab, als wäre er gerade aus dem Bett gesprungen.

»Da ist er ja, unser Romeo«, begrüßte Michael den Kollegen, der ein wenig betreten in die Runde blickte.

»Halt die Klappe, Michael. Wenn einer hier den Romeo mimt, dann bist das ja wohl du.«

Michael lachte laut. »Mit Romeo habe ich nicht viel gemeinsam. Ich bin eher der Casanova-Typ.«

»Stimmt ja. Ich hab ganz vergessen, dass du dich nicht nur mit einer begnügst.«

»Immer eine zur Zeit, wohlgemerkt.« Michael ließ sich diesbezüglich nicht provozieren, denn Paul hatte schließlich recht. Er war das, was man einen Weiberhelden nannte. Keine seiner Beziehungen dauerte länger als drei Monate. Er genoss die Gesellschaft wechselnder Damen sichtlich. Frauen waren für ihn eher so etwas wie ein Hobby. Durch seine attraktive Erscheinung hatte er stets leichtes Spiel bei ihnen. Er war groß und schlank, hatte kurze braune Haare und hohe Wangenknochen. Die gerade Nase, die geschwungenen Lippen und seine tiefgrünen Augen, umrahmt von langen, dunklen Wimpern, gaben ihm eine sehr männliche Ausstrahlung. Oft war er unrasiert, wirkte verwegen und bewegte sich mit einer Lässigkeit, die das weibliche Geschlecht unwiderstehlich fand.

»Genug geplaudert«, unterbrach Martin seine Leute. »Wir haben Wichtigeres zu tun, als eure Weibergeschichten zu besprechen. Und was dich angeht, Paul, du lässt dich von Michael über das, was wir bisher wissen, in Kenntnis setzen. Dann fährst du zum Tatort und siehst dir alles an. Ich will, dass du weißt, wovon wir reden. In einer Stunde bist du spätestens zurück. Deine Standpauke bekommst du nachher.«

Minuten später machte sich Paul zusammen mit einem schlechten Gewissen auf den Weg zum Winterbruch. Er ärgerte sich, dass Nicole sein Handy ohne sein Wissen einfach ausgeschaltet hatte. Nur deshalb hatte er den Einsatz verpasst. Jetzt kam er sich vor wie ein dummer Schuljunge, der nachsitzen musste. Was sollte er denn im Dunkeln im Wald noch sehen? Zwar hatte er sich vergewissert, dass die Kollegen noch vor Ort waren, aber im Hellen hätte er sich sicher ein besseres Bild machen können. Wäre er nicht so feige gewesen, hätte er Martin das auch gesagt. Doch der Ton seines Chefs hatte keine Widerrede zugelassen. Paul war sauer auf sich selbst, dass er in letzter Zeit so unzufrieden war und seine Arbeit darunter litt. Er wusste selbst nicht, was mit ihm los war. Aber was er wusste, war, dass Martin sein Verhalten nicht mehr lange tolerieren würde. Und da Paul großen Respekt vor Martin hatte, riss er sich besser zusammen.

 

Es dauerte nicht lange und die Männer vom K11 wussten, wo Anja Schulte wohnte.

»Sobald Paul zurück ist, fahre ich mit ihm dahin«, erklärte Martin.

»Das können wir doch schon erledigen?«, schlug Dieter vor.

»Es ist rücksichtsvoll, dass du Paul das abnehmen willst, aber ich will, dass er die Nachricht überbringt.«

»Du weißt genau, wie schwer ihm das fällt.«

»Fällt es uns etwa leicht?« Fragend blickte Martin seine Kollegen an.

»Aber wir sind routinierter, was das angeht.«

»Ja, das weiß ich, und gerade deshalb.«

»Willst du ihn bestrafen, weil er zu spät gekommen ist?«, fragte Michael dazwischen.

»Quatsch. Es gehört zu unserem Job. Und in letzter Zeit bin ich nicht sicher, ob Paul auf Dauer dafür geeignet ist.«

»Dann soll das ein Test sein?«

»Ich will nur, dass er sich klar darüber wird, was es bedeutet, Ermittler beim K11 zu sein. Und Todesnachrichten zu überbringen, gehört nun mal dazu.«