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Auch Steffen Wellner war unterwegs auf Wiesbadens Straßen. Er fuhr in Richtung Klinik. An einer roten Ampel, die er fast überfahren hätte, trommelte er nervös mit den Fingern auf dem Schaltknüppel seines Jaguars herum. Es passte ihm ganz und gar nicht, wie die Dinge sich zurzeit entwickelten. Erst dieser Zwischenfall mit Bielmann, dann Anja. Hoffentlich zog ihr Tod keine polizeilichen Ermittlungen nach sich. Das würde ihm gerade noch fehlen. Jetzt, wo er sich zusätzlich um andere Dinge kümmern musste. Er blickte auf die Uhr. Mist, schon so spät. Er hatte nicht vorgehabt, in die Klinik zu fahren, wollte er sich heute doch ausschließlich um die Akquise kümmern. Aber Anjas Tod veranlasste ihn, diverse Spuren zu vernichten, damit man ihn nicht mit ihr in Verbindung bringen konnte. Vielleicht war es gar nicht nötig. Vielleicht fragte niemand bei ihm nach. Vielleicht aber doch. Und auf diese Eventualität wollte er vorbereitet sein.
Schnell lief er dem Eingang entgegen, nachdem er den Wagen auf seinem Parkplatz abgestellt hatte. Mit einem kurzen Nicken begrüßte er seine Sekretärin, die ihn aufgrund seines plötzlichen Erscheinens erstaunt anblickte, und rauschte an ihr vorüber. In seinem Büro ließ er sich in seinen Stuhl fallen, schaltete den Computer ein und drückte die Sprechanlage.
»Frau Christ, keine Störungen. Ich bin eigentlich gar nicht da.«
»In Ordnung, Herr Doktor«, kam die folgsame Antwort aus dem Lautsprecher. Magdalena Christ war schon seit neun Jahren seine Sekretärin und damit diejenige, die es bisher am längsten bei ihm ausgehalten hatte. Steffen Wellner war kein freundlicher Chef. Er war herrisch, ließ seine Unzufriedenheit oft genug an ihr aus und erwartete Flexibilität. Für Magdalena hieß das häufige, ungeplante Überstunden und ein nicht allzu angenehmes Arbeitsklima. Aber all das machte ihr nichts aus, zu hoch war das Podest, auf das sie Dr. Steffen Wellner gestellt hatte. In dieser Position konnte er sich einiges erlauben, ohne ihren Zorn auf sich zu ziehen. Und das wusste er genau, denn in jedem ihrer Blicke lag Bewunderung und Ergebenheit, die Steffen hemmungslos ausnutzte, was ihm immer wieder ausgesprochene Freude bereitete. Menschen wie Magdalena trugen unwissentlich zu seinem übersteigerten Selbstwertgefühl bei und nahmen die Entwertung ihrer selbst gern in Kauf.
Sie war eine kleine, rundliche Frau Mitte fünfzig mit dichtem, grauem Haar, kleinen Augen, und einer breiten Nase. Ihre runden Backen und ein leichtes Doppelkinn ließen sie gemütlich wirken. Sie war stets gut gekleidet, wie Steffen es von ihr erwartete, obwohl es sie immer wieder einen ordentlichen Teil ihres Monatsgehaltes kostete. Schuhe mit hohen Absätzen, gepaart mit Bluse und Kostüm, waren Pflicht, wenngleich sie sich mit den Schuhen immer noch nicht anfreunden konnte. Sie waren die reinste Quälerei und immer wenn Dr. Wellner nicht im Büro war, zog sie sie unter dem Schreibtisch aus. Allerdings nicht, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Als er eben so unerwartet aufgetaucht war, war sie rot angelaufen und schnell wieder in die Pumps geschlüpft.
Steffen öffnete den Posteingang von Microsoft Outlook und durchsuchte seine E-Mails. Er löschte alles, was er nicht mehr brauchte. Zur Sicherheit leerte er anschließend auch den Ordner »Gelöschte Objekte«. So bereinigte er nicht nur sein Problem, sondern auch seine Festplatte. Zufrieden lehnte er sich in seinem breiten Ledersessel zurück, schloss die Augen für einen Moment und bereitete sich auf sein Gespräch vor.