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Auch diesmal öffnete niemand die Tür des alten Kutscherhauses in der Biebricher Allee. Martin ließ die Tür vom Schlüsseldienst öffnen. Mit Dieter streifte er durch die Räume, die unverändert aussahen, bis sie vor dem Bild in Tobias’ Zimmer standen.

»Sieh’s dir an und sag was dazu«, forderte Martin seinen Kollegen auf.

Dieter fragte nicht erst, warum, sondern fing an, alles zu beschreiben, was er sah.

»In jeder Ecke ein anderes Symbol. Hier eine Spirale. Sie ist ein Zeichen für Erneuerung und Entfaltung. Gegenüber ein Pentagramm. Das symbolisiert die Gestalt des Menschen.«

»Für mich ist das ein fünfzackiger Stern«, sagte Martin.

»Und dahinein kannst du dir einen Menschen vorstellen, mit ausgestreckten Armen und Beinen. Gleichzeitig weist man den Ecken je ein Element zu.«

»Du meinst so was wie Feuer, Wasser, Luft und Erde?«

»Exakt, aber beim Menschen entspricht Feuer Körperwärme, Wasser Blut, Luft Atem, Erde Fleisch und als Fünftes kommt noch der Geist dazu. Deshalb ist die fünf auch die Zahl des Menschen. Andere sagen, die fünf steht für die fünf Sinne: Sehen, hören, riechen, schmecken, tasten.« Dieter trat einen Schritt näher an das Bild heran und kniff die Augen leicht zusammen. »Hier, siehst du die winzigen Buchstaben an den Ecken des Pentagramms?«

Martin nickte.

»S-A-L-U-S«, las Dieter die Buchstaben vor. »Das bedeutet soviel wie Heil, verkörpert also die Gesundheit.«

»Dieter, ich staune immer wieder. Was wären wir nur ohne dich?«

»Das große Labyrinth in der Mitte«, fuhr er, unbeeindruckt von dem Lob, fort, »ist ein Irrgarten, bei dem es nur einen Weg zum Mittelpunkt gibt. Man sagt auch, dass das ein Symbol für Schicksalswege ist.«

Beide suchten mit den Augen den richtigen Weg zur Mitte des Bildes.

»Hier sind auch Buchstaben«, entdeckte Martin. »Diesmal A-S-T-D. Eine Ahnung, was das bedeutet?«

»Nein, das sagt mir nichts.« Er überlegte einen Moment. »Aber hier am Ziel hat er ein Quadrat gemalt. Wenn ich mich nicht irre, ein Symbol für die Erde, oder im übertragenen Sinne könnte man auch sagen für das Feststehende. Im Gegensatz zum Kreis, der für Leben stünde, steht das Quadrat auch für Tod.«

»Soll das heißen: Das Ziel ist der Tod?«

»Man kann das sicher auf vielerlei Weise verstehen, aber das wäre so die klassische Deutung. Misst du dem Bild tatsächlich irgendeine Bedeutung bei?«

»Es war nur ein spontaner Einfall im Zusammenhang mit Tobias’ Äußerung zu dem Bild.«

»Manchmal malt man ja auch einfach irgendwelche Symbole, ohne dass man über deren Bedeutung nachdenkt.«

»Das glaube ich in dem Fall weniger, denn er sagte, er habe sich mit Symbolen beschäftigt. Er weiß, was er gemalt hat.«

Sie standen noch eine Weile schweigend vor dem Bild, als Martin Dieter plötzlich erschrocken ansah.

»Die Buchstaben: A-S-T-D. Anja, Susanne, Theo, Delia.«

»Ach du Scheiße!«

»Das kann kein Zufall sein.«

»Und sie liegen alle auf dem Weg zum Tod. Aber was ist mit Steffen Wellner? Der würde auf dem Bild fehlen.«

»Vielleicht steht das S für beide. Was weiß ich. Los, komm! Wir müssen uns hier umsehen. Vielleicht finden wir was, das uns einen Hinweis auf seinen Aufenthaltsort gibt.«

Hektisch machten sie sich daran, Tobias’ Zimmer gründlich zu durchsuchen.

»Mir kommt es so vor, als ob der Junge Steffen Wellner nicht einfach umbringen will«, sagte Dieter nachdenklich und rückte seine Brille zurecht. »Er will ihn leiden lassen. Als Mörder lebenslang hinter Gittern wäre womöglich eine Strafe, die er für angemessen erachten würde.«

»Aber dann hätte er auch Stadler seinem Schicksal überlassen können. Er hat nicht mal abgewartet, ob er verurteilt wird. Also glaube ich nicht, dass ihm eine Gefängnisstrafe reicht.«

»Was könnte er ihm antun wollen?«

»Ich habe keinen Schimmer.«

 

Nach einer Viertelstunde kamen Paul und Michael zum Kutscherhaus herüber. Sie berichteten, dass sie Frank tatsächlich gefunden und mit ihm gesprochen hatten. Er wohnte in einer WG schräg gegenüber und war seit Jahren mit Tobias befreundet. Interessant war, dass Frank Chemie studierte.

»Wir haben ihn gefragt, ob er Tobias jemals irgendwelche Chemikalien gegeben hat«, berichtete Paul.

»Und ihr glaubt nicht, was er geantwortet hat.« Gebannt blickten sie auf Michael. »Er hat ihm neulich Colchicin gegeben.«

Martin wandte sich ab und griff sich an die Stirn.

»Tobias hat ihm erzählt, dass er eine Freundin hat, die Floristin ist und die mit Colchicin an ihren Pflanzen experimentieren wollte. Frank hat sich nichts dabei gedacht, weil das Zeug tatsächlich in der Pflanzenzucht verwendet wird. Man kann wohl damit die Pflanzen vergrößern. Irgendwas hat er erzählt, dass sich dadurch die DNA-Menge im Zellkern verdoppelt und jede einzelne Zelle dann größer wird.«

»Das ist aber noch nicht alles«, fuhr Paul fort. »Tobias war tatsächlich öfter in diesem Ferienhaus in Bremen. Sein Freund Frank war sogar manchmal mit. Zuletzt im vergangenen Herbst.«

»In Bezug auf Tobias’ Beziehung zu seiner Mutter hat er gesagt, dass sie nicht besonders gut gewesen sei. Sie hätten dauernd gestritten, so dass Tobias sehr oft bei ihm in der WG gewesen war. Tobias hat wohl geplant, nach diesem Semester ins Ausland zu gehen.«

»Es kann doch sein, dass Tobias das Gift tatsächlich der Buhr gegeben hat«, sagte Paul.

»Möglich, dann aber nicht für ihre Pflanzen«, erklärte Martin und wandte sich den Kollegen zu. »Es ist denkbar, dass die beiden gemeinsame Sache machen. Aber Tobias hängt auf jeden Fall mit drin.«

Gerade begründete er seine Annahme, indem er von dem Bild und seiner Bedeutung erzählte, als sein Handy Who wants to live forever spielte. Martin erfuhr, dass das Handy von Delia Wolff zuletzt in der Tempelhoferstraße in Wiesbaden-Erbenheim geortet worden war. Der Aufenthaltsort der Handys von Tobias und Wellner konnte dagegen nicht festgestellt werden. Sofort machten sich alle mit Blaulicht auf den Weg. Mittlerweile dämmerte es schon. Der Regen hatte nicht nachgelassen und die Autos ließen den Schneematsch hochspritzen. Für die gut sieben Kilometer hätten sie normalerweise nicht länger als zehn Minuten gebraucht, doch die Straßen waren durch den Berufsverkehr mal wieder verstopft.

Während der Fahrt überschlugen sich Martins Gedanken. Im Grunde hoffte er, dass seine Vermutungen richtig waren. Hieße das doch, die Fälle endgültig abzuschließen. Aber noch mehr fürchtete er sich davor. Tobias ein Mörder. Das war eine Vorstellung, gegen die er sich sträubte, die nicht zu dem Bild des jungen Mannes passte, das er sich in den letzten Wochen gemacht hatte. Sollte er sich derart in ihm getäuscht haben?

Zwanzig Minuten später trafen sie in der Tempelhoferstraße auf zwei weitere Kollegen, die zur Unterstützung gekommen waren. Mit Regenschirmen bewaffnet, liefen sie die Straße entlang und suchten in einem Umkreis von fünfhundert Metern nach dem Handy. Nach zehn Minuten rief Michael alle zu sich. Er hatte ein zerbrochenes Handy im Rinnstein gefunden, das völlig kaputt und sicher nicht das geortete war. Aber ein kleiner Aufkleber mit den Initialen S. W. verriet den Besitzer. Wenige Meter davon entfernt lag ein zweites Mobiltelefon auf dem Randstreifen vor einer Hecke. Dieses Handy funktionierte noch und konnte als das von Delia Wolff identifiziert werden. Schnell suchte Michael nach den eingegangenen SMS. Er las vor: Komm sofort zum Haus. Ist wichtig. Steffen.

»Zum Haus«, wiederholte Martin. »So hat Anja Schulte im Tagebuch den Ort bezeichnet, wo die Nieren entnommen wurden.«

»Soll das heißen, dass Wellner sich mit Delia dort gerade trifft?«

»Glaub ich nicht. Ich vermute mal, dass Tobias die beiden mit der SMS zum Haus gelockt hat. Wäre sonst ein bisschen merkwürdig, dass beide ihre Handys hier einfach wegwerfen.«

»Gott, wo sollen wir denn suchen?« Paul sah sich resigniert um. »Wir haben doch überhaupt keine Anhaltspunkte.«

»Auf jeden Fall müssen sie hier gewesen sein. Wahrscheinlich hat Tobias die Handys weggeworfen.«

»Wir werden die Gegend nach ihren Autos absuchen«, erklärte Martin. »Wellners schwarzen Jaguar und Tobias’ grünen Toyota Micra. Welchen Wagen fährt Delia Wolff? Dieter, krieg das mal raus.«

Die Beamten teilten sich inzwischen die Straßen in Erbenheim auf.

»Delia Wolff fährt einen roten BMW 320 td compact«, gab Dieter kurz darauf an alle weiter. Die Männer machten sich auf den Weg, die Straßen abzufahren.

»Die Wolff ist so eine schöne Frau«, sagte Michael, der mit Dieter in einem Auto fuhr. »Und dann fährt sie so einen unpassenden Wagen.«

»Wieso? Du bist doch sonst ein Fan von BMW.«

»Ja, aber nicht von dieser Korea-Krawallstil-Karosse. Da haben sie Mist gebaut, im wahrsten Sinne des Wortes. Jedenfalls hat die Wolff keinen Geschmack.«

»Was hast du erwartet? Wenn sich jemand den Wellner als Lover aussucht, spricht das doch Bände.«

Paul und Martin machten sich ganz andere Gedanken.

»Die können überall sein«, sagte Paul. »Der bringt sie wahrscheinlich an einen Ort, wo wir sie nie finden.«

»Hör auf so pessimistisch zu reden. Und halt die Augen offen.«