4

 

»Sie müssen ihn suchen. Das ist einfach nicht normal.«

»Wir können nach ihrem Freund erst fahnden, wenn eine begründete Vermutung vorliegt, dass er in Gefahr sein könnte. Und wie Sie mir gesagt haben, ist das nicht der Fall. Außerdem scheint er ja im Vollbesitz seiner geistigen und körperlichen Kräfte zu sein.«

»Aber irgendwas muss passiert sein, sonst wäre er nach Hause gekommen.«

»Frau Buhr, er ist doch erst seit einigen Stunden verschwunden. Und es steht jedem Erwachsenen zu, seinen Aufenthaltsort frei zu wählen. Er ist nicht verpflichtet, Freunde oder Familie darüber zu informieren. Und daher ist es auch nicht die Aufgabe der Polizei, in so einer Sache eine Aufenthaltsermittlung durchzuführen.«

»Die Sache«, Katrin lachte höhnisch, »wenn ich das schon höre. Es handelt sich hier um einen Menschen!«

»Das weiß ich doch.« Andreas Müller tat die Frau leid. Sie war so aufgebracht und er konnte im Grunde nicht viel für sie tun.

»Sie müssen doch etwas unternehmen können.« Katrin Buhr zuckte ungläubig mit den Schultern.

»Ich kann prüfen, ob sein Name im Zusammenhang mit einem Unfall auftaucht, aber das ist alles. Bei einer Vermisstenanzeige müssen einfach gewisse Kriterien erfüllt sein, um sie als solche aufnehmen zu können«, versuchte der Polizeibeamte seinen Standpunkt zu vertreten. »Wissen Sie eigentlich, dass wir täglich einhundertfünfzig bis zweihundertfünfzig Fahndungen neu erfassen oder löschen? Wir haben in unserer Datei über sechstausend vermisst gemeldete Personen gespeichert. Das nur mal, damit Sie eine Vorstellung von der Größenordnung bekommen, um die es hier für uns geht.«

»Das interessiert mich herzlich wenig. Für mich geht es um einen einzigen Menschen.«

»Und der wird sicher bald wieder auftauchen.« Zuversichtlich lächelte er Katrin an. »Es kommt häufig vor, dass die Vermissten ganz plötzlich wiederkommen. Möglich, dass er getrunken hat und irgendwo seinen Rausch ausschläft, oder er hat sich kurz mal eine Auszeit genommen.«

»Das ist doch Unsinn! Peter nimmt sich keine Auszeit, ohne mir etwas davon zu sagen.«

»Wie gut kennen Sie ihn denn?«

»Gut genug!« Katrin schrie den Beamten an, der erschrocken zusammenzuckte.

»Jetzt beruhigen Sie sich bitte«, versuchte er die Frau zu beschwichtigen, die nicht größer war als ein Meter sechzig und ihn mit funkelnden Augen ansah. »Das wird sich schon alles aufklären.«

»Peter ist nicht so einer, der zum Zigarettenziehen geht und nicht wiederkommt.«

»Das glaube ich Ihnen ja. Aber aus unserer Erfahrung heraus kann ich Ihnen sagen, dass sich etwa fünfzig Prozent aller Vermissten-Fälle innerhalb einer Woche erledigen. Nach einem Monat sind es sogar schon achtzig Prozent.«

»Und wie viele davon haben sich erledigt, weil die Personen tot oder verletzt waren?«

»Jetzt nehmen Sie doch nicht gleich das Schlimmste an.« Wie oft hatte er schon diese Art von Gespräch geführt. »Die Chancen stehen doch wirklich gut. Die Zahlen sprechen für sich. Warten Sie noch ein wenig ab, dann sehen wir weiter. Ich darf jedenfalls keine Fahndung einleiten, so lange nicht eine Gefahr für Leib und Leben vorliegt.«

»Das haben Sie richtig hübsch ausgedrückt. So bürokratisch und bürgerfreundlich.« Katrin Buhrs Stimme triefte vor Sarkasmus.

»Sollte er nach vierundzwanzig Stunden immer noch nicht zurück sein, melden Sie sich einfach nochmal. Denn dann können wir annehmen, dass es sich tatsächlich um einen Vermisstenfall handelt und die Anzeige aufnehmen.«

Katrin wusste, es hatte keinen Sinn, weiter auf den Beamten einzureden. Er würde nicht von seinen Vorschriften abweichen und eine Ausnahme machen. Sie wollte doch nur eine Vermisstenanzeige aufgeben und das Einzige, was sie hier aufgegeben hatte, war die Hoffnung, Hilfe zu bekommen. Was hatte sie auch erwartet? Sie wusste doch nur zu gut, dass die Vorstellung von der Polizei als Freund und Helfer nur ein Phantom war, an das die meisten gerne glaubten oder glauben wollten, das aber nicht existierte. So beschloss sie, die Sache, wie der Polizeibeamte es genannt hatte, selbst in die Hand zu nehmen.

 

Kaum war sie zu Hause angekommen, begann sie die Taschen von Peters Kleidung zu durchsuchen. Aber da war nichts, was irgendwie von Bedeutung sein konnte. Sie blätterte seinen Ordner durch. Auch das brachte sie nicht weiter. Dann durchforstete sie die Wohnung nach seinen persönlichen Sachen. Als sie fertig war, setzte sie sich aufs Sofa und breitete ihre Fundsachen vor sich aus. Da waren Peters Kalender, ein Haufen Zettel, die sie auf seinem Schreibtisch zusammengesammelt hatte, und seine Brieftasche. Zuerst befasste sie sich mit seinem Kalender. Am zehnten Dezember, dem Tag, als er verschwand, hatte er die Zahl fünftausend und elf Uhr eingetragen und darunter einen lachenden Smilie gemalt. Was sollte das denn heißen? Katrin überlegte, ob er irgendetwas von einem Termin erwähnt hatte. Sie konnte sich nicht erinnern. Am dreiundzwanzigsten November stand eine Blutabnahme bei einem Dr. Holt im Kalender. Davon wusste Katrin. Peter hatte den Jahres-Check machen lassen. Ansonsten gab es nicht viele Eintragungen. Hier und da eine Verabredung mit Klaus oder Niko. Die waren ihr aber auch nicht neu. Das Einzige, was wirklich merkwürdig war, waren vier Einträge des Namens Schulte, etwa in wöchentlichem Abstand, und dazu eine Uhrzeit. Manchmal stand noch Park dabei. Zuletzt fand sie den Namen vor drei Tagen. Wer war denn dieser Schulte? Hatte sie den Namen im Zusammenhang mit Peter schon mal gehört? Nein, sicher nicht. Vielleicht hatte er eine Telefonnummer notiert. Katrin suchte im Adressteil des Kalenders. Unter S fand sie ihn zwar nicht, aber unter A standen die Initialen A.S. ohne Adresse, dafür mit einer Telefonnummer.

Einen Versuch ist es wert, dachte sie und griff zum Telefon. Nachdem sie die Zahlen eingetippt hatte, hörte sie ein Freizeichen und ihr Herz laut pochen. Lange ließ sie es klingeln, aber niemand antwortete. Es machte sie ganz nervös, nicht zu wissen, wer hinter A.S. steckte und ob dieses S. für Schulte stand. Plötzlich hatte sie eine Idee und lief eilig zu ihrem Computer. Wozu gab es schließlich das Internet? Schnell rief sie die Telefonbuchseite auf. Wenn man dort Nummern zu den Namen bekam, sollte das doch auch umgekehrt möglich sein. Zwei Mausklicks weiter und sie fand, was sie suchte: die Telefonbuch-Rückwärtssuche. Aufgeregt tippte sie die Zahlen ein und musste wenige Sekunden später lesen: Zu der von Ihnen eingegebenen Rufnummer konnte leider kein Teilnehmer gefunden werden.

»Mist!«, fluchte sie laut.

Auch der umgekehrte Weg brachte kein befriedigendes Ergebnis. Nach der Eingabe von A. Schulte zeigte der Bildschirm zwar vier verschiedene Nummern, aber nicht die, die Peter notiert hatte. Verärgert drückte sie auf den Ausschaltknopf, ohne den Computer herunterzufahren. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als diese Nummer in regelmäßigen Abständen immer wieder zu wählen.

Während sie wartete, fragte sie sich, wie gut sie Peter wirklich kannte. Gab es da etwas in seinem Leben, wovon sie keine Ahnung hatte? Sie wollte das nicht glauben und verwarf den Gedanken sofort wieder. Wenn er ihr etwas verschwiegen hatte, konnte das nur ein kleines Geheimnis sein. Eins von der Sorte, die jeder so hatte. Sie versuchte sich einzureden, dass Peter alles aufklären würde, wenn er erst wieder da war. Doch ihr Gefühl sagte ihr, dass hier etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.