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Es war Montagmittag, der erste Arbeitstag nach Weihnachten, als es an Martins Bürotür klopfte.

»Herein!«, rief der Kommissar und blickte auf. Tobias Schulte erschien im Türrahmen. Er hielt ein Buch in der Hand und blickte Martin aus rot verweinten Augen an.

»Ich habe das hier im Schließfach in der Bank gefunden«, sagte er mit zittriger Stimme.

Martin war sofort aufgesprungen und dem Jungen entgegengegangen. »Komm, setz dich!«, forderte er ihn auf und stellte ihm einen Stuhl zurecht.

Tobias reichte ihm das Buch.

»Was ist das?«, fragte Martin und schlug die erste Seite auf.

»Das ist das Tagebuch meiner Mutter. Ich wusste nicht, dass sie überhaupt Tagebuch schreibt. Sie hat es wohl immer in der Bank in diesem Schließfach aufgehoben, dass ich heute Morgen geräumt habe, nachdem ich den Schlüssel gefunden hatte.« Der Junge sah völlig fertig aus und saß wie ein Häufchen Elend vor Martin.

»Du hast es gelesen?«

Tobias nickte.

»Was steht drin?«

»Sie können es selbst lesen. Sicher hilft es Ihnen bei Ihren Ermittlungen.« Er stand auf. »Ich würde jetzt gerne nach Hause gehen.«

»Soll ich dich bringen?«

»Nein, nicht nötig.« Martin blickte ihm hinterher und fragte sich, warum Tobias so mitgenommen war. Vielleicht, weil seine Mutter ihm durch das Tagebuch plötzlich wieder ganz nahe war? Oder offenbarten die Aufzeichnungen irgendwelche Geheimnisse?

Neugierig blätterte er im Buch. Die Eintragungen in sauberer Handschrift stammten aus den letzten zwei Jahren. An den Daten erkannte er, dass Anja Schulte etwa einmal pro Woche einen Eintrag gemacht hatte.

Martin begann auf der ersten Seite. Schon nach drei Seiten jagten ihm die Worte eine Gänsehaut über den Rücken. Er konnte die Augen nicht mehr von den Zeilen lassen und kaum glauben, was er las. Gleichzeitig verstand er nun endlich die Zusammenhänge.

Anja Schulte hatte mit irgendwelchen Leuten, die erst einmal nicht namentlich erwähnt wurden, einen schwunghaften Handel mit Nieren von Lebendspendern betrieben. Sie selbst schien für die Akquise zuständig gewesen zu sein. Offensichtlich waren es immer Bankkunden, die vor dem finanziellen Abgrund standen, die sich zur Organspende überreden ließen. Sie wurden regelmäßig mit fünftausend Euro abgespeist, während Anja Schulte bis zu fünfundzwanzigtausend Euro pro Niere verdient hatte. Martin wurde fast schlecht bei dem Gedanken, dass Anja Schulte Menschenteile verkauft hatte, nur um sich ihren verdammten Luxus leisten zu können.

Mein Gott, dachte Martin. Da hatte jemand tatsächlich Organhandel betrieben. Oder war sogar noch munter dabei! Menschen als Warenlager. Unglaublich!

Er wandte den Blick zur Wand, an der alle Informationen hingen. Er sah das Foto der Toten und er empfand Abscheu. Er sah die Liste vor sich, die mit LS betitelt worden war. LS! Jetzt war ihm klar, was das bedeutete. Lebendspender!

Sie hatten mit allen auf der Liste bereits gesprochen. Niemand kannte Anja Schulte. Lediglich zwei meinten, sie in der Bank mal gesehen zu haben. Wenn sie allerdings illegal ihre Niere verhökert hatten, würden sie wohl kaum zugeben, Kontakt zu der Toten gehabt zu haben.

Martin las weiter. Nach der Hälfte des Buches legte er es kurz zur Seite, stand auf und ging zum Fenster. Er blickte hinaus, ohne etwas wahrzunehmen. Was musste Tobias wohl empfunden haben, als er die Worte seiner Mutter gelesen hatte? Es musste ein Schock für ihn gewesen sein, das zu erfahren. Zumal er annehmen konnte, dass seine Mutter seine eigene neue Niere auch illegal besorgt hatte. Martin wusste, dass Tobias nur eineinhalb Jahre an der Dialyse verbracht hatte. Eine erstaunlich kurze Wartezeit, wie Dr. Hofnagel versichert hatte. Natürlich war es auch möglich, dass er aufgrund seines Alters so schnell ein Organ bekommen hatte. Aber es war doch ziemlich naheliegend, dass es gerade bei seiner Transplantation nicht mit rechten Dingen zugegangen war, wenn die eigene Mutter direkt an der Quelle saß. Wenn das so war, musste Steffen Wellner auch mit drinhängen. Er hatte Tobias schließlich ganz offiziell operiert.

Martin ging zurück zum Schreibtisch und suchte einen Hinweis darauf. Im Tagebuch war allerdings nichts erwähnt, was darauf schließen ließ. Er fand lediglich folgenden Eintrag:

 

Endlich ist es soweit! Tobi bekommt eine Niere. Endlich ist die Dialyse vorbei! Es war für uns beide eine anstrengende Zeit. Ich freue mich!

 

Die kurzen Passagen, in denen es um Tobias ging, handelten ausschließlich von seiner Niere. Von der gelungenen OP und seinem sich stetig verbessernden Gesundheitszustand. Von mütterlichen Ängsten war nichts zu lesen.

Viele Eintragungen waren an den Tagen geschrieben, an denen sie Geld aus ihrem Nebengeschäft bekam.

 

4.8.: Heute habe ich wieder mal Grund zum Feiern! Der Empfänger war ausgesprochen zahlungsfreudig, was mir die kleine Summe von 25.000 Euro eingebracht hat. Es ist immer wieder herrlich, wie leicht sich das große Geld verdienen lässt.

 

Hin und wieder ließ sie sich über Arbeitskollegen aus. Wobei sie nicht besonders zimperlich in ihrer Ausdrucksweise war. Besonders Rudolf Eltges bekam sein Fett weg und es war deutlich, dass sie ihn für ihre Zwecke ausgenutzt hatte.

Was war das nur für eine Frau gewesen?, fragte sich Martin. Die Antwort darauf konnte er sich geben, nachdem er das Tagebuch fertig gelesen hatte. Jetzt konnte er sich ein gutes Bild von ihr machen. Sie war eine egoistische, selbstbewusste, menschenverachtende, geldgeile Irre, urteilte Martin. Er schlug das Buch nach der letzten Seite zu, knallte die flache Hand darauf und schob es dann angewidert von sich.

Den Kopf in die Hände gestützt, saß er lange da und überlegte, was das alles für die weiteren Ermittlungen bedeutete. Die letzten Einträge hatte sie kurz vor ihrem Tod gemacht. Sie hatte beschrieben, dass sie sich mit ihm im Park getroffen hatte und sie vereinbart hatten, dass sie mit der Akquise zunächst pausieren sollte, solange die Polizei im Fall Bielmann herumstocherte. Das bedeutete, dass Bielmann ein Lebendspender gewesen und dummerweise bei der OP gestorben war. Anja Schulte nannte das einfach Pech. Aber immerhin konnte seine Niere erfolgreich verpflanzt und vor allem bezahlt werden, was für Anja Schulte offensichtlich das Wichtigste an dieser ärgerlichen Sache war. Scheinbar legte sie absolut keinen Wert darauf, zu wissen, was man mit dem restlichen Bielmann gemacht hatte.

Martin fiel Katrin Buhr ein. Sollte sie davon gewusst haben, hätte sie ein Motiv gehabt, Anja Schulte zu töten. Aber wie sollte sie ihr Opfer dazu gebracht haben, die Tabletten zu nehmen? Vielleicht unter Androhung von Gewalt?

Martin fuhr sich durch die Haare und dachte an Wellner. Sollte er derjenige sein, der diese illegalen Operationen durchgeführt und den Anja Schulte in ihrem Tagebuch immer nur als er bezeichnet hatte? Für Martin schien das naheliegend. Er als Transplantationsarzt, der Kontakt zu Anja Schulte hatte. Das konnte gar kein Zufall sein.

Martin hatte nicht den Eindruck, dass die Organisation sehr groß war. Aber das war mehr ein Gefühl, das sich beim Lesen entwickelt hatte. Sicher konnte er nicht sein.

Völlig fehlten Beschreibungen von ihrem Liebesleben. Es wurden keine Männer erwähnt. Lediglich Udo, womit sicher Gleisinger gemeint war, tauchte regelmäßig auf. Der Eintrag lautete immer kurz und gleichbleibend:

 

Udo war da! 500 Euro.

 

Jetzt war klar, dass die Freundschaft zwischen den beiden eine rein monetäre Basis hatte.

Ebenso fand sich nichts, was auf die Arbeitsweise der Organisation hindeutete, wo operiert wurde und woher die Empfänger kamen.

Martin griff zum Telefon und rief seine Kollegen zu sich, um sie über die Neuigkeiten zu informieren.

»Das ist ja der Hammer!«, sagte Dieter, als Martin seinen Bericht beendet hatte. »Dann wissen wir jetzt, dass Bielmanns Tod sozusagen ein Unfall war und auf Kosten dieser Organisation geht.«

»Da steckt bestimmt der Wellner dahinter.«

»So sehe ich das auch«, pflichtete Martin Paul bei. »Und deshalb werden wir uns den sofort nochmal vorknöpfen. Aus dem muss doch was rauszukriegen sein. Außerdem geht einer von euch nochmal zur Bank und besorgt sich eine Liste von Kunden oder ehemaligen Kunden, deren Kredite innerhalb der letzten zwei Jahre abgelehnt worden sind, bevorzugt die, die Rudolf Eltges betreut hat. Es muss sich doch einer finden lassen, der seine Niere über die Schulte verkauft hat.« Martin lief nervös hin und her. »Zu Tobias will ich auch noch. Der Junge war ziemlich fertig. Ich will sehen wie’s ihm geht.« Er verharrte vor seiner Bilderwand und tippte auf das Foto von Udo Gleisinger. »Und den hier, den will ich endlich sprechen.«

»Das werden wir heute auch«, sagte Michael. »Vor einer Stunde hat diese Nachbarin angerufen. Gleisinger kam heute Morgen nach Hause, ist aber kurz danach wieder weg. Er wollte sich was zum Anziehen kaufen und heute Abend in die Spielbank gehen.«

»Dann hoffen wir mal, dass die Info stimmt und wir ihn später da auch antreffen. Sicherheitshalber will ich aber eine Streife vor seinem Haus.«