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Ein Mann Ende dreißig reichte erst Martin, dann Michael seine verschwitzte Hand. Er war ein Hüne mit dichtem, leicht ergrautem Haar und stechenden blauen Augen. Augen, die einen irgendwie fesselten, aber gleichzeitig auch erschreckten. Etwas Unheimliches lag darin.
»Nehmen Sie bitte Platz«, sagte Rudolf Eltges mit extrem tiefer Stimme.
»Herr Eltges«, begann Martin ohne Umschweife, »Sie kannten Frau Schulte sehr gut, nicht wahr?«
»Ach, was heißt sehr gut. Wie eine Kollegin eben.« Nervös rieb er sich die Hände und räusperte sich.
»Haben Sie auch privaten Kontakt gehabt?«
»Nein, nein!«, beeilte er sich zu sagen. »Nur beruflich.« Wieder dieses Räuspern.
Martin überlegte, ob das eine Macke war oder durch die Nervosität hervorgerufen wurde.
»Hatten Sie denn beruflich viel miteinander zu tun? Ich meine, Frau Schulte war doch im Bereich der Firmenkredite tätig und Sie im Privatkundenbereich.«
»Man hat halt immer mal miteinander zu tun.«
»Mochten Sie Frau Schulte?«, fragte Michael dazwischen.
Eltges Augen fuhren unruhig zwischen Martin und Michael hin und her. »Alle mochten sie.«
»So«, sagte Martin, »jetzt werden wir mal ein bisschen konkreter.« Dieses nichtssagende Geschwafel ging ihm auf die Nerven. »Sie haben Frau Schulte oft zu Hause angerufen.«
»Nur hin und wieder.« Es klang wie eine Entschuldigung.
»Herr Eltges, das war keine Frage. Wir wissen, dass Sie die Dame nicht nur hin und wieder angerufen haben, sondern mindestens jeden dritten Tag.«
»Ja, ja!« Erneut ein Räuspern. »Aber das war nur beruflich.« Schweißperlen glitzerten auf seiner Stirn.
Mein Gott, dachte Martin, wie kann jemand so offensichtlich lügen. »Dann erklären Sie doch bitte mal, was es da immer so zu besprechen gab.«
»Wir haben uns über die Kunden ausgetauscht, Anträge diskutiert.«
»Das ist doch alles Quatsch!«, rief Martin so laut, dass Eltges zusammenzuckte. »Kann es nicht eher so sein, dass Sie was von Anja Schulte wollten? Und sie deshalb so oft anriefen?«
Eltges antwortete nicht. Er schien mit der Situation völlig überfordert zu sein.
Etwas versöhnlicher sagte Martin: »Wenn das so ist, können Sie das doch zugeben. Da ist doch nichts dabei.«
»Ich mochte Anja gern«, brachte er nach dem obligatorischen Räuspern hervor. »Vielleicht war ich auch ein bisschen in sie verliebt.«
»Haben Sie ihr Ihre Gefühle gezeigt?«
»Ja.« Er machte ein zerknirschtes Gesicht.
»Wie hat sie reagiert?«
»Sie hatte kein Interesse an mir.« Seine Augen begannen zu leuchten. »Aber das stimmte nicht. Ich weiß, dass sie mich auch mochte. Sie hat immer wieder meine Nähe gesucht. Ganz oft ist sie zu mir ins Büro gekommen.«
»Um was zu tun?«
»Naja, um zu reden. Manchmal hat sie sich nach meinen Kunden erkundigt. Meine Arbeit hat sie sehr interessiert, aber das war sicher nur ein Vorwand, um bei mir zu sein.« In seiner Stimme lag nun viel mehr Sicherheit als zuvor.
Ein Stalker, schoss es Martin durch den Kopf, mit völliger Fehlwahrnehmung der Beziehungsbereitschaft von Anja Schulte.
»Glauben Sie, Anja hat es gestört, dass Sie sie so oft angerufen haben?«
»Nein!«, wehrte er vehement ab. »Überhaupt nicht!«
»Haben Sie sich denn auch privat außerhalb der Bank getroffen?«
»Nein. Das ging nicht. Sie sagte immer, dass sie sich um ihren Jungen kümmern muss.«
»Hat Sie das nicht geärgert? Ich meine, Sie wollten doch eigentlich ein bisschen mehr von ihr als Small Talk.«
»Manchmal«, gab er kleinlaut zu.
»Sind Sie auch mal zu ihr nach Hause gefahren?«
»Manchmal.« Seine Stimme war kaum zu hören.
»Hat sie Sie hereingelassen?«
»Nur zweimal.«
»Sie waren sicher sehr enttäuscht, weil Sie so oft erfolglos waren, obwohl Sie sich bestimmt viel Mühe gegeben haben?«
Keine Antwort.
»Hat Sie ihnen klar und deutlich gesagt, dass aus Ihnen beiden nichts wird?«
»Hat sie.«
»Trotzdem haben Sie es weiter versucht?«
»Sie kam ja immer wieder zu mir. Was sollte ich denn da denken?«
»Können Sie uns sagen, wo Sie am vergangenen Samstagabend zwischen zweiundzwanzig und vierundzwanzig Uhr waren?«
Eltges riss die Augen auf. »Verdächtigen Sie mich?«
Dieser Blick konnte einem wirklich Angst einflößen, dachte Martin und antwortete: »Wir fragen das alle, die in irgendeiner Verbindung mit Frau Schulte standen.«
»Ich … ich … ich war zu Hause. Allein.«
»Dann kann das niemand bezeugen?«
Eltges rutsche auf seinem Stuhl herum und schüttelte den Kopf.
»Nun gut. Wir haben noch ein anderes Anliegen. Kennen Sie Peter Bielmann?«
»Nicht persönlich. Mein Kollege, Gerhard Schütz, hat mir erzählt, was ihm zugestoßen ist. Er war ja sein Sachbearbeiter. Das ist einfach grauenhaft.«
»Ja, das ist richtig. Wir –«
»Da fällt mir noch was ein«, unterbrach Eltges den Kommissar. »Anja hat ihn auch mal erwähnt. Am letzten Freitag bin ich ihr auf dem Flur über den Weg gelaufen und sie war sehr verärgert, weil Bielmanns Freundin ihr wohl die Autotür verkratzt hat.«
»Bielmanns Freundin?« Martin glaubte nicht richtig zu hören. »Katrin Buhr?«
»Einen Namen hat sie nicht genannt.«
»Das wird ja immer besser«, murmelte Martin und blickte Michael ungläubig an. Sollte sie tatsächlich diejenige sein, die »Bitch« in die Autotür gekratzt hatte, wäre es naheliegend, dass sie Gleiches auch im Wald getan hatte. Und nicht nur das. So wie es aussah, hatte Frau Buhr jetzt auch ein Mordmotiv, und zwar für beide Opfer: Eifersucht!
»Hat Frau Schulte gesagt, warum diese Frau das gemacht hat?«
»Nein.«
»In Ordnung.« Martin besann sich auf die nächste Frage. »Wir haben hier noch eine Liste mit Namen. Ich möchte Sie bitten, sie sich in Ruhe anzusehen, um festzustellen, ob Sie den einen oder anderen Namen kennen.«
Eltges nahm das Blatt und Martin beobachtete, wie er Zeile für Zeile las. Als er fertig war, ließ er die Liste in seinen Schoß sinken und blickte die Männer fragend an.
»Woher haben Sie die Liste?«
»Wir haben sie bei Anja Schulte gefunden.«
»Das verstehe ich nicht!« Er schien verwirrt. »Das sind alles meine Kunden.«
Martin rückte nach vorn auf die Stuhlkante und warf erst Michael, dann Robert Eltges einen erstaunten Blick zu. »Ihre Kunden?«
»Ja.«
»Was für Kunden? Ich meine, haben die alle bei Ihnen einen Kredit beantragt?«
»Ja, und wenn ich mich nicht irre, wurden alle abgelehnt.«
»Alle?«
»Ich glaube schon. Ich müsste genau nachschauen.«
»Dann tun wir das jetzt.«
Nach einer halben Stunde war klar, dass die Personen auf der Liste Bankkunden waren, die vor dem finanziellen Ruin standen, zumeist alte Kredite abzuzahlen und keine neuen bekommen hatten. Mit der Abkürzung LS konnte Robert Eltges nichts anfangen. Er war sichtlich bestürzt, denn er war zu der Einsicht gekommen, dass Anja Schulte ihn auf perfide Weise ausgenutzt hatte. Sie hatte diese Liste erstellt, für wen oder was auch immer, mit Leuten, über die er mit ihr ausführlich gesprochen hatte. Er erinnerte sich, dass sie sich regelmäßig nach seinen Problemfällen erkundigt hatte.
Michael und Martin befragten anschließend alle Sachbearbeiter der Kreditabteilung, um zu erfahren, ob auch sie mit Anja Schulte über ihre Problemkunden gesprochen hatten. Doch fast alle verneinten. Nur Gerhard Schütz meinte sich erinnern zu können, dass Peter Bielmann einmal Gesprächsthema gewesen war.
Als die Polizisten die Bank verließen, hatten sie zu allen Namen auf der Liste auch die dazugehörigen Adressen. Und die galt es jetzt zu überprüfen.
Martin beschlich ein merkwürdiges Gefühl. Diese Liste schien eine wichtige Rolle in den Fällen Bielmann und Schulte zu spielen. Aber was hatte das alles zu bedeuten? Er wagte kaum, den Gedanken, der sich ihm aufdrängte, zu Ende zu denken. Aber hatte die Liste überhaupt etwas mit den Morden zu tun? Wenn es denn beides Morde waren?
Und dann war da noch Katrin Buhr, die so unerwartet in den Fokus der Ermittlungen kam. Martin versuchte sich zu erinnern, wie er diese Frau erlebt hatte. Sie war ihnen teils feindselig, teils verzweifelt gegenübergetreten. Er fragte sich jetzt, ob es Verzweiflung über den Verlust des Freundes oder über die Tat gewesen war. Auf jeden Fall musste sie sofort zur Vernehmung ins Präsidium gebracht werden.
Doch Katrin Buhr war nirgends aufzutreiben. Sie hatte immer noch Urlaub und konnte sonstwo sein. Der Kommissar informierte Milster darüber, der sofort eine Streife zur Beobachtung ihrer Wohnung abstellte.
Martin spürte die Unruhe, die ihn ergriff. All diese Ungereimtheiten machten ihn nervös. Es wurde langsam Zeit, einige davon aufzuklären, und zwar so schnell wie möglich.