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Langsam kam er in die Einfahrt geschlendert, zwei Plastiktüten in der Hand und froh, wieder zu Hause zu sein. Draußen war es ziemlich ungemütlich. Der Himmel hatte sich im Lauf des Mittags zugezogen und es nieselte. Als sein Blick auf das Haus fiel, blieb er erstaunt stehen. Da saß jemand auf dem Boden direkt vor der Haustür, die Arme um die angezogenen Beine geschlungen. Beim Näherkommen erkannte Tobias die Frau. Als sie ihn erblickte, erhob sie sich eilig und sah sich nervös um.

»Hallo Katrin!«, begrüßte Tobias sie.

»Hallo Tobias.« Verlegen schaute sie ihn an. »Hast du einen Moment Zeit für mich? Ich brauche deine Hilfe.«

»Klar. Komm rein!«

»Bist du allein?«

»Siehst du außer mir noch jemanden?«, fragte er amüsiert.

»Ich dachte nur …, dein Onkel …«

»Mein Onkel musste nach Hause fahren. Und das ist völlig o.k.. Er wollte, dass ich mitkomme und über Weihnachten bleibe, aber ich will lieber hier sein. Auf Weihnachten mit Familie hab ich wirklich keine Lust.«

In der Küche stellte er die Tüten ab und setzte sich mit Katrin an den Küchentisch.

»Was ist los? Du siehst ein bisschen fertig aus, wenn ich das so sagen darf.«

»Ich weiß nicht, wo ich hin soll.«

Fragend blickte er ihr ins Gesicht.

»Die Polizei sucht mich.«

»Die Polizei? Warum das denn?«

»Es ist idiotisch!« Sie schüttelte den Kopf und lachte nervös. »Ich weiß gar nicht, warum ich zu dir gekommen bin. Ausgerechnet zu dir. Wenn ich so darüber nachdenke, ist das wirklich total dumm.«

»Das Recht auf Dummheit gehört zur Garantie auf freie Entfaltung der Persönlichkeit.«

Katrin lächelte schwach. »Nett gemeint, aber vielleicht sollte ich besser gehen.« Sie wollte aufstehen, aber Tobias drückte sie an der Schulter zurück auf den Stuhl.

»Nicht so schnell. Erzähl doch erstmal, was los ist.«

»Ich weiß nicht, ob du das wirklich hören willst.«

»Das sag ich dir, wenn ich’s gehört habe.«

»Also gut.« Katrin holte tief Luft und nahm ihren Mut zusammen. »Sie verdächtigen mich, deine Mutter umgebracht zu haben.«

»Was?«

»Ich könnte verstehen, wenn du jetzt die Polizei rufen willst«, sagte sie schnell. »Aber ich war es nicht. Wirklich!« Ihr flehender Blick rührte ihn.

»Wieso glauben die, dass du mit dem Tod meiner Mutter zu tun haben könntest?«

»Die denken, ich wollte mich rächen, weil mein Freund ein Verhältnis mit deiner Mutter hatte.«

»Ein Verhältnis?«, wiederholte er, während sich die Worte seiner Mutter ins Gedächtnis schoben: Sie glaubt, ich hab was mit ihrem Freund … Diese Tussi von einem Kunden aus der Bank … »Dann bist du ja diejenige, die ›Bitch‹ in die Autotür gekratzt hat.« Entgeistert starrte er sie an. »Richtig?«

Katrin lief rot an, was einer Antwort gleich kam.

»Meine Mutter war vielleicht einiges, aber keine ›Bitch‹«, erklärte Tobias und sah Katrin fest in die Augen.

»Es tut mir auch leid. Ich wünschte, ich hätte es nicht getan, aber ich war so furchtbar wütend auf sie, als ich von ihrem Verhältnis mit Peter erfahren habe.«

»Mir hat sie gesagt, dass sie nichts mit deinem Freund hatte.«

»Aber mir hat sie genau das Gegenteil erzählt. Warum sollte sie das tun, wenn es nicht stimmt?«

Tobias schloss für einen kurzen Moment die Augen und schüttelte den Kopf.

»Du musst mir glauben. Ich war es nicht«, beteuerte Katrin.

»Mit dem Glauben ist das so eine Sache. Denn gestern wusstest du angeblich noch nichts von diesem Verhältnis, obwohl ich dich gefragt habe, was die beiden miteinander zu tun hatten.« Eindringlich sah er sie an. »Klingt nach einer Lüge, oder was meinst du?«

»Ich hab mich nicht getraut, es zu sagen«, gab sie kleinlaut zu.

»Aber jetzt, wo es dir an den Kragen geht, traust du dich. Jetzt, wo die Polizei das herausbekommen hat und ihre Schlüsse zieht, weil jemand das selbe Wort neben meiner Mutter in den Waldboden geschrieben hat.«

»Ich gebe ja zu, das wirkt alles …« Sie schluckte.

Tobias sah den Tränenschimmer und den Ausdruck purer Verzweiflung in ihren Augen. »… ziemlich eindeutig!«, beendete er ihren Satz.

Er stand auf, drehte ihr den Rücken zu und blickte einen Moment schweigend aus dem Fenster. Katrin spielte nervös mit ihren Fingern. Sie war sich fast sicher, dass Tobias sie gleich rausschmeißen oder die Polizei holen würde.

»Ich glaube dir«, sagte er plötzlich und wandte sich Katrin wieder zu. »Und weißt du auch warum?« Sie schüttelte den Kopf. »Weil du hier bist. Ich glaube nicht, dass du zu mir gekommen wärst, wenn du meiner Mutter etwas angetan hättest. Ausgerechnet zu mir. Das wäre ja total irre! Ich meine, es gibt natürlich irre Mörder, aber du …«, er beugte sich zu ihr herunter und blickte ihr forschend ins Gesicht, »… du machst mir nicht den Eindruck, einer zu sein.«

»Danke!«, flüsterte Katrin erleichtert.

»Allerdings …«

»Was?«

»Die Frage, die sich die Polizei stellt, ist schon berechtigt. Überleg mal, was ist das für ein schlechter Zufall, dass innerhalb von wenigen Stunden zwei unterschiedliche Personen dasselbe Wort für meine Mutter benutzt haben sollen?«

»Ich kann mir das nur so erklären, dass der Mörder das auf dem Auto gelesen hat und dachte, es wäre vielleicht passend.«

Tobias runzelte skeptisch die Stirn. »Na, ich weiß nicht.«

»Was anderes kann ich mir nicht denken.«

»Möglicherweise will dir jemand diesen Mord anhängen.«

»Wieso sollte das jemand tun?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht hast du Feinde? Vielleicht will sich jemand an dir rächen?« Nachdenklich betrachtete er sie. »Aber dann wäre meine Mutter zufällig Opfer geworden. Und völlig überflüssig«, folgerte Tobias und wandte sich ab. Katrin hörte ihn leise schniefen.

»Ich kann mir das alles nicht erklären«, sagte sie entschuldigend.

»Die Polizei hat mir erzählt, dass meine Mutter einen Saab hat. Ich hab so ein Auto hier nie gesehen. Die Spuren von dem Auto hat man im Zusammenhang mit dem Mord an deinem Freund gefunden. Wusstest du das?«

»Deiner Mutter gehört der Saab? Das gibt’s doch nicht«, sagte Katrin aufgeregt. »Weißt du, was das heißt?«

»Nicht wirklich.«

»Die Polizei vermutet, dass der Besitzer, beziehungsweise der Fahrer dieses Wagens auch der Mörder von Peter ist.«

»Das würde ja bedeuten, dass meine Mutter … Das kann doch nicht sein.«

Die beiden starrten sich sprachlos an.

»Vielleicht wollte sich Peter nicht von mir, sondern von ihr trennen«, überlegte Katrin.

»Ach, und du glaubst, meine Mutter bringt den Typen dann gleich um? Das ist doch Schwachsinn.«

»Ich weiß es doch auch nicht.« Resigniert legte Katrin den Kopf in ihre aufgestützte Hand.

»Also, ich kapier überhaupt nichts mehr.« Tobias ging zum Kühlschrank. »Willst du was trinken?«

»Irgendwas mit viel Alkohol«, antwortete sie.

»Gute Idee.«

Die beiden öffneten eine Flasche Wodka und wechselten auf die bequeme Couch ins Wohnzimmer. Tobias bot Katrin an, fürs Erste bei ihm zu bleiben, bis sie sich überlegt hatte, was sie tun wollte. Sie sprachen alle Möglichkeiten durch und beiden war klar, dass Katrin sich nicht ewig bei ihm verstecken konnte. Ihre Situation würde sich dadurch auf keinen Fall verbessern. Doch heute wollte sie nicht weiter darüber nachdenken.

Bevor sie gemeinsam am späten Nachmittag auf dem Sofa einschliefen, hatten sie die Flasche geleert und waren zweifellos betrunken. Beide waren an Hochprozentiges nicht gewöhnt, schon gar nicht auf leeren Magen.