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»Wir bekommen den Durchsuchungsbeschluss nachher rüber.« Mit diesen Worten betrat Martin das Büro. »Und dann krempeln wir dem feinen Herrn Doktor das Büro mal um.«
»Bei der Gelegenheit können wir ihn auch gleich fragen, ob er immer noch so strafbar arbeitet wie früher«, sagte Michael wie beiläufig.
»Weißt du was, was ich nicht weiß?«
»So sieht’s aus! Also …«, er nahm seine Unterlagen zur Hand. »Dr. Steffen Wellner, geborener Grossmann –«
»Moment«, unterbrach ihn Martin. »Was heißt hier geborener?«
»Er hat den Namen seiner Frau angenommen und ich schätze, nicht ohne Grund. Er hat Medizin in Berlin studiert und seinen Facharzt für Chirurgie gemacht. Anschließend hat er eine Praxis eröffnet und den Hals nicht vollgekriegt.«
»Das heißt?« Neugierig beugte Martin sich über den Tisch.
»Er hat bewusst falsch abgerechnet. Ein bisschen mehr Röntgen hier, ein paar Bestrahlungen dort und die ein oder andere Spritze zusätzlich. Aber seine Arbeitsweise ist aufgeflogen und es kam zur Anzeige. Er hat elf Monate auf Bewährung bekommen und musste eine hübsche Summe zahlen.«
»Spricht für eine gewisse kriminelle Energie.«
»Und es erklärt, warum er den Namen gewechselt hat. Als Steffen Grossmann hätte er keinen Fuß mehr auf den Boden bekommen, aber als Steffen Wellner konnte er neu anfangen.«
»Dann ist es sicher auch kein Zufall«, mischte sich Paul in das Gespräch, »dass die Handschuhe der Firma Severen nur an zwei Kliniken in Wiesbaden geliefert werden, die auch gleichzeitig die Rethcon-Fäden benutzen.«
»Lass mich raten. Eine davon ist die Humboldt-Klinik?«
»Bingo! Die andere ist das St.-Augustin-Hospital, ein Krankenhaus, das auf die Behandlung von Krebserkrankungen spezialisiert ist.«
»Interessant!« Nachdenklich blickte er Paul an und rieb sich den Nacken. »Ich möchte, dass du vom St. Augustin einen OP-Plan von Bielmanns Todestag besorgst. Finde raus, ob die Operierten alle noch leben. Vielleicht ist Bielmann unter anderem Namen operiert worden. In der Humboldt-Klinik machen wir das Gleiche bei der Durchsuchung.«
»Du glaubst doch nicht, dass die Krankenhäuser ihre Toten jetzt per Kanal entsorgen?«
»Ich glaube gar nichts. Ich weiß nur, dass wir ein frisch operiertes Opfer haben, und das muss ja irgendwoher gekommen sein.«
»Alles klar, bin schon weg.« Mit der Jacke in der Hand war Paul schon zur Tür hinaus, steckte den Kopf aber nochmal kurz herein. »Ach, übrigens: Die Handschuhfasern aus dem Wald sind nicht identisch mit denen vom Kanalschacht. Und das Kalium in unserer Waldfee kam per Tablette in ihren Körper. Die Berichte liegen auf meinem Schreibtisch.«
Martin nahm sich die Unterlagen und las sie durch. Zusätzlich zu den Informationen, die Paul ihm eben zugerufen hatte, beinhaltete der Bericht auch die Auswertung der Spurensuche des Toyotas von Anja Schulte. Sichergestellte Fingerabdrücke konnten nur dem Opfer selbst und Tobias zugeordnet werden. Alle anderen waren im AFIS überprüft worden, allerdings ohne einen Treffer zu verzeichnen. Wie Tobias angegeben hatte, konnten sie von seinen sowie den Freunden seiner Mutter stammen oder auch von Mitarbeitern einer Autowerkstatt, in der der Wagen vor Kurzem zur Reparatur gewesen war. Ansonsten wurden als relevante Spuren nur Ölflecken an der Rückwand der Rückbank gefunden.
»Hier!«, rief Michael vom Schreibtisch gegenüber und tippte mit dem Finger immer wieder auf ein Blatt Papier, bevor er es Martin reichte. »Ich hab mir die Telefonnachweise der Schulte nochmal genauer angesehen. Dieser Rudolf Eltges taucht immer wieder auf, schon seit Monaten, mindestens alle drei Tage.«
Martin nahm die Liste zur Hand. »Offensichtlich ein regelmäßiger Gesprächspartner. Zuletzt am Freitag vor ihrem Tod.«
»Und ich schätze, dieser Name sagt dir auch was.« Michael deutete auf ein paar Zeilen weiter oben.
»Katrin Buhr. Da sieh mal einer an. Sie hat sie am vierzehnten zwölften angerufen.« Er sah auf den Kalender. »Das war letzte Woche Dienstag. Hat sie uns nicht gesagt, sie kennt Anja Schulte nicht?«
»Hat sie.«
»Warum hat sie gelogen? Und was wollte sie von ihr?«
»Wir sollten sie das persönlich fragen.«
»Das werden wir. Aber warum ist Paul das nicht aufgefallen? Der hat die Liste doch durchgesehen.«
»Hat er wohl übersehen.«
»Übersehen? So was Wesentliches? Ich würde sagen, er hat gepennt. Sowas darf nicht passieren.« Verärgert griff Martin zum Telefon. »Ich ruf Tobias an. Der weiß vielleicht, wer dieser Eltges ist und was die Buhr von seiner Mutter wollte.«
Der junge Mann berichtete, dass Rudolf Eltges ein Kollege aus der Bank sei, der seine Mutter mit Anrufen ziemlich genervt hatte. Nach den Gesprächen sei sie immer schlecht gelaunt oder sogar aggressiv gewesen. Er selbst hatte ihn immer den Stalker genannt und seiner Mutter geraten, ihm klipp und klar zu sagen, dass er das lassen soll. Scheinbar hatte sie sich nie deutlich genug ausgedrückt. Was Katrin Buhr von seiner Mutter gewollt hatte, wusste er nicht.
Auch nach den Ölflecken im Toyota erkundigte sich Martin. Tobias gab an, dass sie manchmal ihre Fahrräder im Wagen transportiert hatten. Da das nur mit umgeklappter Rückbank funktionierte, erklärte das die Flecken.
Nachdem Martin das Telefonat beendet hatte, blickte er nachdenklich aus dem Fenster. Auf der Straße und in den Häusern gegenüber sah er Weihnachtsdekoration, die ihn gleichermaßen an Karla und Milster erinnerte. Fast hätte er vor lauter neuen Informationen die beiden wieder vergessen. Er sah auf seine Uhr. Mittagszeit.
»Michael, hast du Lust, eine Kleinigkeit essen zu gehen? Ich muss sowieso kurz in die Stadt, was besorgen.«
»Ja, gute Idee.«
»Auf dem Rückweg schauen wir uns diesen Rudolf Eltges bei der Bero-Bank an. Bei der Gelegenheit können wir bei denen auch nach dieser LS-Namensliste fragen.«
Die Männer machten sich auf den Weg in die Innenstadt, wo Martin eine Flasche Sekt und einen Musical-Gutschein für Karla kaufte. Wenig später kehrten sie in der Neugasse im »Quán Binh« ein. Das kleine Vietnam-Thai-China-Bistro war sehr beliebt, weil man hier gut und billig essen konnte. Sie hatten Glück, noch einen Tisch zu bekommen.
»Du siehst die ganze Zeit schon so nachdenklich aus«, sagte Michael, nachdem sie bestellt hatten. »Irgendwas lässt dir doch keine Ruhe.«
»Ja, mir geht schon länger was im Kopf herum.«
»Dann wundert’s mich, dass du noch nicht darüber gesprochen hast. Du gibst doch sonst alles zur Diskussion frei.«
Tatsächlich äußerte Martin fast jeden Gedanken, der ihm zum laufenden Fall in den Kopf kam, damit die Kollegen ihre Meinungen dazu sagen konnten. Die Erfahrung hatte gezeigt, dass man sich auf diese Art und Weise der Wahrheit oftmals Stück für Stück schneller annäherte. Doch diesmal schienen Martin seine Gedanken so abstrus, dass er sie bis jetzt zurückgehalten hatte.
»Ja, ich weiß. Diesmal ist es anders. Du wirst mich für verrückt halten, wenn ich dir sage, dass ich beim Anblick von Nierenspießen auf dem Weihnachtsmarkt an Bielmann gedacht habe. Ich hab mich tatsächlich gefragt, ob man ihn umgebracht hat, um an seine Niere zu kommen.«
»Organhandel?«
»Ja. Das würde es wohl bedeuten. Der Gedanke ist doch völlig abwegig. Im Grunde halte ich das für unmöglich. Das ist ein Szenario, das vielleicht denkbar, aber absolut nicht realistisch ist. Ich weiß, dass es das im Ausland gibt, in Indien oder in der Dritten Welt. Aber mitten in Deutschland? Das würde hier doch gar nicht funktionieren.«
»Ich halte das auch für schwierig. Kliniken werden sicher überprüft. Außerdem würde so etwas sofort auffallen, bei dem vielen Personal.« Michael zog nachdenklich die Stirn in Falten. »Aber so verrückt finde ich den Gedanken gar nicht. Irgendwie würde das in Bielmanns Fall sogar Sinn machen.«
»Aber niemand kann doch in irgendeinem Keller Organe verpflanzen, ohne dass das jemand mitbekommt. Ich gehe davon aus, dass solche Aktionen sehr komplex und schwierig sind. Andererseits weiß ich so gut wie nichts darüber, um das realistisch einschätzen zu können.«
»In den Medien ist Organhandel immer wieder ein Thema. Dieser eine Politiker hat doch heftige Diskussionen ausgelöst, als er seiner Frau vor ein paar Jahren seine Niere gespendet hat.«
»Ja, ich kann mich erinnern. Und wenn ich das jetzt mal auf Bielmann übertrage, bedeutet das doch, dass der kein freiwilliger Spender war. Sonst wär das alles ordnungsgemäß im Krankenhaus passiert.«
»Es kann ja nicht jeder einfach Spender werden. Das geht nur bei den nächsten Angehörigen. Ansonsten ist das illegal.«
Die Bedienung brachte das Essen und unterbrach damit das Gespräch. Die Männer aßen eine Weile schweigend.
»Da fällt mir dieser Science-Fiction-Thriller ›Fleisch‹ von Rainer Erler ein«, sagte Michael kauend. »Weißt du noch, mit Herbert Herrmann und einer sexy Jutta Speidel?«
»Ach Gott, das ist ja ewig her. Aber ich weiß noch, dass ich den damals total schockierend fand. Ein Alptraum«, erinnerte sich Martin an den Film, in dem ein internationales Syndikat entführten Touristen ungefragt Organe entnommen und an zahlungskräftige Patienten verkauft hatte.
»Aber einer, der in vielen Ländern wahr geworden ist. Denk doch nur an den Kosovo. Die Tage habe ich noch darüber gelesen. Da hat ein Schweizer Ex-Staatsanwalt einen Bericht vorgelegt. Darin hieß es, dass ehemalige UCK-Führer während des Kosovokrieges Organe von Gefangenen entnehmen und sie auf dem internationalen Schwarzmarkt verkaufen ließen.«
»Ich weiß, aber das ist im Ausland passiert. Und das waren regelrechte Organisationen.«
»Warum sollen die nicht auch bei uns tätig werden? Als wir damals ›Fleisch‹ gesehen haben, hätte auch kein Mensch gedacht, dass so was überhaupt möglich ist.«
»Stimmt schon, aber das kann ich einfach nicht glauben.«
»Du hältst doch sonst alles für möglich.«
»Ja, aber das?« Martin schüttelte den Kopf.
»Ich schätze, da müssen wir einen Fachmann fragen.«
»Richtig!« Martin war froh, mit Michael darüber gesprochen zu haben. Wie immer führte das zum nächsten Schritt. »Im Präsidium ruf ich Stieber mal an. Der kann das sicher einschätzen.«