Der Ruf
16.5.
Ich hatte Lena nicht auf das angesprochen, was sie auf dem Wasserturm in das Herz geschrieben hatte, aber ich bekam es trotzdem nicht mehr aus dem Kopf. Wie auch, wir hatten ja im letzten Jahr nichts anderes gemacht, als rückwärts zu zählen bis zu jenem unausweichlichen Datum. Als ich sie dann schließlich doch fragte, warum sie die Tage zählte, gab sie mir keine Antwort. Ich hatte den Verdacht, sie wusste es selbst nicht genau.
Das war jetzt schon zwei Wochen her, und soweit ich wusste, hatte Lena seither nichts in ihren Notizblock geschrieben. Sie trug den kleinen Filzstift zwar an der Kette, aber er sah genauso neu und unbenutzt aus wie an dem Tag, als ich ihn im Stop&Steal gekauft hatte. Es war so ungewohnt, sie nicht ständig irgendetwas aufschreiben zu sehen; sie kritzelte weder auf ihre Hand noch auf ihre abgetragenen Chucks, die sie ohnehin nicht mehr sehr häufig trug. Stattdessen hatte sie jetzt ihre verbeulten schwarzen Stiefel an. Und auch ihre Haare waren anders. Sie hatte sie fast immer straff zurückgebunden, als könnte sie damit auch ihre Caster-Kräfte bändigen.
Wir saßen auf der obersten Stufe unserer Veranda, genau an der Stelle, an der mir Lena verraten hatte, dass sie eine Caster war, ein Geheimnis, das sie bis dahin keinem Sterblichen anvertraut hatte. Ich gab vor, Dr. Jekyll und Mr Hyde zu lesen, und Lena starrte auf die dünnen blauen Linien ihres Notizblocks, als fände sie dort die Antwort auf alle ihre Fragen.
Wenn ich nicht gerade Lena beobachtete, schweifte mein Blick zur Straße. Heute sollte mein Vater nach Hause kommen. Seit meine Tante ihn im Blue Horizons eingeliefert hatte, waren Amma und ich an jedem Besuchstag bei ihm gewesen. Auch wenn er immer noch nicht ganz der Alte war, benahm er sich doch zugegebenermaßen fast wieder normal. Ich war trotzdem aufgeregt.
»Sie sind gleich da.« Die Fliegengittertür fiel hinter uns ins Schloss. Amma stand auf der Veranda. Sie trug ihre Arbeitsschürze mit den vielen Werkzeugtaschen, die sie lieber hatte als gewöhnliche Schürzen, besonders an Tagen wie heute. Unruhig rieb sie über das goldene Amulett an ihrem Hals.
Ich schaute die Straße entlang, aber da war nur Billy Watts auf seinem Fahrrad. Lena beugte sich vor und sah in die gleiche Richtung.
Kein Auto weit und breit.
Ich sah auch keines, aber ich wusste, dass es in spätestens fünf Sekunden auftauchen würde. Auf ihre Fähigkeiten als Seherin war Amma besonders stolz. Sie würde nicht behaupten »Sie sind gleich da«, wenn es nicht stimmte.
Wart’s nur ab.
Und tatsächlich bog der weiße Cadillac meiner Tante in die Cotton Bend ein. Tante Caroline hatte das Fenster runtergekurbelt, sie nannte das 360-Grad-Klimaanlage, und ich sah sie schon von Weitem winken. Ich stand auf, da versetzte mir Amma einen Knuff mit dem Ellbogen.
»Na komm. Dein Vater hat sich ein ordentliches Willkommen verdient.« Was nichts anderes hieß als: Reiß dich zusammen, Ethan Wate.
Ich holte tief Luft.
Alles okay mit dir? In Lenas Augen spiegelte sich die Sonne.
Ja, schwindelte ich. Lena wusste es bestimmt besser, aber sie sagte nichts. Ich nahm ihre Hand. Sie war kalt, wie so oft jetzt, und der Stromschlag fühlte sich eher an wie der Stich einer Frostbeule.
»Mitchell Wate, sag bloß, du hast Kuchen von jemand anderem gegessen. Du siehst aus, als wärst du in die Keksdose gefallen und hättest nicht mehr rausgefunden.«
Mein Vater sah Amma mit warmem Blick an. Sie hatte ihn großgezogen, und er wusste, dass ihre Neckereien genauso liebevoll gemeint waren wie eine Umarmung.
Ich stand daneben, während Amma um ihn herumtanzte wie um ein kleines Kind. Sie und meine Tante plapperten, als wären die drei eben gemeinsam vom Markt nach Hause gekommen. Mein Vater lächelte mir verlegen zu. Genau so hatte er immer gelächelt, wenn wir ihn im Blue Horizons besucht hatten. Es sollte heißen: Ich bin nicht mehr verrückt. Ich schäme mich nur. Er trug sein altes Duke-T-Shirt und Jeans, und irgendwie sah er jünger aus, als ich ihn in Erinnerung hatte. Nur um die Augen herum hatte er Falten, die noch tiefer wurden, als er mich fest an sich drückte und fragte: »Wie geht’s dir?«
Einen Moment lang spürte ich einen dicken Kloß im Hals, dann räusperte ich mich und sagte: »Gut.«
Mein Vater wandte sich Lena zu. »Schön, dich wiederzusehen, Lena. Die Sache mit deinem Onkel tut mir sehr leid.« Da waren sie wieder, die Umgangsformen, die ein Südstaatler einfach nicht verleugnen konnte. Er musste ihr sein Beileid zu Macons Tod bezeugen, selbst in einem so schwierigen Moment wie diesem.
Lena zwang sich zu einem Lächeln, sah aber genauso verlegen aus, wie ich mich fühlte. »Danke, Sir.«
»Ethan, komm her und begrüß deine Lieblingstante.« Tante Caroline breitete die Arme aus, und auch ich wollte, dass sie mich drückte, bis mir die Luft wegblieb.
»Lasst uns ins Haus gehen«, sagte Amma von der Veranda aus und winkte meinen Vater zu sich. »Es gibt Coca-Cola-Kuchen und Brathähnchen. Wenn wir nicht bald reingehen, fliegt das Federvieh am Ende noch in den Hühnerstall zurück.«
Tante Caroline hakte sich bei meinem Vater unter und führte ihn die Verandastufen hinauf. Sie hatte das gleiche braune Haar wie meine Mutter und war genauso zierlich. Einen Augenblick lang dachte ich fast, meine Eltern wären wieder vereint und schritten durch die alte Tür von Wates Landing.
»Ich muss nach Hause.« Lena hielt den Notizblock vor sich wie einen Schild.
»Du brauchst nicht zu gehen. Komm mit rein.«
Bitte.
Es war keine höfliche Einladung, ich wollte einfach nicht allein reingehen. Vor ein paar Monaten hätte Lena das sofort begriffen. Aber heute war sie mit den Gedanken woanders.
»Du solltest die Zeit lieber mit deiner Familie verbringen.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab mir einen Kuss, aber ihre Lippen berührten meine kaum. Ehe ich etwas einwenden konnte, war sie schon am Auto.
Ich sah ihr nach, wie sie mit Larkins schickem Schlitten unsere Straße entlangfuhr. Lena fuhr nicht mehr mit dem Leichenwagen. Soviel ich wusste, hatte sie nach Macons Tod kein Fuß mehr reingesetzt. Onkel Barclay hatte den Wagen hinter der alten Scheune abgestellt und mit einer Plane abgedeckt. Jetzt fuhr sie Larkins Auto, schwarz, chromblitzend, stromlinienförmig. Bei seinem Anblick war Link völlig ausgeflippt. »Hast du eine Ahnung, wie viele Bräute ich mit dieser Karre aufreißen könnte?«
Ich konnte nicht verstehen, weshalb Lena ausgerechnet mit dem Auto ihres Cousins fuhr, der die gesamte Familie verraten hatte. Als ich sie danach fragte, zuckte sie nur mit den Schultern und sagte: »Er braucht es nicht mehr.« Vielleicht dachte Lena, sie könne Larkin damit bestrafen, wenn sie jetzt sein Auto fuhr. Er war an Macons Tod mitschuldig gewesen, das würde sie ihm nie verzeihen. Ich sah ihr nach, bis der Wagen um die Ecke bog, und wünschte mir, ich könnte mit ihm verschwinden.
Als ich in die Küche kam, kochte schon der Zichorienkaffee – und auch der Ärger. Amma lief mit dem Telefon vor der Spüle auf und ab, alle ein, zwei Minuten legte sie die Hand auf die Sprechmuschel und hielt Tante Caroline über das auf dem Laufenden, was am anderen Ende gesagt wurde.
»Seit gestern haben sie sie nicht mehr gesehen.« Amma nahm den Hörer wieder ans Ohr. »Am besten, du machst Tante Mercy einen Punsch und verfrachtest sie ins Bett, während wir sie suchen.«
»Wen suchen?« Ich sah meinen Vater an, aber er zuckte nur mit den Schultern.
Tante Caroline zog mich zur Spüle und flüsterte mir ins Ohr, so wie es Damen in den Südstaaten zu tun pflegen, wenn etwas zu schrecklich ist, um es laut auszusprechen: »Lucille Ball. Sie ist spurlos verschwunden.«
Lucille Ball war Tante Mercys Siamkatze. Das Tier verbrachte die meiste Zeit damit, an der Wäscheleine angebunden im Vorgarten meiner Tanten hin und her zu laufen, was die Schwestern als Freigang bezeichneten.
»Was soll das heißen?«
Amma hielt die Hand auf den Hörer, kniff die Augen zusammen und schob das Kinn vor. Ich kannte diesen Gesichtsausdruck. »Anscheinend hat jemand ihnen eingeredet, man müsse Katzen nicht anbinden, weil sie immer von selbst wieder nach Hause kommen. Du weißt nicht zufällig, wer das gewesen sein könnte, oder?« Das war keine Frage. Wir beide wussten, dass ich das den Schwestern schon seit Jahren sagte.
»Man hält Katzen nicht an der Leine«, versuchte ich, mich zu verteidigen, aber es war zu spät.
Amma starrte mich finster an und wandte sich an Tante Caroline. »Offenbar sitzt Tante Mercy schon seit Stunden auf der Veranda und starrt auf die leere Auslaufleine an der Wäscheschnur.« Sie nahm die Hand wieder vom Hörer. »Du musst sie ins Haus bringen und ihre Füße hochlegen. Wenn ihr schwindelig wird, dann mach ihr einen Löwenzahntee.«
Ich schlich mich aus der Küche, ehe Amma die Augen noch mehr zukniff. Die Katze meiner drei hundertjährigen Tanten war verschwunden und das war allein meine Schuld. Ich musste Link anrufen und ihn dazu bringen, mit mir durch die Stadt zu fahren und Lucille zu suchen. Vielleicht konnten wir sie ja mit seinen Demobändern aus ihrem Versteck aufscheuchen.
»Ethan?« Mein Vater stand in der Diele, direkt vor der Tür zum Arbeitszimmer. »Kann ich einen Moment mit dir sprechen?« Genau davor hatte mir gegraut; vor dem Augenblick, in dem er sich bei mir für alles entschuldigen und mir erklären wollte, weshalb er sich fast ein Jahr lang nicht um mich gekümmert hatte.
»Klar doch.« Aber ich war mir nicht sicher, ob ich wirklich hören wollte, was er zu sagen hatte. Ich war nicht mehr wütend auf ihn. Seit ich Lena beinahe verloren hätte, dämmerte mir, weshalb mein Vater so völlig neben der Spur gewesen war. Ich konnte mir nicht vorstellen, ohne Lena zu leben, dabei kannte ich sie noch gar nicht so lange. Mein Vater hatte meine Mutter mehr als achtzehn Jahre lang geliebt.
Er tat mir leid und trotzdem schmerzte es noch.
Mein Vater fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und trat noch einen Schritt näher. »Ich wollte dir sagen, wie leid es mir tut.« Er hielt inne, starrte auf seine Schuhspitzen. »Ich weiß nicht, was passiert ist. An einem Tag saß ich noch dort drinnen und habe geschrieben, und am nächsten Tag konnte ich nur noch an deine Mutter denken, auf ihrem Stuhl sitzen, den Geruch ihrer Bücher einatmen, mir vorstellen, wie sie mir über die Schulter schaute …« Er betrachtete seine Hände, als würde er mit ihnen reden und nicht mit mir. Vielleicht hatten sie ihm das im Blue Horizons beigebracht. »Es war der einzige Ort, an dem ich mich ihr nahe gefühlt habe. Ich habe es nicht über mich gebracht, sie gehen zu lassen.«
Er blickte hoch zu der alten Stuckdecke und aus seinen Augenwinkeln rollten Tränen. Mein Vater trauerte um die Liebe seines Lebens. Kein Wunder, dass er völlig die Fassung verloren hatte. Und ich hatte tatenlos zugesehen und nichts dagegen unternommen. Vielleicht war er nicht der Einzige, der sich entschuldigen musste.
Natürlich hätte ich jetzt eigentlich lächeln sollen, aber mir war nicht danach zumute. Stattdessen sagte ich: »Verstehe, Dad. Hättest du doch was gesagt. Mir fehlt sie auch, weißt du?«
Seine Stimme war leise, als er endlich sprach. »Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.«
»Schon gut.« Keine Ahnung, ob ich das ernst meinte, aber es war ihm deutlich anzusehen, wie erleichtert er war. Er schloss mich in die Arme und drückte mir einen Moment lang die Fäuste in den Rücken.
»Jetzt bin ich aber da. Wollen wir miteinander reden?«
»Worüber?«
»Über alles, was man wissen muss, wenn man eine Freundin hat.«
Es gab nichts, worüber ich weniger reden wollte. »Dad, wir brauchen nicht …«
»Ich habe eine ganze Menge Erfahrungen, weißt du. Deine Mutter hat mir über die Jahre ein, zwei Dinge über Frauen beigebracht.«
Ich überlegte, wie ich mich am besten aus dem Staub machen konnte.
»Wenn du mal darüber reden willst, weißt du …«
Ich könnte zum Beispiel aus dem Fenster des Arbeitszimmers springen und mich zwischen der Hecke und dem Haus hindurchzwängen.
»… über Gefühle und so.«
Ich hätte ihm beinahe ins Gesicht gelacht. »Über Gefühle?«
»Amma sagt, dass Lena es nicht einfach hat, jetzt wo ihr Onkel gestorben ist. Sie hat sich wohl ziemlich verändert.«
An der Zimmerdecke hängen. Nicht in die Schule gehen. Verschlossen sein wie sonst noch was. Auf Wassertürme klettern. Ja, man konnte wohl mit Fug und Recht sagen, dass sie sich verändert hatte. »Nein, ihr geht’s gut.«
»Nun ja, Frauen sind eine andere Gattung als wir.«
Ich nickte und versuchte, seinem Blick auszuweichen. Wenn er wüsste, wie recht er hatte.
»Sosehr ich deine Mutter auch geliebt habe, meistens hätte ich nicht sagen können, was in ihr vorgeht. Beziehungen sind schwierig. Du kannst mich alles fragen, was du möchtest.«
Was, bitte, hätte ich ihn fragen sollen? Was man tun soll, wenn das Herz beinahe stillsteht beim Küssen? Ob man die Gedanken des anderen lesen soll oder nicht? Woran man rechtzeitig erkennt, ob die Freundin sich für alle Zeiten für die Dunkle oder die Lichte Seite entscheiden wird?
Er drückte meine Schulter ein letztes Mal. Ich überlegte gerade, was ich ihm erwidern konnte, als er mich losließ. Sein Blick wurde von etwas anderem gefangen genommen.
In der Diele hing das gerahmte Porträt von Ethan Carter Wate. Ich hatte mich noch immer nicht an den Anblick gewöhnt, obwohl ich das Bild nach Macons Beerdigung selbst dort aufgehängt hatte. Mein ganzes Leben lang war das Gemälde mit einem Tuch verhüllt gewesen. Ich fand das irgendwie ungerecht. Ethan Carter Wate war vor einem Krieg geflohen, von dem er nicht überzeugt war, und er war gestorben, weil er versucht hatte, ein Caster-Mädchen zu beschützen, das er liebte.
Also hatte ich mir einen Nagel gesucht und das Bild aufgehängt. Und es hatte sich richtig angefühlt. Danach war ich ins Arbeitszimmer meines Vaters gegangen und hatte die Blätter aufgehoben, die im ganzen Raum verstreut lagen. Ich hatte die Kreise und das Gekritzel betrachtet, die davon erzählten, wie tief eine Liebe sein und wie lange Schmerz andauern kann. Dann hatte ich sie weggeworfen. Auch das war gut so.
Mein Vater ging zu dem Bild und betrachtete es, als sähe er es zum ersten Mal. »Den Burschen habe ich schon lange nicht mehr gesehen.«
Ich war so froh über den Themenwechsel, dass die Worte nur so aus mir heraussprudelten. »Ich hab es aufgehängt. Ich hoffe, es ist dir recht. Ich finde, es gehört hier draußen hin und nicht unter ein altes Bettlaken.«
Eine Weile musterte mein Vater den Soldaten in der Südstaaten-Uniform, der nicht viel älter aussah als ich. »Das Porträt war immer von einem Tuch verhängt, schon als ich noch ein Junge gewesen war. Meine Großeltern sprachen kaum darüber, aber ich wusste, dass sie kein Bild eines Deserteurs an der Wand hängen haben wollten. Nachdem ich das Haus geerbt hatte, habe ich das Bild auf dem Speicher gefunden und es ins Arbeitszimmer gebracht.«
»Warum hast du es nicht aufgehängt?« Was für eine seltsame Vorstellung, dass auch mein Vater als Kind neugierig auf das verhüllte Porträt gestarrt hatte.
»Ich weiß es selbst nicht. Deine Mutter wollte, dass ich es aufhänge. Ihr gefiel die Geschichte von Ethan Carter Wate – wie er dem Krieg entschlossen den Rücken kehrte, auch wenn es ihn schließlich das Leben kosten sollte. Ich wollte es auch wirklich aufhängen. Aber ich hatte mich so daran gewöhnt, dass es abgedeckt war. Und ehe ich dazu kam, ist deine Mutter gestorben.« Er fuhr mit der Hand über die Unterseite des geschnitzten Rahmens. »Du bist nach ihm benannt, weißt du das?«
»Ja, ich weiß.«
Mein Vater blickte mich an. »Sie hat das Bild geliebt. Ich bin froh, dass du es aufgehängt hast. Er gehört hierher.«
Ich konnte weder Ammas Hähnchen noch ihren vorwurfsvollen Blicken entgehen. Also fuhr ich nach dem Essen mit Link in der Nachbarschaft der Schwestern durch die Straßen und suchte Lucille. Link nagte an einem Hähnchenschenkel, der in eine fettige Papierserviette eingewickelt war, und rief zwischendurch ihren Namen. Jedes Mal wenn er sich mit der Hand durch sein stacheliges blondes Haar fuhr, glänzte es ein bisschen fettiger.
»Du hättest noch mehr Hähnchen mitbringen sollen. Katzen sind total verrückt danach. Sie fressen ja auch Vögel.« Link fuhr langsamer als sonst, damit ich nach Lucille Ausschau halten konnte, während er den Takt von »Love Biscuit«, dem entsetzlichen neuen Song seiner Band, auf dem Lenkrad mitklopfte.
»Ach ja? Und dann würden wir durch die Gegend kutschieren, während ich Hähnchenschenkel zum Fenster raushalte?« Link war so einfach zu durchschauen. »Du alter Gierhals willst einfach nur mehr von Ammas Hähnchen.«
»Woher du das nur weißt. Und Coca-Cola-Kuchen.« Er hielt den Hähnchenschenkel aus dem Fenster. »Komm, Miez, Miez …«
Ich suchte den Gehweg nach einer Siamkatze ab, aber dann erregte etwas anderes meine Aufmerksamkeit. Eine Mondsichel. Sie war auf einem Nummernschild abgebildet, rechts und links daneben klebten auf der Stoßstange die Stars and Bars, die Flagge der Konföderierten, und ein Aufkleber von Bubba’s Truck and Trailer. Es war ein Nummernschild von South Carolina mit dem Staatswappen, wie ich es schon tausendmal gesehen hatte. Es zeigte eine blaue Palme und eine Mondsichel, vielleicht war es sogar ein Caster-Mond. Was eindeutig bewies: Caster gab es in diesem Land schon sehr, sehr lange.
»Der Ausreißer ist dümmer, als ich dachte, wenn er sich nicht mal von Ammas Brathähnchen anlocken lässt.«
»Sie. Lucille Ball ist ein Mädchen.«
»Katze ist Katze.« Link bog mit Schwung auf die Hauptstraße ab. Am Randstein saß Boo Radley und sah zu, wie die Schrottkiste vorbeifuhr. Er wedelte mit dem Schwanz, ein Mal, zum Zeichen, dass er uns erkannt hatte. Er war der einsamste Hund der Welt.
Link räusperte sich. »Wo wir gerade von Mädchen sprechen. Wie steht’s mit Lena?« Er hatte sie in letzter Zeit nicht oft zu Gesicht gekriegt, aber immer noch häufiger als die meisten anderen Leute. Lena verbrachte ihre Zeit in Ravenwood unter den wachsamen Blicken von Gramma und Tante Del. Oder sie entzog sich deren wachsamen Blicken, je nachdem.
»Ihr geht’s den Umständen entsprechend.« Das war nicht mal gelogen.
»Echt? Ich finde, sie hat sich verändert. Sogar für ihre Verhältnisse.« Link war einer der wenigen in der Stadt, die Lenas Geheimnis kannten.
»Ihr Onkel ist gestorben. Das geht nicht spurlos an einem vorüber.« Link hätte das am besten wissen müssen. Er hatte ja selbst miterlebt, wie ich versucht hatte, mich mit dem Tod meiner Mutter, mit einer Welt ohne sie abzufinden. Er wusste, wie aussichtslos das war.
»Ja, aber sie spricht kaum noch und sie trägt seine Klamotten. Findest du das nicht auch ein bisschen seltsam?«
»Ihr geht’s gut.«
»Wenn du das sagst, Mann.«
»Fahr einfach weiter. Wir müssen Lucille suchen.« Ich sah aus dem Fenster auf die leere Straße. »Blöde Katze.«
Link zuckte mit den Schultern und drehte die Lautstärke auf. Seine Band, die Holy Rollers, dröhnte aus den Lautsprechern: »The girl’s gone away.« Ein Junge, der bei einem Mädchen abblitzte, darum drehte sich jeder Song, den Link schrieb. Das war seine Art, sich mit den Tatsachen abzufinden. Meine hatte ich noch nicht gefunden.
Lucille blieb spurlos verschwunden, aber viel mehr als die streunende Katze machten mir die Gespräche mit Link und meinem Vater zu schaffen. Unser Haus war still, nicht gerade der Idealzustand, wenn man vor seinen eigenen Gedanken davonlaufen wollte. Das Fenster in meinem Zimmer stand offen, die Luft war heiß und drückend, wie alles andere an diesem Tag auch.
Link hatte recht. Lena benahm sich seltsam. Aber erst seit einigen Monaten. Sie würde irgendwann damit aufhören und dann würde alles wieder sein wie früher.
Ich durchwühlte die Stapel von Büchern und Papieren auf meinem Schreibtisch auf der Suche nach Per Anhalter durch die Galaxis, dem Buch, zu dem ich immer griff, wenn ich auf andere Gedanken kommen wollte. Aber unter einem Stapel alter Sandman-Comics fand ich etwas ganz anderes: ein verschnürtes Päckchen, eingewickelt in das braune Papier, das Marian immer verwendete. Allerdings fehlte der Bibliotheksstempel.
Marian war die älteste Freundin meiner Mutter und die Leiterin der Stadtbibliothek von Gatlin. Aber sie war auch eine Hüterin – eine Sterbliche, die die Geheimnisse und die Überlieferungen der Caster-Welt bewahrte und in ihrem Fall auch die Lunae Libri, eine Caster-Bibliothek, die eine eigene geheimnisvolle Welt für sich war. Sie hatte mir das Päckchen nach Macons Tod gegeben, aber ich hatte es völlig vergessen. Es war sein Tagebuch; Marian hatte gedacht, Lena würde es vielleicht haben wollen. Aber da hatte sie sich geirrt. Lena wollte es weder sehen noch behalten. Sie wollte das Buch nicht einmal in Ravenwood haben. »Nimm du es«, hatte sie gesagt. »Ich kann es nicht ertragen, seine Handschrift zu sehen.« Seitdem verstaubte es auf meinem Schreibtisch.
Ich drehte es hin und her. Es war schwer, fast zu schwer für ein Buch. Ich fragte mich, wie es wohl aussehen mochte. Wahrscheinlich war es alt, in rissiges Leder gebunden. Ich löste die Schnur und packte es aus. Ich wollte es nicht lesen, nur anschauen. Aber als ich das Papier entfernt hatte, sah ich, dass es gar kein Buch war, sondern eine schwarze Holzschachtel, in die komplizierte Caster-Symbole geritzt waren.
Ich strich mit der Hand darüber und fragte mich, was Macon wohl geschrieben hatte. Dass er wie Lena Gedichte verfasst hatte, konnte ich mir nicht vorstellen. Wahrscheinlich waren es Notizen über Gartenbau oder Ähnliches. Vorsichtig öffnete ich den Deckel. Ich verspürte den Wunsch, etwas zu sehen, das Macon Tag für Tag berührt hatte, etwas, das ihm wichtig gewesen war.
Die Schachtel war mit schwarzem Satin ausgeschlagen. Die Seiten, die darin lagen, waren lose und vergilbt und voll geschrieben mit Macons gestochen scharfer Handschrift. Ich berührte ein Blatt mit dem Zeigefinger. Im selben Moment begann sich alles um mich zu drehen, und ich spürte, wie ich nach vorne kippte. Der Fußboden kam immer näher, aber ich schlug nicht auf, sondern stürzte durch den Boden hindurch und fand mich in einer dichten Rauchwolke wieder …
Entlang des Flusses stand alles in Flammen, was von den Plantagen noch übrig geblieben war. Greenbrier war von den Feuern fast eingeschlossen. Als Nächstes würde Ravenwood brennen. Wahrscheinlich hatten die Truppen der Union eine Gefechtspause eingelegt, trunken von ihrem Sieg und dem Whiskey, den sie in den Häusern der Wohlhabenden von Gatlin erplündert hatten.
Abraham blieb nicht viel Zeit. Die Soldaten waren im Anmarsch und er würde sie töten müssen. Es gab keine andere Möglichkeit, Ravenwood zu retten. Sterbliche hatten keine Chance gegen ihn, nicht einmal wenn sie Soldaten waren. Gegen einen Inkubus konnten sie nichts ausrichten. Und falls sein Bruder Jonah doch noch aus den unterirdischen Gängen zurückkommen sollte, würden sie es gleich mit zweien von ihnen aufnehmen müssen. Nur die Gewehre machten Abraham Sorgen. Auch wenn die Waffen der Sterblichen einen wie ihn nicht zu töten vermochten, würden ihn die Kugeln doch schwächen, und das könnte den Soldaten die nötige Zeit verschaffen, um Ravenwood in Brand zu stecken.
Abraham brauchte neue Nahrung, und sogar durch den Qualm hindurch roch er, dass in der Nähe ein verzweifelter und verängstigter Sterblicher war. Dessen Angst würde ihm Stärke verleihen. Sie machte ihn kräftiger und ausdauernder als Erinnerungen oder Träume.
Abraham raumwandelte dorthin, woher der Geruch kam. Als er wieder Gestalt annahm in den Wäldern jenseits von Greenbrier, begriff er jedoch sofort, dass er zu spät gekommen war. Der Geruch war verflogen. In der Ferne sah er Genevieve Duchannes, die sich über einen Leichnam beugte, der im Schlamm lag. Ivy, die alte Köchin von Greenbrier, stand hinter ihr und hielt etwas gegen die Brust gepresst. Als sie Abraham erblickte, kam sie auf ihn zu.
»Gott sei Dank, Mr Ravenwood.« Sie senkte die Stimme. »Ihr müsst das an Euch nehmen. Bewahrt es an einem sicheren Ort auf, bis ich es wieder hole.« Sie reichte Abraham ein schweres schwarzes Buch. Kaum hatte seine Hand es berührt, spürte er, welche Macht es hatte.
Das Buch lebte, es pochte gegen seine Handfläche, als würde ein Herz darin schlagen. Er konnte förmlich hören, wie es ihm zuflüsterte, ihn lockte, damit er es mitnahm – damit er es aufschlug und das freiließ, was sich in ihm verbergen mochte. Es trug keinen Titel, nur eine Mondsichel war auf den Einband geprägt. Abraham strich mit den Fingern über die Konturen.
Ivy redete immer noch auf ihn ein, sie hielt sein Schweigen irrtümlich für Zögern. »Bitte, Mr Ravenwood, ich habe sonst niemanden, dem ich es geben könnte. Und bei Miss Genevieve kann ich es nicht lassen. Nicht jetzt.« Genevieve hob den Kopf, als hätte sie die beiden durch das Prasseln des Regens und das Brüllen der Flammen hindurch hören können.
Als er ihrem Blick begegnete, verstand Abraham. Er sah ihre goldgelben Augen leuchten. Es waren die Augen einer Dunklen Caster. Und da begriff er, was er in der Hand hielt.
Das Buch der Monde.
Er hatte das Buch schon oft gesehen, allerdings nur in den Träumen von Genevieves Mutter Marguerite. Es war ein Buch, das unendliche Macht in sich barg, ein Buch, das Marguerite gleichermaßen fürchtete und verehrte. Ein Buch, das sie vor ihrem Mann und ihren Töchtern versteckte. Niemals hätte sie zugelassen, dass es in die Hände eines Dunklen Casters oder eines Inkubus fiel. Ein Buch, das vielleicht die Rettung war für Ravenwood.
Ivy kramte etwas aus ihrer Schürze hervor und strich damit über den Einband. Kleine weiße Kristalle bedeckten das Buch. Salz. Die Waffe der abergläubischen schwarzen Frauen, ihr Allheilmittel, mitgebracht von den Inseln, von denen ihre Vorfahren stammten. Sie waren davon überzeugt, dass man damit Dämonen abwehren könne, ein Glaube, der Abraham stets amüsiert hatte.
»Ich hole es wieder, sobald ich kann. Das schwöre ich«, versicherte Ivy.
»Bei mir ist es gut aufgehoben, ich gebe dir mein Wort.« Abraham wischte ein paar Salzkörner fort und sofort spürte er die pulsierende Wärme des Buchs. Er machte einige Schritte in den Wald hinein, aus Rücksicht auf Ivy ging er zu Fuß. Den Gullah-Frauen hatte es immer Angst eingejagt, wenn sie ihn raumwandeln sahen, denn es führte ihnen vor Augen, wer er wirklich war.
»Versteckt es, Sir. Tut, was Ihr wollt, nur schlagt es nicht auf. Das Buch bringt Unglück über den, der sich darauf einlässt. Hört nicht auf das Buch, wenn es Euch ruft. Ich werde kommen und es wieder holen.«
Aber Ivys Warnung kam zu spät.
Abraham war den Lockrufen des Buchs bereits erlegen.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich rücklings auf dem Boden und starrte an die Zimmerdecke. Wie alle Decken in unserem Haus war sie himmelblau gestrichen, um die Holzbienen abzuwehren, die sich sonst dort eingenistet hätten.
Ich setzte mich auf, mir war schwindelig. Die Schachtel lag neben mir, der Deckel war verschlossen. Ich öffnete ihn und sah, dass alle Blätter darin lagen. Diesmal fasste ich nichts an.
Ich kapierte gar nichts. Weshalb hatte ich wieder Visionen? Weshalb sah ich Abraham Ravenwood, einen Mann, dessen Name den Leuten in Gatlin seit Generationen nicht geheuer war, weil seine Plantage als Einzige den Großen Brand unversehrt überstanden hatte? Nicht dass ich viel darauf gab, was sich die Leute in Gatlin erzählten.
Aber Genevieves Amulett hatte nie grundlos Visionen hervorgerufen. Sie hatten Lena und mich immer auf eine bestimmte Spur gesetzt. Was hatte Abraham Ravenwood mit uns zu tun? Das Buch der Monde war der rote Faden, der beide verband. Es hatte in den früheren Visionen eine Rolle gespielt und das tat es auch diesmal. Aber das Buch gab es nicht mehr. In der Nacht von Lenas Geburtstag war es zum letzten Mal gesehen worden, auf dem Tisch in der Gruft, inmitten der Flammen. Wie so vieles war es jetzt nur noch ein Häufchen Asche.