Immerwährender Frieden

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15.2.

Da war der Regen, der von Ammas schwarzem Sonntagshut tropfte. Da war Lena, die mit bloßen Beinen in dem zähen Schlamm vor dem Grab kniete. Und da war dieses unangenehme Kribbeln in meinem Nacken, weil viel zu viele Geschöpfe um mich herumstanden, die wie Macon waren. Inkubi – Dämonen, die sich nachts von den Erinnerungen und Träumen der Sterblichen nährten. Da war das unsagbar gruselige Geräusch, als sie das letzte Stückchen dunklen Himmel aufrissen und verschwanden, kurz bevor der erste Lichtstreif am Horizont erschien. Sie waren wie eine Schar schwarzer Krähen, die auf ein geheimes Stichwort hin von einer Hochspannungsleitung auffliegt.

Es war Macons Beerdigung.

Ich erinnere mich noch an jede Einzelheit, als wäre es erst gestern gewesen, obwohl mir manches davon völlig unglaublich vorkommt. Beerdigungen sind eine vertrackte Angelegenheit – so wie das Leben auch. Manches Wichtige verdrängt man völlig, aber zufällige, scheinbar flüchtige Augenblicke verfolgen einen, blitzen im Geist wieder und wieder auf.

Woran ich mich erinnern kann: Als es noch dunkel war, weckte mich Amma, um vor Morgengrauen zum Garten des Immerwährenden Friedens zu gehen. Lena war zerschlagen und erstarrt und am liebsten hätte sie alles um sich herum erstarren lassen und zerschlagen. Der Himmel war dunkel, so wie die Hälfte der Anwesenden am Grab dunkel war, die nämlich, die keine Menschen waren.

Aber da ist noch etwas, woran ich mich jedoch beim besten Willen nicht erinnern kann. Es ist da, kriecht durch mein Unterbewusstsein. Seit Lenas Geburtstag, ihrem Sechzehnten Mond, dem Tag, an dem Macon starb, habe ich versucht, mich daran zu erinnern.

Ich weiß nur, es ist etwas, das ich auf keinen Fall vergessen darf.

Am Morgen von Macons Beerdigung war es draußen noch stockduster, nur hin und wieder fiel zwischen den Wolken der Mondschein durchs offene Fenster. In meinem Zimmer war es kalt, aber das war mir egal. In den letzten beiden Nächten seit Macons Tod hatte ich das Fenster offen gelassen, in der idiotischen Hoffnung, er würde noch einmal kommen, sich in meinen Schaukelstuhl setzen und eine Weile bei mir bleiben.

Ich erinnerte mich noch genau an jene Nacht, als ich ihn im Dunkeln an meinem Fenster stehen sah. Damals war mir klar geworden, was er war: kein Vampir, wie ich anfangs vermutet hatte, und auch keine mythische Gestalt aus einem Buch, sondern ein leibhaftiger Dämon. Einer, der sich von Blut ernähren konnte, der es jedoch vorzog, sich an meinen Träumen zu nähren.

Macon Melchizedek Ravenwood. Für die Menschen hier in der Gegend war er schlicht der alte Ravenwood, ein Einsiedler und Sonderling. Aber er war auch Lenas Onkel und der Einzige, der je so etwas wie ein Vater für sie gewesen war.

Ich zog mich gerade im Dunkeln an, als ich wieder dieses warme Gefühl verspürte, das Lenas Gegenwart in mir auslöste.

L?

Lena sprach aus der Tiefe meiner Gedanken; sie war mir so nah, wie man einem anderen Menschen nur sein konnte, und gleichzeitig auch so weit entfernt. Wir benutzten Kelting, um miteinander zu sprechen, dieses Raunen, mit dem sich Caster schon verständigten, lange bevor es die sogenannte Mason-Dixon-Linie gab, jene gedachte Grenze, die darüber entschied, wer zu den Südstaaten gehörte. Es war die geheime Sprache der Vertrautheit und der Not, geboren in Zeiten, in denen man auf dem Scheiterhaufen enden konnte, wenn man anders war. Es war eine Sprache, in der wir uns eigentlich gar nicht unterhalten konnten, denn ich war ja ein Sterblicher. Aber aus einem unerklärlichen Grund konnten wir es trotzdem. Es war unsere Sprache für das Unausgesprochene und das Unaussprechliche.

Ich kann’s nicht. Ich werde nicht gehen.

Ich gab es auf, meine Krawatte zu binden, und ließ mich aufs Bett fallen. Die uralten Matratzenfedern knarrten.

Du musst. Du wirst es dir nie verzeihen, wenn du es nicht tust.

Einen Augenblick lang sagte sie nichts.

Du weißt nicht, wie das ist.

Oh doch, das weiß ich.

Ich dachte an jenen Tag zurück, als ich auf dem Bett saß und Angst hatte, aufzustehen und meinen Anzug anzuziehen; als ich Angst hatte, in der Seelenmesse Verlass mich nicht zu singen und dann in dem düsteren Autokorso durch die Stadt zum Friedhof zu fahren, um meine Mutter zu beerdigen. Denn erst damit war alles grausame Wirklichkeit geworden.

Ich konnte die Erinnerung daran kaum ertragen, aber ich öffnete mich Lena und zeigte ihr alles …

Du meinst, du schaffst es nicht, aber du hast keine andere Wahl. Denn Amma wird dich an der Hand nehmen, dich zum Auto geleiten und in die Kirchenbank führen, und sie wird bei den Beileidsbezeugungen neben dir stehen – auch wenn jede Bewegung schmerzt, als wärst du von einem Fieber befallen. Du blickst in die Gesichter vor dir, hörst das mitleidige Murmeln, aber du verstehst nicht, was sie sagen. Der Schrei in deinem Kopf übertönt alles. Also lässt du es über dich ergehen, wenn sie dir die Hand auf den Arm legen, du steigst ins Auto und alles geht seinen Lauf. Denn du schaffst es, wenn dir jemand sagt, dass du es schaffst.

Ich stützte den Kopf in die Hände.

Ethan

Ich sage, dass du es schaffst, L.

Ich rieb mir über die Augen; sie waren nass. Rasch knipste ich das Licht an und starrte, ohne zu blinzeln, so lange in die nackte Glühbirne, bis die Tränen getrocknet waren.

Ethan, ich habe Angst.

Ich bin hier. Ich gehe nicht weg.

Schweigend versuchte ich, meine Krawatte zu binden, aber ich spürte Lenas Gegenwart, als säße sie in einer Ecke meines Zimmers. Seit mein Vater nicht mehr hier war, kam mir das Haus leer vor.

Ich hörte Amma im Flur, und schon stand sie wortlos in der Tür, ihr Feiertagstäschchen in der Hand. Sie sah mich aus ihren dunklen Augen an. Die zierliche Person kam mir richtig groß vor, auch wenn sie mir nicht mal bis an die Schulter reichte. Sie war für mich die Großmutter, die ich nie gehabt hatte, und die Mutter, die ich verloren hatte.

Mein Blick glitt zu dem leeren Stuhl neben dem Fenster, über den sie meinen Sonntagsanzug gelegt hatte, so wie vor einem knappen Jahr schon einmal, dann starrte ich wieder in die nackte Glühbirne.

Amma streckte die Hand aus und ich reichte ihr die Krawatte. Vielleicht war Lena nicht die Einzige, die meine Gedanken lesen konnte.

Ich bot Amma meinen Arm, als wir den Hügel zum Garten des Immerwährenden Friedens hinaufstiegen. Der Himmel war düster, und der Regen setzte ein, ehe wir auf der Anhöhe angelangt waren. Amma trug ihr bestes dunkles Kostüm. Der ausladende Hut schützte sie vor dem Regen, nur der üppige weiße Spitzenkragen wurde an den Rändern nass. Sie hatte ihn mit ihrer besten Brosche am Kleid festgesteckt – ein Zeichen der Ehrerbietung. Das alles hatte ich schon im vergangenen April gesehen, ebenso wie ich ihre besten Handschuhe auf meinem Arm gespürt hatte, als sie mich stützte, während wir damals den Hügel erklommen. Diesmal wusste ich nicht, wer wen stützte.

Ich begriff nicht ganz, weshalb Macon ausgerechnet auf dem Friedhof von Gatlin beerdigt werden wollte, schon gar nicht, wenn man bedachte, wie sich die Leute hier ihm gegenüber verhalten hatten. Glaubte man Gramma, Lenas Großmutter, dann hatte Macon unmissverständlich angeordnet, hier begraben zu werden. Er selbst hatte die Grabstätte vor Jahren gekauft. Lenas Familie war darüber wohl nicht sonderlich glücklich gewesen, aber Gramma hatte Macons Willen durchgesetzt. Sie würden seinen Wunsch respektieren, wie es in jeder anständigen Familie im Süden üblich war.

Lena? Ich bin hier.

Ich weiß.

Ich merkte, wie meine Stimme sie beruhigte, so als hätte ich meinen Arm um sie gelegt. Mein Blick glitt zu dem Baldachin, unter dem die Beisetzungsfeierlichkeiten abgehalten wurden. Es sah aus wie bei jeder anderen Beerdigung in Gatlin auch, was irgendwie verrückt war, denn schließlich ging es um Macon, den alten Ravenwood.

Es war noch nicht richtig hell, trotzdem konnte ich in der Ferne bereits Konturen ausmachen. Windschief, keine war wie die andere. Da waren die alten, krummen Reihen der kleinen Grabsteine auf den Kindergräbern, die überwucherten Familiengrabmäler, die verwitterten weißen Obelisken mit den kleinen Messingkreuzen, die an die Gefallenen der Konföderierten Armee erinnerten. Sogar General Jubal A. Early, dessen Standbild über das General’s Green in der Stadtmitte wachte, lag hier begraben.

Wir gingen um das Familiengrab einiger nicht ganz so berühmter Gatliner herum. Sie lagen hier schon so lange, dass sich der geschmeidige Stamm einer Magnolie um den größten Grabstein gewunden und ihn völlig überwuchert hatte.

Ja, und geheiligt waren sie. Alle waren sie geheiligt, woraus man ersehen konnte, dass wir den ältesten Teil des Friedhofs erreicht hatten. Geheiligt – so lautete das erste Wort auf jedem alten Grabstein in Gatlin, das wusste ich von meiner Mutter. Als wir näher kamen und sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich, wohin der schlammige Kiesweg führte. Ich dachte sofort an die steinerne Friedhofsbank auf dem grasbewachsenen, von Magnolien umsäumten kleinen Hügel. Und ich erinnerte mich daran, wie mein Vater auf dieser Bank gesessen und nicht in der Lage gewesen war, sich zu rühren oder auch nur ein Wort zu sprechen.

Meine Füße drohten, mir den Dienst zu versagen, denn sie hatten das Gleiche herausgefunden wie ich: Macons Garten des Immerwährenden Friedens und das Grab meiner Mutter lagen nur einen Magnolienstrauch voneinander entfernt.

Die gewundenen Straßen liegen genau zwischen uns.

Es war eine kitschige Zeile aus einem noch kitschigeren Gedicht, das ich Lena zum Valentinstag geschrieben hatte. Aber hier auf dem Friedhof stimmte es. Wer hätte gedacht, dass unsere Eltern – meine Mutter und der Mann, der für Lena wie ein Vater gewesen war – auf dem Friedhof nebeneinander liegen würden?

Amma nahm mich bei der Hand und führte mich an Macons eindrucksvolle Grabstätte. »Bleib ganz ruhig.«

Wir traten hinter die hüfthohe schwarze Umzäunung, die rund um sein Grab verlief; in Gatlin ein Zeichen für Vornehmheit. Sie war schmiedeeisern, die schief hängende Tür stand halb offen in dem hohen Gras. Macons Grab umgab eine ganz eigene Atmosphäre, so wie auch Macon selbst immer etwas Besonderes ausgestrahlt hatte.

Innerhalb der schwarzen Umzäunung, unter dem schwarzen Baldachin, stand auf der einen Seite des reich geschnitzten schwarzen Sargs Lenas Familie: Gramma, Tante Del, Onkel Barclay, ihre Cousinen Reece und Ryan und Macons Mutter Arelia. Auf der anderen Seite, einige Schritte von Sarg und Baldachin entfernt, sah ich eine Gruppe Männer und eine Frau. Schulter an Schulter standen sie im Regen und waren staubtrocken. Es war wie bei einer Hochzeit, bei der die Verwandten der Braut in der Kirche auf der einen Seite des Mittelganges saßen und die des Bräutigams auf der anderen. Zwei verfeindete Clans, die sich misstrauisch musterten. An der Stirnseite des Sargs standen Lena und ein weißhaariger Mann. Auf der gegenüberliegenden Seite, gerade noch unter dem Baldachin, standen Amma und ich.

Amma packte mich fester am Arm, zog ihr goldenes Amulett unter der Bluse hervor und rieb es in der Hand. Amma war nicht einfach nur abergläubisch, sie war eine Seherin. Generationen von Frauen aus ihrer Familie hatten Tarotkarten gelegt und mit den Geistern kommuniziert und Amma hatte gegen fast alles ein Amulett oder ein Zauberpüppchen parat. Das goldene Amulett diente zum Schutz. Ich starrte die Inkubi an; der Regen perlte von ihren Schultern ab, ohne eine Spur zu hinterlassen. Ich hoffte, sie gehörten zu denen, die sich nur von Träumen ernährten.

Ich wollte wegschauen, aber das war gar nicht so einfach. Inkubi hatten etwas an sich, das einen in den Bann zog. Sie waren wie ein Spinnennetz, wie ein lockendes Raubtier. Im Dunkeln sah man ihre schwarzen Augen nicht und konnte sie beinahe für ganz normale Menschen halten. Ein paar von ihnen hatten sich so gekleidet, wie Macon es zu tun pflegte: in dunkle Anzüge und teure Mäntel. Einige erinnerten mich allerdings eher an Bauarbeiter, die nach der Arbeit noch auf ein Bier gingen, die Hände tief in den Taschen ihrer Jeansjacken vergraben. Die Frau war vermutlich ein Sukkubus. Ich hatte davon gelesen, hauptsächlich in Comic-Heften, und es immer für ein reines Ammenmärchen gehalten, eine Ausgeburt der Fantasie, genauso wie Werwölfe. Jetzt wusste ich, dass ich mich getäuscht hatte, denn auch sie stand im Regen und war so trocken wie die anderen.

Die Inkubi hoben sich deutlich von Lenas Familie ab, die alle schimmernde schwarze Umhänge trugen. Der Stoff fing selbst den kleinsten Lichtstrahl auf und reflektierte ihn. Es war ein seltsamer Anblick, besonders wenn man die strenge Kleiderordnung für Frauen bedachte, die sonst auf Südstaaten-Beerdigungen herrschte.

Die Mitte des Geschehens bildete Lena. Von ihr ging an diesem Tag nichts Magisches aus. Sie stand vor dem Sarg, die Finger ruhten leicht auf dem Sargdeckel, als hielte Macon noch irgendwie ihre Hand. Auch sie trug einen schimmernden Umhang, aber an ihr hing er matt herunter. Ihre schwarzen Haare hatte sie zu einem festen Knoten gebunden, keine einzige ihrer sonst so unbändigen Locken umschmeichelte ihr Gesicht. Sie sah zerbrechlich aus und irgendwie fehl am Platz. So als stünde sie auf der falschen Seite des Gangs. Als gehörte sie zu dem Teil von Macons Familie, der im Regen ausharrte, ohne nass zu werden.

Lena?

Sie hob den Kopf und unsere Blicke trafen sich. Seit an ihrem Geburtstag das eine Auge golden geworden und das andere grün geblieben war, hatten beide Augen einen Glanz angenommen, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Manchmal haselnussbraun, manchmal auf unnatürliche Weise golden. Jetzt waren sie eher nussbraun, trüb und schmerzerfüllt. Ich konnte es nicht ertragen. Am liebsten hätte ich Lena in die Arme genommen und weggetragen.

Wenn du willst, hole ich den Volvo, und wir fahren die Küste entlang bis nach Savannah. Wir können bei meiner Tante Caroline untertauchen.

Ich ging auf sie zu. Ihre Familie hatte sich mittlerweile um den Sarg geschart. Wenn ich zu ihr wollte, musste ich an den Inkubi vorbei, aber das war mir egal.

Ethan, bleib stehen. Du bist hier nicht sicher

Ein großer Inkubus, über dessen Gesicht sich eine Narbe zog, als hätte ihn ein wildes Tier angegriffen, wandte sich um und sah mich an. Die Luft zwischen uns kräuselte sich wie Wasser, in das man einen Stein geworfen hat. Sein Blick traf mich mit voller Wucht und nahm mir den Atem, als hätte er mir einen Schlag versetzt. Ich konnte ihm nicht einmal ausweichen, denn ich war wie gelähmt – Arme und Beine gehorchten mir nicht mehr.

Ethan!

Amma kniff die Augen zusammen, aber noch ehe sie einen Schritt tun konnte, hatte die Sukkubus-Frau die Hand auf die Schulter des Narbengesichtigen gelegt und sie beinahe unmerklich gedrückt. Sofort löste sich der Bann und das Blut strömte wieder durch meine Glieder. Amma nickte dankbar, aber die Frau mit den langen Haaren und dem noch längeren Mantel achtete nicht auf sie und trat wieder zurück in die Reihe der anderen.

Der Inkubus mit dem entstellten Gesicht zwinkerte mir spöttisch zu, und ich begriff sofort, was er mir damit sagen wollte: Wir sehen uns in deinen Träumen wieder.

Ich hielt immer noch den Atem an, als der weißhaarige Mann neben Lena an den Sarg trat. Er trug einen altmodischen Anzug mit einem schmalen Schlips. Seine dunklen Augen bildeten einen auffälligen Kontrast zu seinen Haaren, was ihn wie eine zwielichtige Gestalt aus einem alten Schwarz-Weiß-Film aussehen ließ.

»Der Toten-Caster«, flüsterte Amma.

Ich fand, er sah eher aus wie ein Leichenbestatter.

Er berührte das polierte schwarze Holz und ein an der Stirnseite des Sargs eingraviertes Wappen begann zu leuchten. Es war eines jener Wappen, wie man sie in Museen oder alten Schlössern findet. Es bestand aus einem weit ausladenden Baum mit dichtem Geäst, in dem ein Vogel saß. Darunter waren eine Sonne und eine Mondsichel abgebildet.

»Macon Ravenwood aus dem Hause Ravenwood. Rabe und Eiche, Luft und Erde, Dunkel und Licht.« Der Mann zog die Hand weg und das Licht folgte seiner Bewegung; der Sarg war wieder tiefschwarz.

»Ist das etwa Macon?«, fragte ich Amma leise.

»Das Licht ist nur symbolisch. Der Sarg ist leer. Es war nichts mehr von ihm übrig, was man hätte begraben können. So geht es allen von Macons Art – Asche zu Asche und Staub zu Staub. So wie bei unsereins auch, nur eben viel schneller.«

Der Toten-Caster erhob die Stimme. »Wer übergibt diese Seele der Anderwelt?«

Lenas Familie trat vor. »Wir«, antworteten alle wie aus einem Mund. Alle außer Lena. Sie stand nur da und starrte zu Boden.

»Wir ebenso.« Die Inkubi traten näher an den Sarg.

»Dann möge er in die andere Welt übergehen. Redi in pace ad Ignem Atrum ex quo venisti.« Der Toten-Caster hielt das Licht hoch und es leuchtete heller. »Kehre in Frieden zurück in das Dunkle Feuer, aus dem du gekommen bist.« Er schleuderte das Licht in die Luft. Funken stoben auf den Sarg und versengten das Holz. Wie auf ein Stichwort hin warfen Lenas Verwandte und die Inkubi kleine silberne Gegenstände hoch, die nicht größer waren als eine Münze und die inmitten der goldenen Funken auf Macons Sarg hinabregneten. Der Himmel veränderte langsam seine Farbe, die Schwärze der Nacht wurde abgelöst vom Blau des sich ankündigenden Sonnenaufgangs. Ich versuchte, die kleinen Gegenstände genauer zu erkennen, aber es war noch zu dunkel.

»His dictis solutus est. Und damit ist er frei.«

Ein blendend weißes Licht drang aus dem Sarg. Obwohl der Toten-Caster nur ein paar Schritte entfernt stand, verschwamm er in dem gleißenden Schein. Seine Stimme schien uns in die Ferne zu tragen, sodass wir nicht länger an einem Grab in Gatlin standen.

Onkel Macon! Nein!

Das Licht zuckte auf wie ein Blitz, ehe es erlosch. Wir standen wieder im Kreis und blickten auf einen Hügel aus Erde und Blumen. Das Begräbnis war vorüber. Der Sarg war verschwunden. Tante Del legte den Arm schützend um Reece und Ryan.

Macon war nicht mehr unter uns.

Lena fiel in dem schlammigen Gras auf die Knie. Das Tor von Macons Grabstätte fiel krachend zu, ohne dass jemand es auch nur berührt hätte. Lena war noch nicht so weit und bis dahin würde niemand die Grabstätte verlassen.

Lena?

Mit einem Mal begann es wieder zu regnen. Wie immer gehorchte ihr das Wetter, ihr, der Naturgeborenen, ausgestattet mit den machtvollsten Gaben in der Welt der Caster.

Lena erhob sich.

Lena! Damit wirst du auch nichts ändern!

Plötzlich flogen Hunderte weißer Nelken, Plastikblumen, Palmwedel und Fähnchen durch die Luft, die die Friedhofsbesucher in den vergangenen Wochen auf den Gräbern niedergelegt hatten, alles flirrte durcheinander und wirbelte den Hügel hinunter. Und noch in fünfzig Jahren würde man in Gatlin von dem Tag sprechen, an dem der Wind fast alle Magnolien im Garten des Immerwährenden Friedens entwurzelt hatte.

Der Windstoß kam schnell und mit solcher Wucht, er war wie ein Schlag ins Gesicht. Er blies so stark, dass wir ins Taumeln gerieten und uns kaum auf den Beinen halten konnten. Nur Lena stand aufrecht und hielt sich am Grabstein fest. Der strenge Haarknoten hatte sich gelöst, einige Strähnen wehten im Wind. Sie war nicht mehr düster und matt. Im Gegenteil – sie war der Lichtpunkt inmitten des Sturms. Der goldgelbe Blitz, der den Himmel zerriss, schien direkt aus ihr zu entspringen. Boo Radley, Macons Hund, der zu Lenas Füßen hockte, winselte und legte die Ohren an.

Das hätte er nicht gewollt, L.

Lena schlug die Hände vors Gesicht. Eine Bö riss den Baldachin aus seiner Verankerung in dem nassen Boden und trieb ihn den Hügel hinab.

Gramma trat vor Lena hin, schloss die Augen und legte ihrer Enkeltochter einen Finger auf die Wange. Im Augenblick der Berührung endete der Sturm. Gramma, die Empathin, hatte Lenas Kräfte für eine Zeit lang zu ihren eigenen gemacht. Aber gegen Lenas Wut war auch sie machtlos. Keiner von uns konnte sich Lena entgegenstellen.

Der Wind legte sich und der Regen ging in ein leichtes Nieseln über. Gramma nahm ihren Finger von Lenas Wange und öffnete die Augen.

Der Sukkubus, der jetzt ziemlich zerzaust aussah, starrte zum Himmel hinauf. »Die Sonne geht bald auf.«

Es stimmte. Die Sonne trat soeben ihren Weg durch die Wolken und über den Horizont an, sie sandte die ersten Fünkchen von Licht und Leben über die verwitterten Grabsteine.

Mehr musste die Frau nicht sagen. Ein saugendes Geräusch war zu hören. Ihre Gefährten entmaterialisierten sich, und das hörte sich an, als ob sie die Luft zerfetzten, bevor sie sich dann in Nichts auflösten.

Ich wollte auf Lena zugehen, aber Amma hielt mich zurück.

»Was ist?«, fragte ich ungeduldig. »Sie sind doch weg.«

»Nicht alle. Sieh doch …«

Sie hatte recht. Am Rand der Grabstätte stand noch einer, er hatte sich an einen verwitterten Stein gelehnt, den ein trauernder Engel schmückte. Er schien etwas älter zu sein als ich, vielleicht neunzehn, hatte kurze schwarze Haare und war so bleich wie alle anderen seiner Art. Aber im Gegensatz zu ihnen war er nicht vor Sonnenaufgang verschwunden. Während ich ihn misstrauisch musterte, trat er aus dem Schatten des Steins direkt in das helle Morgenlicht. Mit geschlossenen Augen hielt er das Gesicht der Sonne entgegen, als scheine sie nur für ihn.

Amma musste sich irren. Er konnte unmöglich zu den anderen gehören. Er badete geradezu im Sonnenschein – undenkbar für einen Inkubus.

Aber was war er dann? Was tat er hier?

Er kam näher und sah mich an, als hätte er genau gespürt, dass ich ihn beobachtete. Jetzt fielen mir seine Augen auf. Er hatte nicht die schwarzen Augen eines Inkubus.

Seine Augen waren grün wie die eines Casters.

Er blieb vor Lena stehen, steckte die Hände in die Taschen und nickte ihr leicht zu. Es war keine Verbeugung, eher eine ungeschickte Ehrbezeugung, die dadurch umso glaubwürdiger wirkte. Er hatte den unsichtbaren Mittelgang überquert und mit dieser Geste wahrhaft südstaatlicher Noblesse hätte er auch Macon Ravenwoods Sohn höchstpersönlich sein können. Und deswegen hasste ich ihn.

»Mein Beileid.«

Er öffnete Lenas Hand und legte einen kleinen silbernen Gegenstand hinein. Es war eines der Dinger, die alle auf Macons Sarg geworfen hatten. Lenas Finger schlossen sich sofort darum. Dann war das unverkennbare reißende Zischen zu hören und schon war der Fremde verschwunden.

Ethan?

Ich spürte, wie Lena unter der Last der Geschehnisse dieses Morgens zu schwanken begann. Der Verlust ihres Onkels, der Sturm, das Aufreißen des Himmels, das alles war zu viel für sie. Als ich zu ihr lief, um sie zu stützen, war sie schon fast nicht mehr bei Bewusstsein. Ich trug sie den Hügel hinab, weg von Macon, weg vom Friedhof.

Zu Hause rollte sie sich in meinem Bett zusammen und schlief fast einen ganzen Tag und eine ganze Nacht. In ihrem Haar hatten sich ein paar Zweige verfangen, und ihr Gesicht war immer noch schmutzig, aber sie war nicht imstande, zurück nach Ravenwood zu gehen, und niemand zwang sie dazu. Ich hatte ihr mein ältestes und flauschigstes Sweatshirt gegeben und sie mit unserer wärmsten Patchworkdecke zugedeckt, aber sie fror trotzdem, sie zitterte sogar im Schlaf. Boo lag zu ihren Füßen und hin und wieder steckte Amma den Kopf zur Tür herein. Ich saß auf dem Stuhl am Fenster, auf dem ich sonst niemals saß, und starrte in den Himmel. Aufmachen konnte ich das Fenster nicht, denn es war immer noch Sturm im Anzug.

Im Schlaf öffnete Lena die Hand. Darin lag ein winziger silberner Vogel, ein Sperling. Das Geschenk des Fremden an Macons Grab. Ich wollte es ihr aus der Hand nehmen, aber sofort umschlossen ihre Finger es wieder.

Selbst jetzt, Monate später, konnte ich den Vogel nicht betrachten, ohne das Geräusch des aufreißenden Himmels zu hören.