Tief unten
19.6.
Niemand sprach ein Wort, als wir am Straßenrand zurück zum Park gingen, zu der Stelle, wo der Zugang zu den unterirdischen Tunneln von Savannah lag. Wir kamen überein, nicht zu Tante Caroline zurückzukehren, wo garantiert Tante Del auf uns wartete, um sich uns anzuschließen. Darüber hinaus gab es nicht viel zu sagen. Link versuchte, seine Haare auch ohne Komponentenkleber-Haargel abstehen zu lassen, und Liv blickte ständig auf ihr Selenometer und schrieb ein-, zweimal etwas in ihr rotes Notizheft.
Alles wie immer.
Tatsächlich aber war heute Morgen, in dieser schummrigen Dunkelheit vor Sonnenaufgang, nichts so wie immer. Meine Gedanken rasten und mehr als einmal stolperte ich. Diese Nacht war schlimmer gewesen als der schlimmste Albtraum. Aus einem Albtraum wachte man irgendwann wieder auf. Ich musste gar nicht erst die Augen schließen, um den Traum zu sehen, um Sarafine und das Messer zu sehen – und Lena, die um mich weinte.
Ich war gestorben.
Ich war tot gewesen, wer weiß, wie lange.
Waren es Minuten gewesen? Oder Stunden?
Ohne Lena läge ich jetzt im Garten des Immerwährenden Friedens. In einer Kiste aus Zedernholz in unserem Familiengrab.
Hatte ich etwas gespürt? Hatte ich etwas gesehen? Hatte ich mich verändert? Ich strich über die verhärtete Narbe unter meinem T-Shirt. War die Narbe wirklich meine? Oder war es ein Andenken an etwas, das einem anderen Ethan Wate zugestoßen war, dem Ethan, der nicht mehr zurückkehren konnte?
Alles verschwamm vor meinen Augen, wie in den Träumen, die Lena und ich gemeinsam geträumt hatten, oder wie die beiden Himmel, die Liv mir gezeigt hatte in der Nacht, als der Südstern verschwunden war. Welcher von beiden war der richtige? Hatte ich unbewusst vermutet, was Lena getan hatte? Hatte ich es trotz allem, was zwischen uns beiden geschehen war, geahnt?
Wenn Lena gewusst hätte, welche Konsequenzen ihre Entscheidung haben würde, hätte sie dann eine andere Wahl getroffen?
Ich verdankte ihr mein Leben, aber ich konnte darüber nicht glücklich sein. Stattdessen fühlte ich mich wie zerrissen. Da war die Angst vor dem Nichts, vor dem Alleinsein. Mich quälten der Verlust meiner Mutter, der Verlust Macons und in gewisser Weise auch der Verlust Lenas.
Und noch etwas machte mir zu schaffen: die lähmende Trauer und das entsetzliche Schuldgefühl desjenigen, der überlebt hat.
Am frühen Morgen war der Forsyth-Park gespenstisch. Bisher hatte ich ihn immer nur von Menschen bevölkert gesehen. Ohne sie fand ich beinahe den Tunnel-Eingang nicht mehr. Keine Bimmelbahnen ratterten, keine Touristen flanierten über die Wege. Keine Schoßhündchen kläfften, keine Gärtner stutzten die Azaleen. Ich dachte an all die lebendigen, atmenden Menschen, die auch heute wieder durch den Park spazieren würden.
»Du hast es übersehen.« Liv zupfte mich am Ärmel.
»Was?«
»Das Tor. Du bist schon zu weit gegangen.«
Sie hatte recht. Wir waren an dem Torbogen vorbeigelaufen, ohne dass er mir aufgefallen wäre. Fast hatte ich vergessen, wie raffiniert es in der Caster-Welt zuging. Alles lag offen vor Augen und war dennoch verborgen. Man stieß nicht auf das Äußere Tor im Park, es sei denn, man suchte es; und der Torbogen warf zu jeder Stunde einen Schatten darauf, wahrscheinlich ein Zauberbann ganz eigener Art. Link machte sich entschlossen an die Arbeit und stemmte die Gartenschere in den Spalt zwischen Rahmen und Tür, woraufhin sie sich mit einem Quietschen öffnete. Die dunkle Nische dahinter erschien in der sommerlichen Morgendämmerung noch düsterer.
»Nicht zu fassen, dass es tatsächlich funktioniert«, sagte ich kopfschüttelnd.
»Seit wir aus Gatlin weggegangen sind, denke ich darüber nach«, sagte Liv. »Und ich finde, es ist nur logisch.«
»Was soll daran logisch sein, mit einer lächerlichen Gartenschere ein Caster-Tor zu öffnen?«
»Das ist das Schöne an der Ordnung der Dinge. Ich habe dir doch gesagt, es gibt die magische Welt und die materielle Welt.« Liv sah nach oben.
Ich folgte ihrem Blick. »Wie es auch die beiden Himmel gibt.«
»Ganz genau. Der eine ist so wirklich wie der andere. Sie existieren nebeneinander.«
»Also kann man auch mit einer verrosteten Metallschere einem magischen Portal beikommen?« Ich wusste selbst nicht, wieso es mich überraschte.
»Nicht immer. Aber da wo die zwei Welten aufeinandertreffen, ist auch so etwas wie eine Naht.« Zumindest für Liv schien es völlig klar zu sein.
Ich nickte.
»Ich frage mich, ob etwas Starkes in der einen Welt etwas Schwachem in der anderen Welt entspricht«, murmelte sie vor sich hin und sprach sowohl mit mir wie mit sich selbst.
»Du meinst, Link kann die Tür nur deshalb so leicht öffnen, weil es für einen Caster unmöglich ist?« Link hatte tatsächlich verdächtig wenig Mühe mit der Tür gehabt. Aber Liv konnte ja auch nicht wissen, dass er mindestens seit der sechsten Klasse Übung im Schlösserknacken hatte.
»Vielleicht. Das beste Beispiel dafür wäre das Bogenlicht.«
»Quatsch, die Erklärung ist ganz einfach. Ich kriege alle Caster-Tore auf, weil ich ein toller Hecht bin«, prahlte Link.
»Oder die Caster, die diese Tunnel vor Hunderten von Jahren gebaut haben, dachten einfach noch nicht an Gartenscheren«, erwiderte ich.
»Klar, weil sie sich einen so obertollen Typen wie mich in keiner der Welten vorstellen konnten.« Link steckte die Schere in seinen Gürtel zurück. »Ladys first.«
Liv stieg in den Tunnel. »Warum wusste ich bloß, dass du das sagen würdest?«
In dem Tunnel regte sich nicht das Geringste. Nichts war zu hören, nicht einmal das Echo unserer Schritte. Die Stille senkte sich dicht und schwer auf uns herab. Der Luft unterhalb der Welt der Sterblichen fehlte das Leichte der Luft in dieser Welt.
Am Ende der Treppe angekommen, standen wir wieder auf dem dunklen Weg, der uns nach Savannah geführt hatte: die abweisende, düstere Straße, die sich in den lichtdurchfluteten Wiesenpfad gabelte. Alles war wie zuvor, lediglich die alte Neonreklame des Motels blinkte. Das war das Einzige, was sich verändert hatte.
Das und Lucille, die unter dem Schild zusammengerollt lag und auf deren Fell der flackernde Lichtschein fiel. Sie gähnte, als sie uns sah, und richtete sich langsam auf, eine Pfote nach der anderen.
»Langsam wirst du zur echten Plage, Lucille.« Link ging in die Hocke und kraulte sie hinter den Ohren. Lucille miaute oder knurrte, je nachdem, wie man es betrachtete. »Also gut, ich verzeih dir.« Link hatte ein Talent, alles als Kompliment aufzufassen.
»Und was jetzt?« Ich ging zur Straßengabelung.
Link richtete sich auf. »Du meinst, Stairway to hell oder Yellow Brick Road? Warum schüttelst du nicht deinen Zauberball und schaust, ob er wieder funktioniert?«
Ich holte das Bogenlicht heraus. Es leuchtete und pulsierte, aber das smaragdgrüne Licht, das uns nach Savannah geführt hatte, war erloschen. Stattdessen schimmerte die Kugel jetzt tiefblau wie ein Satellitenfoto unseres Planeten Erde.
Liv berührte sie und sofort wurde das Bogenlicht noch dunkler. »Das Blau ist viel kräftiger als das Grün. Ich finde, es wird sogar noch intensiver.«
»Hey, vielleicht nehmen deine Superkräfte zu.« Link stieß mich kumpelhaft gegen die Schulter und ich hätte beinahe das Bogenlicht fallen lassen.
»Und da wunderst du dich, wieso das Ding nicht mehr funktioniert?« Ärgerlich brachte ich das Bogenlicht aus Links Reichweite.
Link knuffte mich noch einmal. »Versuch doch mal, meine Gedanken zu lesen. Oder warte, versuch mal zu fliegen.«
»Hör auf mit dem Unsinn«, fauchte Liv. »Du hast doch gehört, was Ethans Mutter gesagt hat. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Ob das Bogenlicht nun funktioniert oder nicht, wir müssen weiter.«
Link wurde schlagartig ernst. Das, was wir auf dem Friedhof gesehen hatten, bedrückte uns alle, und allmählich machte sich die Anspannung bemerkbar.
»Hört doch mal …« Ich ging zu einer Stelle, wo der Weg zwischen hohem Gras verlief. Hier konnte man tatsächlich Vögel zwitschern hören. Ich hob das Bogenlicht in die Höhe und hielt unwillkürlich den Atem an. Es wäre mir egal gewesen, wenn es aufgehört hätte zu leuchten und uns wieder auf die finstere Straße geschickt hätte, wo sich verrostete Feuerleitern an düsteren Mauerwänden reihten und wo man eine Tür nicht von der anderen unterscheiden konnte. Es wäre mir egal gewesen, solange es uns irgendeine Antwort gegeben hätte.
Aber es gab uns keine.
»Versuch’s mal in die andere Richtung«, schlug Liv vor, die das Bogenlicht keine Sekunde aus den Augen ließ.
Ich ging zurück, aber alles blieb, wie es war.
Kein Bogenlicht, kein Lotse, so einfach war das. Denn eines wusste ich genau: Ohne das Bogenlicht würde ich nicht einmal aus einer Einkaufstasche herausfinden, geschweige denn aus diesem Tunnel-Labyrinth.
»Tja, das wär’s dann wohl. Ich fürchte, jetzt haben wir ein Problem.« Ich verstaute die Kugel in meiner Tasche.
»Na toll.« Ohne ein weiteres Wort schlug Link den sonnenbeschienenen Weg ein.
»Was hast du vor?«
»Nimm’s mir nicht übel, aber solange du keinen Lotsen-Insidertipp hast, werde ich garantiert nicht noch mal da langgehen.« Er warf einen Blick zurück auf die düstere Straße. »Egal was wir tun, es könnte falsch sein, stimmt’s?«
»Schon möglich.«
»Andersrum betrachtet stehen unsere Chancen fifty-fifty, dass wir es schaffen«, überlegte er weiter. Ich unterließ es, seine Statistikkunststücke zu kommentieren. »Ich schlage vor, wir setzen auf Oz und reden uns ein, dass alles gut geht. Was haben wir schon zu verlieren?«
Es war schwierig, gegen Links verquere Argumentation anzukommen, insbesondere wenn er versuchte, logisch zu sein.
»Oder habt ihr einen besseren Vorschlag?«
Liv schüttelte den Kopf. »Traurig, aber wahr, ich habe keinen.«
Also machten wir uns auf den Weg nach Oz.
Der Tunnel hätte tatsächlich aus einem der alten zerlesenen L.-Frank-Baum-Bücher meiner Mutter stammen können. Weiden neigten ihre Äste über den staubigen Weg und der unterirdische Himmel war offen und endlos und blau.
Die Landschaft lag still vor uns, aber gerade das beunruhigte mich. Ich hatte mich an die Schatten gewöhnt. Die Idylle war trügerisch. Ich rechnete jeden Augenblick damit, dass von den fernen Hügeln ein Vex herabkam.
Oder dass mir ganz unerwartet ein Haus auf den Kopf fallen würde.
Nie hätte ich mir vorstellen können, dass mein Leben eine so merkwürdige Wendung nehmen könnte. Was tat ich eigentlich hier? Wohin war ich unterwegs? Wer war ich denn, dass ich mich auf einen Kampf mit unbekannten Mächten einließ – unterstützt von einer streunenden Katze, einem grottenschlechten Drummer, einer Gartenschere und einem Ovomaltine trinkenden Nachwuchs-Galilei?
Und das alles nur, um ein Mädchen zu retten, das gar nicht gerettet werden wollte.
»Warte doch, dumme Katze!« Link rannte hinter Lucille her, die mittlerweile unsere Führerin war. Mal nach rechts, mal nach links trottend, lief sie vor uns her. So absurd es klingt, aber sie schien genau zu wissen, wo es langging. Im Gegensatz zu ihr hatte ich nicht die leiseste Ahnung.
Zwei Stunden später stand die Sonne immer noch am Himmel und mein mulmiges Gefühl hatte sich verstärkt. Liv und Link gingen vor mir her. Das war Livs Art, mir oder wenigstens der Situation, in der wir uns befanden, aus dem Weg zu gehen. Ich konnte es ihr nicht verübeln. Sie hatte meine Mutter gesehen und alles gehört, was Amma gesagt hatte. Sie wusste jetzt, was Lena für mich getan hatte und weshalb sie so unberechenbar und launisch war. Vordergründig hatte sich nichts verändert, aber die Umstände, die gestern noch galten, waren heute ganz andere. Zum zweiten Mal in diesem Sommer konnte mir ein Mädchen, das mir nicht gleichgültig war – dem ich nicht gleichgültig war –, nicht mehr in die Augen sehen.
Stattdessen schlug Liv ihre Zeit damit tot, Link britische Kraftausdrücke beizubringen und so zu tun, als lachte sie über seine Witze.
»Dein Zimmer ist grotty, dein Auto ist skanky, vielleicht sogar manky«, scherzte sie. »Man könnte auch sagen schmuddelig, dreckig und versifft.« Sie lächelte, aber ich konnte sehen, dass sie in Gedanken ganz woanders war.
»Woher willst du das wissen?«, protestierte Link.
»Ich muss dich nur anschauen«, erwiderte Liv geistesabwesend. Link aufzuziehen, war keine echte Herausforderung für sie.
»Und was ist mit mir?« Link fuhr sich mit der Hand durch die Haare, damit sie auch ja richtig abstanden.
»Mal sehen. Du bist ein git oder ein prat.« Wieder rang sich Liv ein Lächeln ab.
»Und das sind richtig gute Schimpfwörter?«
»Klar. Die besten.«
Der gute alte Link. Mit seinem berüchtigten charmefreien Charme konnte er jede noch so verfahrene Situation retten.
»Habt ihr das gehört?« Liv war unvermittelt stehen geblieben.
Wenn ich in letzter Zeit ein Lied hörte, dann war ich meistens der Einzige, und dann war es Lenas Lied. Aber diesmal hörten es auch die anderen und es hatte absolut nichts von dem hypnotischen Klang von Seventeen Moons. Es klang schlimm, wie das Heulen eines waidwunden Tiers. Lucille standen die Haare zu Berge und sie miaute laut.
Link sah sich um. »Was ist das?«
»Ich weiß es nicht. Es klingt beinahe wie …« Ich hielt inne und lauschte.
»Wie jemand, der in Schwierigkeiten steckt.« Liv versuchte, genauer hinzuhören.
»Ich wollte eigentlich sagen, wie Leaning on the Everlasting Arms.« Das war ein altes Kirchenlied, das die Schwestern im Gottesdienst sangen.
Wie sich herausstellte, lag ich gar nicht so falsch damit.
Als wir um die Ecke bogen, kam Tante Prue auf uns zu, sie hatte sich bei Thelma untergehakt und trällerte wie sonntags in der Kirche. Sie trug ihr weißes geblümtes Kleid, dazu passende weiße Handschuhe und ihre beigen Gesundheitsschuhe. Harlon James tollte hinter ihnen her, er war beinahe so groß wie ihre Lacklederhandtasche. Man hätte meinen können, die drei wären auf einem gemütlichen Sonntagnachmittagsspaziergang.
Lucille miaute und setzte sich mitten auf den Weg.
»Leute, sehe ich jetzt Gespenster, oder was?« Link kratzte sich am Kopf. »Ist das nicht deine verrückte Tante mit ihrer räudigen Töle?«
Ich antwortete ihm nicht sofort, denn ich überlegte, ob es nicht womöglich eine Caster-Falle war. Ob nicht vielleicht Sarafine gleich aus der Gestalt meiner Tante heraustreten und uns alle drei umbringen würde, sobald wir näher kämen.
»Vielleicht ist es Sarafine.« Ich dachte laut vor mich hin und versuchte, einen Sinn in etwas völlig Unsinnigem zu finden.
Liv schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Kataklysten können zwar von den Körpern anderer Besitz ergreifen, aber sie können nicht gleichzeitig zwei Körper okkupieren. Oder drei, wenn du den Hund mitrechnest.«
»Wer rechnet schon diesen Hund mit?« Link verzog das Gesicht.
Am liebsten hätte ich mich aus dem Staub gemacht und mir später den Kopf darüber zerbrochen, aber sie hatten uns bereits gesehen. Tante Prue, oder das Wesen, das sich ihrer bemächtigt hatte, wedelte mit ihrem Taschentuch. »Ethan!«
Link sah mich fragend an. »Wollen wir abhauen?«
»Dich zu finden, war schwerer, als eine Nadel im Heuhaufen zu entdecken!«, rief Tante Prue und schlurfte über das Gras, so schnell sie ihre alten Beine trugen. Lucille miaute und hob den Kopf. »Los, Thelma, beeil dich.« Sogar aus der Ferne waren Tante Prues schiefer Gang und ihr Kommandoton unverwechselbar.
»Nein, das ist tatsächlich Tante Prue.« Für eine Flucht war es zu spät.
»Wie ist sie hierhergekommen?« Link war ebenso verdutzt wie ich. Es ist eine Sache, wenn man herausfindet, dass Carlton Eaton die Post in die Lunae Libri bringt, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, aber es ist etwas anderes, wenn man seine hundertjährige Tante in ihrem Sonntagsstaat durch einen Caster-Tunnel humpeln sieht.
Tante Prue stieß energisch bei jedem Schritt ihren Krückstock ins Gras. »Wesley Lincoln! Willst du herumstehen wie ein Ölgötze und warten, bis eine alte Frau einen Herzanfall bekommt, oder willst du herkommen und mir diesen Hügel hinaufhelfen?«
»Ja, Ma’am. Ich wollte sagen, nein, Ma’am.« Link wäre fast der Länge nach hingefallen, als er zu ihr rannte und sie unterhakte. Ich folgte ihm und nahm ihren anderen Arm.
Unser Schrecken, hier auf sie zu treffen, legte sich ein wenig. »Tante Prue, wie bist du hierhergekommen?«
»Genauso wie ihr, nehme ich an. Durch eines der Tore. Gleich hinter der Kirche der Missions-Baptisten ist eines. In meiner Jugend habe ich mich auf diesem Weg immer aus dem Bibelunterricht davongestohlen.«
»Aber woher wusstest du von den Tunneln?« Ich konnte es mir nicht erklären. War sie uns etwa gefolgt?
»Ich war öfter hier unten, als je ein armer Sünder dem Alkohol abgeschworen hat. Ihr glaubt wohl, ihr seid die Einzigen, die wissen, was in dieser Stadt vor sich geht?«
Sie wusste Bescheid. Sie war eine von ihnen. Wie meine Mutter und Marian und Carlton Eaton gehörte sie zu den Sterblichen, die irgendwie Teil der Caster-Welt geworden waren.
»Sind Tante Grace und Tante Mercy auch eingeweiht?«
»Natürlich nicht. Die beiden können doch kein Geheimnis für sich behalten, noch nicht mal wenn es um ihr eigenes Leben ginge. Mir hat es mein Daddy gesagt. Und ich habe es niemandem weitergesagt außer Thelma.«
Thelma drückte liebevoll Tante Prues Arm. »Ja, aber nur, weil sie nicht mehr alleine die Treppen runtersteigen kann.«
Tante Prue schlug mit ihrem Taschentuch nach Thelma. »Thelma, das stimmt doch gar nicht. Erzähl keine Geschichten.«
»Hat Professor Ashcroft Sie hinter uns hergeschickt?« Liv blickte angespannt von ihrem Notizbuch hoch.
Tante Prue schnaubte verächtlich. »Niemand schickt mich irgendwohin, so weit kommt’s noch. Ich bin zu alt, als dass ich mich irgendwohin schicken ließe. Ich bin aus freien Stücken hier.« Sie zeigte auf mich. »Du kannst nur hoffen, dass Amma nicht auf die Idee kommt, dich zu suchen. Seit du verschwunden bist, sitzt sie wie auf Kohlen.«
Wenn Tante Prue wüsste, dass Amma schon längst da gewesen war.
»Was machst du hier unten, Tante Prue?« Selbst wenn sie über die Tunnel Bescheid wusste, das unterirdische Labyrinth war nicht gerade der sicherste Ort für eine alte Dame.
»Ich wollte dir etwas bringen.« Tante Prue öffnete ihre Handtasche und hielt sie so, dass wir hineinsehen konnten. Unter ihrem Nähzeug und den Gutscheinen und der Taschenausgabe der King-James-Bibel lag ein dickes, aber ordentlich gefaltetes Bündel vergilbter Papiere. »Na los, nimm sie.« Tante Prue hätte mich genauso gut auffordern können, mich mit der Nähschere zu erstechen. Nie im Leben würde ich einfach so in die Handtasche einer Lady greifen. Einen größeren Verstoß gegen die guten Sitten gab es im ganzen Süden nicht.
Liv schien das Problem verstanden zu haben. »Darf ich?« Wahrscheinlich stöberten britische Männer auch nicht in Damenhandtaschen.
»Wozu habe ich sie sonst mitgebracht?«
Liv zog das Bündel Papiere aus Tante Prues Tasche und breitete sie vorsichtig auf dem weichen Grasboden aus. »Ist es das, wofür ich es halte?«
Neugierig beugte ich mich vor und warf einen Blick auf die Papiere. Sie sahen aus wie Aufrisszeichnungen oder Baupläne, die in verschiedenen Farben und von verschiedenen Händen angefertigt worden waren. Sie waren peinlich sauber auf von Hand kariertes Papier gezeichnet, alle Zeilen waren im gleichen Abstand zueinander und schnurgerade. Mir fielen die vielen Linien auf, die sich überschnitten.
»Kommt darauf an, wofür du es hältst.«
Livs Hände zitterten. »Das ist eine Karte des Tunnel-Labyrinths.« Sie sah Tante Prue an. »Darf ich fragen, woher Sie die haben, Ma’am? So etwas habe ich noch nie gesehen, nicht einmal in der Lunae Libri.«
Tante Prue zog ein rot-weiß gestreiftes Pfefferminzbonbon aus ihrer Tasche. »Ich hab sie von meinem Daddy und der hat sie von meinem Großvater. Sie ist uralt.«
Ich war sprachlos. Lena hatte angenommen, ohne sie würde mein Leben normal verlaufen – was für ein Irrtum. Fluch hin oder her, so wie es aussah, hatten meine Vorfahren schon immer jede Menge mit Castern zu tun gehabt.
Und zum Glück auch mit ihren Tunneln.
»Die Tunnel-Karte ist natürlich noch lange nicht fertig. Früher bin ich mal eine recht gute Zeichnerin gewesen, aber dann hat mir eine üble Schleimbeutelentzündung einen Strich durch die Rechnung gemacht.«
»Ich wollte ihr helfen, aber ich kann das nicht so gut wie deine Tante«, sagte Thelma entschuldigend. Tante Prue wedelte wieder mit ihrem Taschentuch.
»Du hast das gezeichnet, Tante Prue?«
»Einen Teil davon.« Tante Prue stieß ihren Stock auf den Boden und reckte sich stolz.
Staunend betrachtete Liv die Zeichnungen. »Wie haben Sie das gemacht? Die Tunnel sind endlos.«
»Nach und nach und Stück für Stück. Auf dieser Karte sind nicht sämtliche Tunnel verzeichnet, in erster Linie die von Carolina und ein paar aus Georgia. Weiter sind wir nicht gekommen.«
Es war unglaublich. Meine tattrige Tante sollte es geschafft haben, die Caster-Tunnel zu kartografieren?
»Wie hast du das angestellt, ohne dass Tante Grace und Tante Mercy es mitgekriegt haben?« Seit ich denken konnte, hockten die drei so eng aufeinander, dass sie sich gegenseitig den Platz streitig machten.
»Wir haben nicht immer zusammengewohnt, Ethan.« Tante Prue senkte die Stimme, als fürchtete sie, Tante Mercy und Tante Grace könnten lauschen. »Und genau genommen spiele ich am Donnerstag auch nicht Bridge.«
Ich versuchte, mir Tante Prue vorzustellen, wie sie die Caster-Tunnel zeichnete, während die anderen alten Damen der TAR im Gemeindesaal der Kirche Karten spielten.
»Nimm sie. Ich schätze, du wirst sie noch brauchen, wenn du vorhast, hier unten zu bleiben. Nach einer Weile wird es sehr verwirrend. Manchmal wusste ich selbst nicht mehr, wo ich eigentlich war, und ich hatte große Mühe, nach South Carolina zurückzufinden.«
»Danke, Tante Prue. Aber …« Ich stockte. Wie um alles in der Welt sollte ich es ihr erklären – das Bogenlicht und die Visionen, Lena und John Breed, die Weltenschranke und der Mond, der zur Unzeit gekommen war, der verschwundene Stern und die verrückten Zeiger, die sich an Livs Handgelenk drehten, ganz zu schweigen von Sarafine und Abraham. Das war zu kompliziert für eine der ältesten Damen in ganz Gatlin.
Tante Prue machte jede Erklärung überflüssig, indem sie mir mit dem Taschentuch vor dem Gesicht herumwedelte und sagte: »Euch wird es ergehen wie einem Schwein vor dem Grill. Wenn ihr nicht als Spießbraten mit Brötchen und scharfer Soße enden wollt, dann hört mal genau zu.«
»Jawohl, Ma’am.« Ich glaubte zu wissen, was für eine Standpauke jetzt kam. Aber ich lag so daneben wie Savannah Snow in einem ärmellosen Kleid und mit Kaugummi im Jugendchor.
»Also, sperrt eure Ohren auf.« Tante Prue deutete mit ihrem knochigen Finger auf mich. »Carlton wollte mich aushorchen, ob ich etwas davon wüsste, dass jemand das Caster-Tor beim Jahrmarkt aufgebrochen hat. Kurz darauf hieß es, das Duchannes-Mädchen sei verschwunden. Außerdem war die Rede davon, dass du und Wesley ausgerissen seid und dass auch das Mädchen, das bei Marian wohnt, unauffindbar sei – du weißt schon, das junge Ding, das sich Milch in den Tee gießt. Da dachte ich bei mir, das sind zu viele Zufälle auf einmal, selbst für eine Stadt wie Gatlin.«
Was für eine Überraschung, Plaudertasche Carlton hatte es überall herumerzählt.
»Egal was ihr hier unten treibt, ihr braucht die Karte, also nehmt sie mit. Ich habe keine Zeit für diesen ganzen Firlefanz.« Meine Vermutung war richtig gewesen. Sie wusste, was wir vorhatten, auch wenn sie es nicht offen zugab.
»Danke, Tante Prue, dass du dir so viele Sorgen um uns machst.«
»Ich mache mir keine Sorgen. Nicht solange ihr die Karte habt.« Sie tätschelte meine Hand. »Ihr werdet diese Lena Du-channes«, sie sprach den Namen südstaatengedehnt aus, »mit den goldenen Augen bestimmt finden. Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn.«
»Das hoffe ich, Ma’am.«
Tante Prue tätschelte noch einmal meine Hand und stützte sich auf ihren Stock. »Dann hört endlich auf, eure Zeit mit alten Frauen zu vertrödeln. Frisch gewagt ist halb gewonnen. Und wenn der liebe Gott es will, dann wird alles gut.« Mit diesen letzten aufmunternden Worten ließ sie sich von Thelma wegführen.
Lucille rannte hinter ihnen her, das Glöckchen an ihrem Halsband bimmelte. Tante Prue blieb stehen und lächelte. »Du hast ja die Katze immer noch. Ich habe lange auf die richtige Zeit gewartet, sie von der Wäscheleine zu lassen. Sie kennt das eine oder andere Kunststückchen, du wirst schon sehen. Hast du ihre Marke noch?«
»Ja, Ma’am.«
»Man braucht einen Metallring, um sie am Halsband zu befestigen. Ich kümmere mich darum, dass du einen neuen kriegst.« Tante Prue wickelte noch ein Pfefferminzbonbon aus und warf es Lucille hin. »Tut mir leid, dass ich dich Deserteur genannt habe, altes Mädchen, aber du weißt ja, Mercy hätte dich sonst niemals laufen lassen.«
Lucille schnüffelte an dem Bonbon.
Thelma winkte und setzte ihr breites Dolly-Parton-Lächeln auf. »Viel Glück, mein süßer Bengel.«
Ich sah ihnen nach, wie sie den Hügel hinuntergingen, und fragte mich, was mir von den Menschen in meiner Familie noch alles verborgen geblieben war. Wer von ihnen außer Tante Prue tat ebenfalls so, als sei er senil und beschränkt, ließ mich aber insgeheim keinen Moment lang aus den Augen? Wer noch kümmerte sich in seiner Freizeit um Caster-Schriften und Geheimnisse oder zeichnete Karten einer Welt, von der die meisten Menschen in Gatlin nichts ahnten?
Lucille leckte an dem Pfefferminzbonbon. Falls sie etwas wusste, dann zog sie es vor, zu schweigen.
»Gut, jetzt haben wir also eine Karte. Das ist doch wenigstens was, oder nicht, MJ?« Nachdem Tante Prue und Thelma gegangen waren, hatte sich Links Stimmung deutlich gebessert.
»Liv?«
Sie hörte mich nicht. Mit der einen Hand blätterte sie in ihrem Notizbuch, mit der anderen Hand fuhr sie die Tunnel auf der Karte nach.
»Hier ist Charleston, dann ist das hier Savannah. Wenn man davon ausgeht, dass das Bogenlicht uns den Weg nach Süden zeigen wollte, zur Küste hin …«
»Wieso zur Küste?«, unterbrach ich sie.
»Richtung Süden. Wir folgen dem Südstern, weißt du nicht mehr?« Liv lehnte sich enttäuscht zurück. »Es gibt so viele verästelte Wege. Wir sind erst vor wenigen Stunden aus Savannah weggegangen, aber das hat hier unten wahrscheinlich gar nichts zu bedeuten.«
Sie hatte recht. Wenn Zeit und Naturgesetze oben und unten verschieden waren, wer weiß, ob wir dann nicht vielleicht schon längst in China waren?
»Selbst wenn wir genau wüssten, wo wir sind, könnte es uns Tage kosten, den Ort auf der Karte zu finden. Aber so viel Zeit haben wir nicht.«
»Dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als einfach weiterzugehen.«
Eine innere Stimme sagte mir, dass wir Lena vielleicht trotzdem finden könnten; die Frage war nur, ob uns die Tunnelkarte zu ihr führen würde oder ob ich es ganz allein schaffte.
Im Grunde war es egal, solange wir sie nur rechtzeitig fanden.
Wie hatte Tante Prue gesagt? Wenn der liebe Gott es will, dann wird alles gut.