Quälgeister

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15.6.

Es ist nicht so, wie du denkst.

Was denke ich denn?

Als sie sah, dass ich über die Tanzfläche auf sie zukam, schob sie John von sich weg. Er drehte sich um und fixierte mich, die Augen schwarz und bedrohlich. Dann lächelte er, um mir zu zeigen, dass er sich vor mir nicht fürchtete. Er wusste genau, dass ich ihm körperlich unterlegen war, und da er und Lena zusammen tanzten, betrachtete er mich gar nicht erst als Konkurrenten.

Tja, was dachte ich denn eigentlich?

Ich spürte, dass der nächste Augenblick alles entscheiden würde. Es würde der Moment sein, in dem sich mein Leben ein für alle Mal änderte. Die Zeit schien stillzustehen, obwohl sich alles um mich herum bewegte. Was ich seit Monaten gefürchtet hatte, wurde nun Wirklichkeit. Lena entglitt mir. Und schuld daran waren nicht ihr Geburtstag oder ihre Mutter und Hunting, auch kein Fluch, kein Bann, kein Angriff.

Schuld daran war dieser Typ.

Ethan! Du musst von hier verschwinden.

Ich gehe nirgendwohin.

Ridley stellte sich mir in den Weg, während um uns herum die Paare weitertanzten. »Immer mit der Ruhe, Boyfriend. Ich weiß, dass du Mumm hast, aber was du da vorhast, ist glatter Wahnsinn.« Sie klang besorgt, als läge ihr tatsächlich etwas an mir. Aber es war eine Lüge, so wie alles an ihr eine Lüge war.

»Mach Platz, Ridley.«

»Du hast hier nichts verloren, Streichholz.«

»Tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber deine Lollis wirken bei mir nicht. Weder deine Lollis noch das, was du und dieser John anstellt, damit Lena brav tut, was ihr wollt.«

Sie packte mich am Arm, ihre eiskalten Finger gruben sich in mein Fleisch. Ich hatte vergessen, wie kräftig sie war und wie kalt. Mit halblauter Stimme sagte sie: »Sei nicht dumm. Das hier ist eindeutig eine Nummer zu groß für dich.«

»Du musst es ja wissen.«

Sie packte mich fester. »Das willst du doch nicht wirklich. Du hast hier nichts zu suchen. Geh nach Hause, bevor …«

»Bevor was? Bevor du noch mehr Ärger machst als sonst?« Link stellte sich neben mich. Ihre Blicke trafen sich. Eine Sekunde lang meinte ich, ein Flackern in Ridleys Augen zu erkennen, einen aufblitzenden Funken, so als riefe Links Anblick eine echte Regung in ihr wach. Für eine Sekunde wirkte sie so verletzlich wie ein Mensch. Aber der Augenblick verging so schnell, wie er gekommen war.

Denn Ridley war kurz vor dem Durchdrehen. Ich merkte es daran, wie hastig sie ihren Lolli aus dem Papier wickelte und gleichzeitig auf uns einredete. »Was zum Teufel macht ihr hier? Verschwindet, und zwar alle beide.« Der scherzhafte Ton war verschwunden. »Haut ab!« Sie stieß uns grob weg.

Ich rührte mich nicht von der Stelle. »Ich bleibe, bis ich mit Lena gesprochen habe.«

»Sie will dich aber nicht sehen.«

»Das soll sie mir selbst sagen.«

Sag es mir ins Gesicht, L.

Lena zwängte sich an den Tanzenden vorbei. John Breed blieb zurück, ließ uns jedoch nicht einen Moment lang aus den Augen. Was sie wohl zu ihm gesagt hatte, damit er zurückblieb? Dass sie allein mit mir fertig werden würde? Dass es nichts zu bedeuten habe? Dass Schluss mit uns sei, ich es aber leider nicht verwinden könne, ich, der arme Sterbliche, der im Vergleich zu ihm nichts zu bieten hatte?

Sie hatte jetzt John und der hatte einen entscheidenden Pluspunkt. Er gehörte zu ihrer Welt.

Ehe du es nicht gesagt hast, gehe ich nicht.

Ridley senkte die Stimme und sagte ungewohnt ernst: »Wir haben keine Zeit, hier rumzumachen. Ich weiß ja, dass du durch den Wind bist, aber du kapierst es offenbar nicht. Er wird dich umbringen, und wenn du Pech hast, werden die anderen aus Spaß mitmachen.«

»Wer? Vampirboy?«, mischte Link sich ein. »Mit dem kommen wir schon klar.« Das war glatt gelogen, aber Link war entschlossen, sich notfalls zu prügeln, egal ob nun meinet- oder ihretwegen.

Ridley schüttelte den Kopf und stieß ihn noch weiter zurück. »Werdet ihr nicht, du Idiot. Das hier ist nichts für Pfadfinderjungs. Verschwindet von hier.« Sie wollte Links Wange berühren, aber er packte sie am Handgelenk und hielt sie davon ab. Ridley war wie eine faszinierende Schlange – man durfte sie nicht an sich heranlassen, ohne befürchten zu müssen, dass sie zubiss.

Lena war nur noch ein paar Schritte von uns entfernt.

Wenn du nicht willst, dass ich hierbleibe, dann sag es mir.

Ich hoffte darauf, den Bann, in dem Ridley und John sie hielten, brechen zu können, wenn sie nur nahe genug bei mir war. Doch Lena blieb hinter Ridley stehen. Ihre Miene war undurchdringlich, aber ich sah eine silbrig glänzende Tränenspur.

Sag es, L. Sag es oder komm mit mir.

Lenas Blick ging an mir vorbei zu Liv, die am Rand der Tanzfläche stand.

»Lena, du solltest nicht hier sein. Ich weiß nicht, was Ridley und John mit dir gemacht haben …«

»Niemand hat irgendetwas mit mir gemacht. Nicht ich bin es, die sich in Gefahr begeben hat. Ich bin keine Sterbliche.« Lena sah noch immer zu Liv.

So wie sie.

Lenas Gesicht verdüsterte sich, und ihre widerspenstigen Locken fingen an, sich zu kräuseln.

»Aber du bist auch nicht wie Ridley und John, L.«

Die Lichter in der Bar begannen zu flackern und die Glühbirnen über der Tanzfläche zerplatzten; Funken und winzige Glasscherben regneten auf uns herab. Es war eine sehr merkwürdige Ansammlung von Clubgästen, aber sogar sie wichen vor uns zurück. »Du irrst dich. Ich bin wie sie. Ich gehöre hierher.«

»Lena, lass uns darüber reden.«

»Nein, Ethan. Da gibt es nichts zu reden.«

»Haben wir nicht alles andere auch gemeinsam durchgestanden?«

»Nein. Nicht gemeinsam. Du weißt nichts von mir. Nicht mehr.« Ein seltsamer Ausdruck huschte über ihr Gesicht. War es Trauer? Oder Bedauern?

Ich wünschte, alles wäre anders gekommen.

Sie wandte sich zum Gehen.

Dorthin kann ich dir nicht folgen, Lena.

Das weiß ich.

Du wirst niemanden haben. Du wirst ganz allein sein.

Sie drehte sich nicht einmal um.

Ich habe schon jetzt niemanden mehr, Ethan.

Dann sag mir, dass ich gehen soll. Ist es das, was du willst?

Lena blieb stehen und wandte sich langsam zu mir um. »Ich will nicht, dass du hier bist, Ethan«, sagte sie und ging zurück auf die Tanzfläche. Ehe ich etwas unternehmen konnte, hörte ich die Luft reißen …

… und schon stand John Breed in seiner schwarzen Lederkluft vor mir. »Genauso wenig wie ich.«

Wir waren nur ein paar Schritte voneinander entfernt. »Ich gehe«, sagte ich, »aber nicht wegen dir.«

Er lächelte und seine grünen Augen leuchteten.

Ich machte kehrt und drängelte mich durch die Menge. Es war mir egal, ob ich jemandem auf den Fuß trat, der mein Blut trinken oder mich dazu bringen konnte, von einer Klippe zu springen. Ich wollte einfach nur weg.

Das schwere Holztor fiel hinter mir ins Schloss und verschluckte die Musik, die Lichter und auch die Caster. Nicht jedoch meine zerplatzten Träume. Und auch nicht die quälenden Bilder von seinen Händen auf ihren Hüften, davon, wie sie sich zur Musik bewegten, wie sich ihre schwarzen Haare in der Caster-Brise kräuselten. Die Bilder von Lena in den Armen eines anderen.

Ich lief davon und bemerkte es kaum, dass der Straßenbelag kein moderner schmutziger Asphalt mehr war, sondern wieder aus Pflastersteinen bestand. Wie lange ging das schon zwischen den beiden und was war passiert? Caster und Sterbliche konnten nicht zusammen sein, das hatten mir die Visionen vor Augen geführt. Und zwar so deutlich, als zweifelte die Caster-Welt daran, dass ich es inzwischen kapiert hatte.

Hinter mir hörte ich Schritte. »Ethan, alles in Ordnung mit dir?« Liv legte mir die Hand auf die Schulter. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass sie mir gefolgt war.

Ich drehte mich um, aber ich wusste nicht, was ich ihr antworten sollte. Ich stand auf einer Straße einer längst vergangenen Zeit, in einem unterirdischen Caster-Tunnel, und dachte daran, dass Lena mit einem anderen zusammen war. Einem, der das genaue Gegenteil von mir war und der mir alles wegnehmen konnte, wann und wo immer er wollte. Heute Nacht hatte ich den Beweis dafür bekommen.

»Ich weiß nicht, was ich machen soll. Das ist nicht Lena, wie ich sie kenne. Ridley und John haben sie irgendwie in ihrer Gewalt.«

Liv biss sich nervös auf die Unterlippe. »Ich weiß, du hörst das nicht gerne, aber Lena trifft ihre eigenen Entscheidungen.«

Liv verstand mich nicht. Sie wusste nicht, wie Lena gewesen war, bevor Macon starb und John Breed auftauchte.

»Woher willst du das so sicher wissen? Du hast doch gehört, was Marian gesagt hat. Es ist völlig unklar, über welche Kräfte John verfügt.«

»Ich kann mir vorstellen, wie schwer das alles für dich sein muss«, erwiderte Liv. Sie flüchtete sich in Allgemeinplätze, aber was sich zwischen Lena und mir abspielte, hatte damit rein gar nichts zu tun.

»Du kennst Lena nicht …«

Liv senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Ethan, ihre Augen sind golden.«

Die Worte dröhnten in meinem Kopf, als wäre ich unter Wasser getaucht. Sie ließen meine Gefühle untergehen wie einen Stein, während Vernunft und logisches Denken an die Oberfläche drängten.

Ihre Augen sind golden.

Es war nur ein kleines Detail und zugleich war damit alles gesagt. Niemand konnte Lena zwingen, Dunkel zu werden, niemand konnte ihre Augen golden werden lassen.

Lena stand nicht unter dem Einfluss anderer. Niemand musste seine Überredungskraft aufbieten, damit sie auf den Rücksitz von Johns Motorrad stieg. Niemand zwang sie, bei ihm zu bleiben. Sie traf ihre eigenen Entscheidungen und sie hatte sich für ihn entschieden. Ich will nicht, dass du hier bist, Ethan. Ich hörte die Worte wie in einer Endlosschleife. Und das war noch nicht einmal das Schlimmste. Das Schlimmste war, dass Lena es auch genau so meinte.

Alles um mich herum verschwamm und spielte sich wie in Zeitlupe ab, alles schien so unwirklich.

Livs Miene war sorgenvoll, als sie mich mit ihren blauen Augen anblickte. Diese blauen Augen hatten etwas Tröstendes – ganz anders als die grünen Augen eines Lichten Casters oder die schwarzen Augen eines Inkubus oder die goldenen Augen eines Dunklen Casters. Liv war so anders als Lena wie nur irgend möglich. Denn sie war eine Sterbliche. Liv würde weder Licht noch Dunkel werden, sie würde nicht mit jemandem weglaufen, der übernatürliche Kräfte hatte und der einem im Schlaf das Blut aus dem Leib saugte oder die Träume stahl. Liv bereitete sich darauf vor, eine Hüterin zu werden, aber auch als Hüterin würde sie alles nur beobachten. Wie ich würde sie niemals wirklich Teil der Caster-Welt sein. Und gerade jetzt wünschte ich mir nichts sehnlicher, als möglichst weit weg von dieser Welt zu sein.

»Ethan?«

Statt einer Antwort strich ich ihr das blonde Haar aus dem Gesicht und beugte mich zu ihr. Unsere Gesichter, unsere Lippen waren sich ganz nahe. Sie atmete vorsichtig, und ich spürte ihren Atem, sog den Duft ihrer Haut ein. Sie roch wie Heckenkirschenblüten im Frühling. Sie roch nach süßem Tee und alten Büchern und so, als ob sie schon immer hier gewesen wäre.

Ich fuhr durch ihr Haar und hielt es in ihrem Nacken zusammen. Ihre Haut war weich und warm wie die Haut eines sterblichen Mädchens. Keine Stromstöße, keine elektrische Spannung. Wir konnten uns küssen, so lange wir wollten. Wenn wir uns stritten, würde es keine Flut, keinen Hurrikan, nicht einmal einen Sturm geben. Nie würde ich sie an der Decke ihres Zimmers vorfinden. Keine Fenster würden zerbersten, keine Prüfungsaufgaben in Rauch und Flammen aufgehen.

Liv sah zu mir hoch, damit ich sie küsste. Sie wartete darauf.

Keine Zitronen und kein Rosmarin, keine grünen Augen und schwarzen Haare. Nein, blaue Augen und blonde Haare …

Mir war gar nicht aufgefallen, dass ich zum Kelting übergegangen war. Ein hoffnungsloser Versuch, mit jemandem zu reden, der gar nicht da war.

Liv erschrak, so heftig zuckte ich zurück. »Es tut mir leid. Ich hätte das nicht tun dürfen.«

»Schon gut.« Livs Stimme zitterte. Sie legte ihre Hände in den Nacken, dorthin, wo eben noch meine Hände gewesen waren. »Es ist schon in Ordnung.«

Nichts war in Ordnung. Ich sah die widerstreitenden Gefühle in ihren Augen – Enttäuschung, Ärger, Bedauern.

»Macht doch nichts«, log sie. Ihre Wangen waren gerötet und sie blickte angestrengt zu Boden. »Du stehst total neben dir wegen Lena. Ich versteh das.«

»Liv, ich …«

Links Stimme unterbrach meinen lahmen Entschuldigungsversuch. »Hey, Mann, starker Abgang. Danke, dass du mich sitzen gelassen hast.« Es sollte lustig klingen, aber sein Ton war scharf. »Wenigstens hat deine Katze auf mich gewartet.« Lucille trottete wie zufällig hinter ihm her.

»Was machst du denn hier?« Ich bückte mich, um sie am Kopf zu kraulen, worauf sie sofort zu schnurren anfing. Liv drehte sich weg und schaute keinen von uns an.

»Wer weiß? Diese Katze ist genauso verrückt wie deine Großtanten. Wahrscheinlich ist sie dir nachgelaufen.«

Wir gingen zusammen weiter, aber sogar Link fiel auf, wie schwer das Schweigen auf uns lastete. »Was war denn da drinnen los? Ist Lena jetzt mit dem Vampirboy zusammen, oder was?«

Ich hatte keine Lust, daran zu denken, aber ich kannte Link gut genug, um zu wissen, dass auch er gerade krampfhaft versuchte, nicht an jemanden zu denken. Die Sache mit Ridley war ihm nicht nur unter die Haut, sondern durch Mark und Bein gegangen.

Liv ging ein paar Schritte vor uns her, aber sie hörte genau zu, was wir sagten.

»Ich weiß nicht. Es sah jedenfalls so aus«, murmelte ich. Es hatte keinen Sinn, es abzustreiten.

»Wenn mich nicht alles täuscht, ist da vorne der Zugang zur Bibliothek.« Liv sah so stur geradeaus, dass sie beinahe über einen Pflasterstein gestolpert wäre. Von jetzt an würden die Dinge zwischen uns ziemlich verzwickt sein. Wie viel konnte ein einzelner Mensch an einem einzigen Tag eigentlich vermasseln? Vermutlich hatte ich einen neuen Rekord aufgestellt.

Link legte mir die Hand auf die Schulter. »Tut mir leid, Mann. Wirklich …«, begann er, aber dann blieb Liv so unvermittelt stehen, dass er mit ihr zusammenstieß. »Hey, was ist los, MJ?« Er versetzte Liv spielerisch einen Knuff.

Liv stand stocksteif da und gab keinen Laut von sich. Auch Lucille war stehen geblieben. Ihr Fell sträubte sich und sie blickte starr nach vorne. Ich folgte ihrem Blick, um zu sehen, was sie so beunruhigte.

Auf der anderen Straßenseite lauerte ein dunkler Schatten in einem steinernen Torbogen. Er war gestaltlos, ein dichter, wabernder Nebel, der ständig seine Form änderte. Er war in eine Art Stoff gehüllt, der wie ein Schleier oder ein Umhang aussah. Der Schatten hatte zwar keine Augen, aber ich war mir sicher, dass er uns beobachtete.

Link wich einen Schritt zurück. »Was zum …«

»Pssst«, zischte Liv. »Mach ihn nicht auf uns aufmerksam.« Alle Farbe war ihr aus dem Gesicht gewichen.

»Zu spät«, murmelte ich. Der Schatten bewegte sich langsam auf die Straße zu und kam näher.

Unwillkürlich griff ich nach Livs Hand. Sie vibrierte, aber das kam von der Uhr an ihrem Gelenk. Sämtliche Zeiger spielten verrückt. Liv warf rasch einen Blick auf das Ziffernblatt, dann fummelte sie an dem schwarzen Plastikband, nahm die Uhr in die Hand und besah sie sich genauer.

»Sie zeigt völlig irre Dinge an«, flüsterte sie.

»Ich dachte, du hättest dir das alles nur ausgedacht.«

»Stimmt sogar«, flüsterte sie. »Jedenfalls am Anfang.«

»Und jetzt? Was hat das zu bedeuten?«

»Keine Ahnung.« Sie starrte wieder auf die herumwirbelnden Zeiger. Währenddessen kam der schwarze Schatten immer näher.

»Ich störe dich ja nur ungern beim Betrachten deiner Monduhr, aber was ist das für ein Ding da drüben? Ist das ein Schemen?«

Liv hob den Kopf. Ich hielt ihre Hand immer noch fest und spürte, dass sie zitterte. »Ich wünschte, es wäre einer. Es ist ein Vex. Ich kenne sie nur aus Büchern. Gesehen habe ich noch keinen und ich hätte auch liebend gerne weiter darauf verzichtet.«

»Faszinierend. Weshalb spurten wir dann nicht einfach los und reden später darüber?« Der Zugang zur Bibliothek war bereits in Sicht, trotzdem hatte Link sich umgedreht, um es notfalls mit Dunklen Castern oder irgendwelchen anderen merkwürdigen Gästen aus dem Exil aufzunehmen.

»Das bringt nichts.« Liv legte Link die Hand auf den Arm. »Vexe können raumwandeln, sie verschwinden blitzschnell und nehmen woanders wieder Gestalt an, ehe du auch nur blinzeln kannst.«

»Wie ein Inkubus.«

Liv nickte. »Das würde auch erklären, weshalb wir so viele Schemen im Exil gesehen haben. Möglicherweise haben sie auf irgendwelche Störungen in der natürlichen Ordnung reagiert. Und sehr wahrscheinlich ist der Vex diese Störung.«

»Ich versteh nur Bahnhof. Kannst du dich nicht ein bisschen klarer ausdrücken?«, fragte Link mit wachsender Unruhe.

»Vexe sind Dämonen, sie gehören zur Unterwelt. Sie sind das reine Böse an sich, und zwar für Sterbliche wie für Caster.« Livs Stimme bebte.

Der Vex bewegte sich langsam, so als würde ihn der Wind hin und her wehen. Aber er kam nicht mehr näher heran. Er schien auf irgendetwas zu warten.

»Vexe sind keine Schemen oder Geister, wie ihr sie vielleicht nennt. Sie haben keine natürliche Gestalt, es sei denn, sie ergreifen Besitz von Lebenden. Nur jemand, der sehr mächtig ist, kann sie aus der Unterwelt rufen, und wenn er das tut, dann nur, um sie die allerfinstersten Taten begehen zu lassen.«

»Hallo? Wir sind doch schon in der Unterwelt«, sagte Link, ohne den Vex auch nur für eine Sekunde aus den Augen zu lassen.

»Diese Unterwelt meine ich nicht.«

»Was will er von uns?« Link wagte einen Blick die Straße hinunter und schätzte offenbar ab, wie weit es bis zum Club war.

Der Vex bewegte sich, löste sich in Dunst auf, nur um gleich darauf wieder seine Schattengestalt anzunehmen.

»Ich vermute, wir werden es bald herausfinden.« Ich drückte Livs zitternde Hand ganz fest.

Ohne jede Vorwarnung machte der Vex einen Satz nach vorn, der schwarze Nebel sah plötzlich aus wie ein weit aufgerissener Rachen. Und aus diesem Schlund drang ein lauter, durchdringender Ton. Man konnte ihn unmöglich beschreiben, er war wild und bedrohlich wie das Brüllen eines Raubtiers, furchteinflößend wie ein gellender Schrei. Lucille legte die Ohren an und fauchte. Der Ton wurde lauter, der Vex richtete sich auf, wuchs über uns hinaus, schien sich zum Angriff bereit zu machen. Ich stieß Liv zu Boden und warf mich über sie. Die Hände legte ich schützend in den Nacken, eine hilflose Geste, denn es war schließlich kein Grizzly, der seine Zähne ich mich schlagen wollte, sondern ein Dämon.

Ich dachte an meine Mutter. Ob ihr genauso zumute gewesen war, als sie begriffen hatte, dass sie sterben würde?

Ich dachte an Lena.

Der Ton schwoll an … aber plötzlich war da noch eine andere, eine vertraute Stimme. Allerdings nicht die Stimme meiner Mutter. Und es war auch nicht Lena.

»Dunkler Dämon des Teufels, beuge dich unserem Willen und verschwinde von hier!«

Ich hob den Kopf – und da standen sie unter dem Lichtkegel der Straßenlaterne. Eine unverwechselbare Gestalt hielt eine Kette mit Perlen und Knochen wie ein Kruzifix vor sich. Um sie herum hatte sich eine wunderliche Schar versammelt, die in ein schimmerndes, überirdisches Licht getaucht war. Aber die Augen aller funkelten vor Entschlossenheit.

Amma und die Ahnen.

Es war ein unbeschreiblicher Anblick: Amma, umgeben von den Geistern aus vier Generationen ihrer Vorfahren. Ich fühlte mich an alte Schwarz-Weiß-Fotos erinnert. Ivy kannte ich ja bereits aus den Visionen. Ihre dunkle Haut glänzte und sie trug eine hochgeschlossene Bluse und einen Baumwollrock. Diesmal sah sie allerdings viel furchteinflößender aus als in der Vision. Nur eine war noch grimmiger als sie; sie stand rechts von ihr und hatte die Hand auf Ivys Schulter gelegt. An jedem Finger steckte ein Ring. Das lange Kleid sah aus, als wäre es aus lauter Seidenschals zusammengenäht, und die Schulter war mit einem kleinen Vögelchen bestickt. Sulla, die Prophetin. Neben ihr wirkte Amma so harmlos wie eine Sonntagsschullehrerin.

Dann waren da noch zwei andere Frauen, wahrscheinlich Tante Delilah und ihre Schwester. Und ganz hinten stand ein alter Mann, dessen Gesicht von der Sonne gegerbt war, und der einen so beeindruckenden Bart hatte, dass Moses vor Neid erblasst wäre. Onkel Abner. Ich wünschte, ich hätte etwas Wild Turkey für ihn dabei, sein Lieblingsbourbon, wenn man Amma Glauben schenkte.

Die Ahnen schlossen ihren Kreis dichter um Amma und skandierten einen Spruch, immer und immer wieder. Sie sangen ihn in Gullah, der alten Kreolensprache ihrer Familie. Amma wiederholte ihn in unserer Sprache, rief den Himmel dabei an und schüttelte die Perlen und Knochen.

»Zorn und Vergeltung, banne die Schimäre, auf dass sie wanke und weiche.«

Der Vex schwoll nur noch mehr an, Nebel und Schatten tanzten über Amma und die Ahnen hinweg. Das durchdringende Kreischen war jetzt ohrenbetäubend, aber Amma zuckte nicht mit der Wimper. Sie schloss die Augen und sprach noch lauter gegen das teuflische Geschrei an.

»Zorn und Vergeltung, banne die Schimäre, auf dass sie wanke und weiche!«

Sulla hob den Arm und schwang einen langen Stab hin und her. Nicht nur an ihrem Handgelenk klimperten schwere Armbänder, auch der Stab war mit Dutzenden kleiner Amulette behängt. Sie nahm die Hand von Ivys Schulter und legte sie auf Ammas, ihre schimmernde, durchscheinende Haut leuchtete geheimnisvoll in der Dunkelheit. Im selben Moment stieß der Vex einen letzten, erstickten Schrei aus, ehe er sich auflöste und vom Nachthimmel aufgesaugt wurde.

Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, wenn ich mit dem Vex verschwunden wäre, denn ein Blick in Ammas Augen reichte, um mir klarzumachen, dass sie uns nur gerettet hatte, damit sie uns anschließend selbst umbringen konnte. Gegen den Vex hätten unsere Chancen wohl besser gestanden.

Nachdem Amma sich von den Ahnen verabschiedet hatte, drehte sie sich wutschnaubend um. Mit zusammengekniffenen Augen konzentrierte sie sich auf ihre beiden Hauptziele: auf Link und mich.

»V.E.R.D.R.U.S.S.« Sie packte uns gleichzeitig am Kragen, als wollte sie uns mit einem einzigen Griff über die Türschwelle befördern. »Sprich: nichts als Plage, Ärgernis und Scherereien. Muss ich noch mehr sagen?«

Link und ich schüttelten den Kopf.

»Ethan Lawson Wate. Wesley Jefferson Lincoln. Ich möchte wissen, was ihr beide hier unten zu suchen habt.« Sie drohte uns mit ihrem knochigen Finger. »Ihr habt nicht einen Funken Verstand in eurem Hirn, glaubt aber, es mit den Dunklen Mächten aufnehmen zu können.«

Link machte den Fehler, ihr erklären zu wollen, dass alles ganz anders war. »Wir wollten es nicht mit den Dunklen Mächten aufnehmen, Ma’am. Ehrlich. Wir wollten nur …«

Ammas Finger war jetzt ganz dicht vor Links Auge. »Erzähl mir nichts. Wenn ich mit dir fertig bin, wirst du dir wünschen, ich hätte deiner Mutter verraten, was du in meinem Keller getrieben hast, als du neun Jahre alt warst.« Link wich vor Amma zurück, bis er mit dem Rücken an der Wand stand, direkt neben dem Tunnelzugang. Aber Amma ging bei jedem Schritt mit. »Schlimm, dass ich so etwas erleben muss.«

Dann knöpfte sie sich Liv vor. »Und du willst eine Hüterin werden, hast aber genauso wenig Grips wie die zwei. Obwohl du es eigentlich besser wissen müsstest, lässt du dich mit den beiden auf solche gefährlichen Abenteuer ein. Warte nur, was Marian dazu zu sagen hat, Mädchen.« Bei diesen Worten schrumpfte Liv zusammen.

Amma baute sich vor mir auf. »Und nun zu dir.« Sie war so wütend, dass sie ihre Worte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorstieß. »Denkst du, ich wüsste nicht, was du vorhast? Denkst du, du könntest mich zum Narren halten, weil ich eine alte Frau bin? Junge, wenn du mir einen Bären aufbinden willst, musst du früher aufstehen. Als ich von Marian erfahren habe, dass ihr hier unten seid, habe ich euch sofort ausfindig gemacht.« Ich wollte gar nicht wissen, wie sie das geschafft hatte. Egal ob sie Hühnerknochen oder Tarotkarten oder die Ahnen befragte, sie fand immer Mittel und Wege. Amma war den Übernatürlichen so ähnlich, wie man es als gewöhnlicher Mensch nur sein konnte.

Ich vermied es, sie anzusehen. Bei einem bissigen Hund machte man es genauso. Nicht in die Augen blicken, auf den Boden schauen und den Mund halten. Neben mir stand Liv. Sie war ziemlich eingeschüchtert. Natürlich hatte sie nicht damit gerechnet, einem Vex in die Quere zu kommen, aber verglichen mit ihm war Amma der härtere Brocken.

Amma murmelte etwas vor sich hin, vielleicht sprach sie auch mit den Ahnen. Dann sagte sie laut: »Glaubst du, du bist der Einzige, der hinter die Dinge schauen kann? Man muss kein Caster sein, um zu wissen, was ihr Dummköpfe im Schilde führt.« Ich hörte, wie die Knochen an der Perlenschnur klapperten. »Nicht umsonst nennt man mich eine Seherin. Ich merke es sofort, wenn du wieder mal mitten in einem Schlamassel steckst.« Noch immer kopfschüttelnd, stieg sie über die Türschwelle. Kein Stäubchen lag auf ihren Ärmeln, kein Knitterfältchen verunzierte ihr Kleid.

Was auf dem Weg nach unten eng wie ein Kaninchengang gewesen war, hatte sich nun zu einer breiten Treppe geweitet, vermutlich aus Respekt vor Amma, gewundert hätte es mich jedenfalls nicht.

»Es mit einem Vex aufzunehmen«, stieß sie grimmig aus und schnaufte bei jedem Schritt. »Als ob ein Tag mit diesem Jungen nicht auch so schon Ärger genug wäre …«

Und so ging es in einer Tour weiter, bis Amma Liv ablieferte. Link und ich gingen einfach weiter. Wir wollten diesem Finger und den Perlen keinesfalls zu nahe kommen.