Sonnenaufgang
28.6.
»Könnt ihr nicht ein bisschen schneller graben?«, nörgelte Ridley.
Link und ich standen ein paar Fuß tief in Macons Grab. In dem Grab, in dem er keine Minute lang gelegen hatte. Mir lief der Schweiß schon von der Stirn, dabei war die Sonne noch nicht einmal aufgegangen. Link mit seiner frisch entfachten Superkraft war noch weit davon entfernt zu schwitzen.
»Nein, das können wir nicht. Und ja, ich weiß, dass du uns überaus dankbar dafür bist, dass wir das für dich erledigen, Baby.« Link winkte Ridley mit seiner Schaufel zu.
»Warum brauchen Sterbliche für alles so lang?« Ridley sah Lena angewidert an. »Und warum sind sie so verschwitzt und langweilig?«
»Du musst gerade was sagen, du bist jetzt selbst eine Sterbliche.« Ich warf eine Schaufel voll Erde in ihre Richtung.
»Gibt es dafür keinen Caster-Spruch?« Ridley ließ sich neben Lena ins Gras fallen, die mit untergeschlagenen Beinen neben dem Grab saß und in einem alten Buch über Inkubi blätterte.
»Wie habt ihr es eigentlich geschafft, das Buch aus der Lunae Libri rauszuschmuggeln?«, fragte Link, der hoffte, Lena würde etwas über Mischwesen herausfinden. »Heute ist doch gar kein Feiertag.« Während des vergangenen Jahres hatten wir in der Lunae Libri genug Scherereien gehabt.
Ridley warf Link einen Blick zu, der ihn, wäre sie noch eine Sirene gewesen, vermutlich zu Boden gestreckt hätte. »Dein Freund kann die Bibliothekarin um den Finger wickeln, Superhirn.«
Kaum hatte sie das gesagt, fing das Buch in Lenas Hand an zu brennen. »Oh nein!« Lena ließ es fallen. Ridley stampfte auf dem Buch herum, bis die Flammen erstickt waren, und Lena seufzte. »Es tut mir leid. Das passiert einfach.«
»Ridley hat von Marian gesprochen«, sagte ich besänftigend. Zwischen Lena und mir war es wieder so wie früher. In jeder Sekunde wollte ich ihre Hand in meiner, ihr Gesicht an meinem spüren. In jedem wachen Augenblick wollte ich ihre Stimme in meinen Gedanken hören, nachdem ich sie so lange entbehrt hatte. Sie war die Letzte, mit der ich am Abend sprach, und die Erste, nach der ich mich am Morgen sehnte. Am liebsten hätte ich mit Boo getauscht. Ich wollte sie immer um mich haben.
Amma deckte jetzt sogar den Tisch für Lena mit. Und in Ravenwood hielt Tante Del immer ein Kissen und eine Decke auf dem Sofa im Erdgeschoss für mich bereit. Niemand schickte uns mehr abends nach Hause, niemand sagte, dass wir uns zu oft träfen. Niemand verlangte von uns, allein durchs Leben zu gehen.
Dieser Sommer hatte uns weit über das hinausgeführt. Was geschehen war, konnte man nicht ungeschehen machen. Nicht das, was mit Liv geschehen war, und auch nicht das, was mit John und Abraham geschehen war. Twyla und Larkin, Sarafine und Hunting, ich konnte sie nicht einfach vergessen. In der Schule würde es sicher so sein wie immer, abgesehen davon, dass mein bester Freund ein Inkubus und das zweithübscheste Mädchen in der ganzen Schule eine Sirene war, der man die Krallen gestutzt hatte. Mr Lee und Direktor Harper, Savannah Snow und Emily Asher würden immer dieselben bleiben.
Aber Lena und ich würden nie wieder so sein wie zuvor.
Und Link und Ridley hatten sich so gigantisch verändert, dass sie nicht einmal mehr im selben Universum lebten.
Liv hatte sich in der Bibliothek vergraben. Sie war froh, sich für eine Weile hinter ihren Bücherbergen verstecken zu können. Seit der Nacht des Siebzehnten Mondes hatte ich sie nur einmal gesehen. Sie bereitete sich jetzt nicht mehr darauf vor, eine Hüterin zu werden, aber das schien ihr nichts auszumachen.
»Wir wissen beide, dass ich mich nicht damit zufriedengegeben hätte, immer nur vom Spielfeldrand aus zuzusehen«, hatte sie gesagt. Und ich wusste, dass es tatsächlich so war. Liv war ein Astronom wie Galilei, ein Forscher wie Vasco da Gama, eine Gelehrte wie Marian. Vielleicht sogar eine besessene Wissenschaftlerin wie meine Mutter.
Wir alle mussten auf irgendeine Weise einen neuen Anfang wagen.
Darüber hinaus hatte ich das Gefühl, dass Liv ihren neuen Lehrer genauso gern mochte wie ihren alten. Livs Ausbildung hatte jetzt ein früherer Inkubus übernommen, der seine Tage in Abgeschiedenheit verbrachte – in Ravenwood oder in seinem Lieblings-Studierzimmer, einem alten Unterschlupf in den Caster-Tunneln –, mit Liv und der leitenden Caster-Bibliothekarin als einzigen sterblichen Gefährten.
Den Sommer hatte ich mir ganz anders vorgestellt. Aber in Gatlin konnte man nie wissen, was passieren würde. Inzwischen versuchte ich es auch gar nicht mehr.
Hör auf zu träumen und grab weiter.
Ich ließ meine Schaufel fallen und kletterte aus dem Loch. Lena lag auf dem Bauch, die Beine in den Knien angewinkelt. Sie trug wieder ihre abgewetzten Chucks. Ich ging zu ihr, und wir küssten uns, bis sich alles um uns drehte.
»Kinder, Kinder, benehmt euch. Wir sind fertig.« Link hatte sich auf seine Schaufel gestützt und betrachtete sein Werk. Macons Grab war offen, aber natürlich war nirgendwo ein Sarg.
»Und jetzt?« Ich wollte das alles schnell hinter mich bringen.
Ridley holte ein kleines, in schwarze Seide eingeschlagenes Päckchen aus ihrer Tasche.
Link wich zurück, als hätte sie ihm eine Fackel ins Gesicht gehalten. »Pass auf, Rid! Bleib mir mit dem Ding vom Leib. Du weißt doch, das ist Inkubus-Kryptonit.«
»Tut mir leid, Superman. Das hatte ich vergessen.« Ridley hielt das Bündel vorsichtig in einer Hand, stieg in das Loch und legte es in Macon Ravenwoods leeres Grab. Meine Mutter hatte Macon mit dem Bogenlicht gerettet, aber für uns war es nur eine Gefahr. Ein übernatürliches Gefängnis, in dem ich meinen besten Freund nicht eingesperrt sehen wollte. Sechs Fuß tief, das war der Platz, an den das Bogenlicht hingehörte, und Macons Grab war der sicherste Ort, den wir uns vorstellen konnten.
»Ende gut, alles gut«, sagte Link, als er Ridley wieder aus dem Grab zog. »Das sagt man doch, wenn am Ende eines Films das Gute über das Böse siegt?«
Ich blickte ihn fassungslos an. »Mann, hast du überhaupt jemals ein Buch gelesen?«
»Schaufel es wieder zu.« Ridley wischte sich den Schmutz von den Händen. »Das ist das, was ich sage.«
Unter Ridleys wachsamen Augen schüttete Link eine Schaufel Erde nach der anderen über das Bogenlicht.
»Beeil dich«, sagte ich.
Lena nickte und vergrub ihre Hände in den Taschen. »Lasst uns hier verschwinden.«
Die Sonne ging über den Magnolien vor dem Grab meiner Mutter auf. Es machte mir nichts mehr aus, das Grab anzuschauen, denn ich wusste, dass sie dort nicht war. Sie war irgendwo anders und passte noch immer auf mich auf. In Macons heimlichem Studierzimmer. In Marians Archiv. Im Arbeitszimmer in Wates Landing.
»Komm schon, L.« Ich zog Lena am Arm. »Ich hab die Dunkelheit satt. Lass uns den Sonnenaufgang anschauen.« Wir rannten los, wie die Kinder liefen wir den grasbewachsenen Hügel hinunter, vorbei an den Gräbern und Magnolien, vorbei an den Palmen und Eichen, die mit Louisiana-Moos überwuchert waren, vorbei an den schiefen Grabsteinen, den weinenden Engeln und der alten Bank aus Stein. Ich spürte, wie Lena in der frühen Morgenluft fröstelte, aber keiner von uns wollte stehen bleiben. Also rannten wir weiter, und als wir am Fuß des Hügels angekommen waren, fielen wir, flogen wir beinahe.
Glücklich beinahe.
Wir sahen nicht, wie sich ein unheimlicher goldener Lichtstrahl seinen Weg durch die Erde von Macons Grab bahnte.
Und ich schaute auch nicht auf den iPod in meiner Tasche, in dessen Playlist ein neuer Song stand.
Eighteen Moons.
Ich achtete nicht darauf, weil es mir egal war. Keiner hörte auf den Song. Keiner schaute. Es gab nur uns beide auf der Welt und sonst nichts.
Uns beide und den alten Mann in seinem hellen Anzug mit der Schleife, der oben auf dem Hügel stand, bis die Sonne aufging und die Schatten sich wieder in ihre Gräber verzogen.
Wir sahen ihn nicht. Wir sahen nur, wie die Nacht verschwand und der Himmel blau wurde. Nicht blau wie die Decke in meinem Schlafzimmer, sondern richtig blau. Auch wenn vielleicht jeder von uns den Himmel anders sah. Inzwischen war ich mir nicht mehr so sicher, dass der Himmel für alle gleich aussah, egal in welchem Universum man lebte.
Wie sollte man das auch wissen?
Der alte Mann ging davon.
Wir hörten nicht das fast schon vertraute Geräusch, das Zerreißen von Raum und Zeit, als der alte Mann im allerletzten Moment der Nacht verschwand, der letzten Dunkelheit vor der Morgendämmerung.
Eighteen Moons, eighteen spheres,
From the world beyond the years,
One Unchosen, death or birth,
A broken day awaits the earth . . .