Exil

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15.6.

Liv rückte ihren abgewetzten Lederrucksack zurecht und Link schnappte sich eine Fackel aus dem Ständer an der Wand. Sie waren entschlossen, mit mir das Große Unbekannte zu erforschen, aber vorerst standen wir nur da und schauten uns an.

»Und?«, fragte Liv erwartungsvoll. »Das kann doch nicht so schwer sein, es geht hier ja nicht um einen Flug ins All. Entweder du kennst den Weg oder …«

»Psst. Lass ihm einen Moment Zeit.« Link legte seine Hand über Livs Mund. »Streng dich an, Skywalker. Möge die Macht mit dir sein.« Die Geschichte mit dem Lotsen hatte offenbar Eindruck gemacht. Die beiden dachten, ich wüsste genau, wo’s langgeht. Das Problem war nur: Ich wusste es nicht.

»Da entlang.« Ich würde mir unterwegs etwas einfallen lassen müssen.

Marian hatte von endlosen Tunneln gesprochen und von einer ganz eigenen unterirdischen Welt, aber erst jetzt verstand ich, was sie damit gemeint hatte. Als wir um die Ecke bogen, änderte sich der Gang, er wurde enger und feuchter und dunkler, runde Wände schlossen uns ein, sodass man sich wie in einer Röhre vorkam. Ungeschickt tastete ich mich an der Wand entlang, um den Weg zu finden, dabei fiel meine Fackel auf den Boden.

»Scheiße.« Ich hob die Fackel auf, nahm den Holzgriff zwischen die Zähne und wollte weitergehen.

»Verdammter Mist.« Link, der direkt hinter mir ging, fluchte laut, weil seine Fackel abgebrannt war.

Liv bildete das Schlusslicht. »Meine ist auch aus«, sagte sie, als ihre Fackel ebenfalls erlosch. Plötzlich war es zappenduster. Die feuchte Gesteinsdecke war so niedrig, dass wir uns ducken mussten.

»Ich werd hier noch wahnsinnig.« Link hatte es noch nie leiden können, wenn es stockdunkel war.

»Früher oder später stehen wir vor einer …«, setzte Liv an, als ich im selben Moment mit dem Kopf gegen etwas Hartes, Kaltes stieß.

»Aua!«

»… Tür.«

Anscheinend hatte Link seine Taschenlampe aus der Hosentasche gezogen, denn ein flackernder Lichtstrahl beleuchtete die Tür vor mir. Sie war aus blankem Metall und nicht wie die anderen Türen bisher aus Holzbalken oder bröckelndem Stein. Sie sah eher aus wie ein verdeckter Einstiegsschacht in der Wand. Ich stemmte mich mit der Schulter dagegen, aber nichts rührte sich.

»Was jetzt?«, fragte ich Liv, die, was Caster anging, mein Marian-Ersatz war. Ich hörte, wie sie in ihrem Notizbuch blätterte.

»Ich weiß nicht. Vielleicht musst du stärker drücken?«

»Steht das etwa in deinem kleinen schlauen Buch?«, fragte ich bissig.

»Soll ich über euch drüberklettern und es selbst mal versuchen?«, erwiderte Liv gereizt.

»Kinder, Kinder, immer mit der Ruhe«, mischte Link sich ein. »Ich stemme mich gegen Ethan, du stemmst dich gegen mich und Ethan stemmt sich gegen die Tür.«

»Brillant«, sagte Liv trocken.

»Schulter an Schulter, MJ.«

»Wie bitte?«

»Marian junior. Du wolltest doch ein Abenteuer erleben. Hast du etwa eine bessere Idee?«

Die Tür hatte weder einen Griff noch ein Scharnier, sie bestand lediglich aus einer kreisrunden Metallscheibe, die passgenau in einen runden Rahmen eingefügt war. Kein Lichtstrahl drang durch die Ritzen. »Link hat recht. Wir haben keine Wahl. Jetzt zurückzugehen, ist völlig ausgeschlossen.« Ich stemmte die Schulter gegen die Tür. »Eins, zwei, drei, los!«

Kaum hatten meine Fingerspitzen die Tür berührt, klappte sie auch schon auf. Man hätte fast meinen können, meine Haut wäre eine Art genetischer Schlüssel, der sie aufsperrte. Link stieß gegen mich und Liv prallte gegen uns beide. Ich fiel hin und schlug mit dem Kopf auf etwas sehr Hartes. Mir wurde schwindelig, alles verschwamm vor meinen Augen.

Als ich wieder klar sehen konnte, starrte ich in eine Straßenlampe.

»Was ist passiert?« Link war genauso verdattert wie ich.

Benommen betastete ich den harten Boden. Es waren Pflastersteine. »Ich habe die Tür nur ganz leicht berührt, und schwupp!, ging sie auf.«

»Erstaunlich.« Liv stand auf und sah sich neugierig um.

Ich lag mitten auf einer Straße in einem Ort, der irgendeine alte Stadt aus einem Geschichtsbuch hätte sein können. Direkt hinter mir endete der Weg an der runden Öffnung, durch die wir gestolpert waren. Daneben hing ein Messingschild mit der Aufschrift WESTLICHER ZUGANG, ZENTRALBIBLIOTHEK.

Link setzte sich auf und rieb sich den Kopf. »Heilige Scheiße. Hier sieht’s so aus, als könnte Jack the Ripper jede Sekunde um die Ecke kommen und uns aufschlitzen.«

Er hatte recht. Ich kam mir tatsächlich vor wie im London des 19. Jahrhunderts. Die Umgebung war düster und wurde nur vom schwachen Licht einiger weniger Straßenlampen erhellt. Große Backsteinhäuser säumten zu beiden Seiten die Straße, allerdings waren nur die Hinterhoffassaden zu sehen.

Entschlossen ging Liv ein paar Schritte auf der menschenleeren Straße. Sie blickte nach oben zu einem alten eisernen Straßenschild. Darauf stand: ZITADELLE.

»So heißt bestimmt dieser Tunnel hier. Nicht zu fassen. Professor Ashcroft hat mir zwar davon erzählt, aber selbst in meinen kühnsten Träumen hätte ich es mir nicht so ausgemalt. Bücher allein können anscheinend niemals eine richtige Vorstellung von so einem Ort geben.«

»Ja, das ist so wie mit Ansichtskarten.« Link stand mühsam auf. »Ich möchte bloß wissen, wo die Decke geblieben ist.«

Die Tunneldecke war verschwunden, stattdessen wölbte sich ein dunkler Abendhimmel über uns, so weit und so echt und so sternenübersät, wie ich kaum je einen Abendhimmel gesehen hatte.

Liv zog ihr Notizbuch aus der Tasche und fing an zu schreiben. »Kapiert ihr das nicht? Das ist ein Caster-Labyrinth und kein übernatürliches U-Bahn-Netz von Gatlin, hier huschen keine Caster herum und leihen Bücher aus.«

»Und was genau ist es dann?« Ich strich mit der Hand über die rohe Ziegelsteinwand eines Gebäudes.

»Das sind Straßen in eine andere Welt, um nicht zu sagen, ein Universum für sich.«

Plötzlich hörte ich ein Geräusch. Mein Herz machte einen Satz, denn für einen Moment dachte ich, Lena würde versuchen, mit Kelting Kontakt zu mir aufzunehmen. Aber ich hatte mich getäuscht.

Es war Musik.

»Hört ihr das?«, fragte Link. Ich war erleichtert. Diesmal kam die Melodie nicht aus meinem Kopf, sondern vom Ende der Straße. Es klang so wie die Caster-Musik auf der Halloween-Party in Ravenwood; in jener Nacht hatte ich Lena vor Sarafines heftigem Angriff gerettet.

Ich dachte an diese Nacht zurück, lauschte nach Lena, versuchte, etwas von ihr zu erspüren.

Aber da war nichts.

Liv warf einen Blick auf ihr Selenometer und schrieb dann wieder etwas in ihr Notizbuch. »Carmen. Erst gestern habe ich eines transkribiert.«

»Klartext, bitte.« Link starrte immer noch in den Sternenhimmel und versuchte, daraus schlau zu werden.

»Entschuldigung. Ein Carmen ist ein magisches Lied. So nennt man die Caster-Musik.«

Ich ging in Richtung der Melodie, die ich am Ende der Straße hörte. »Was auch immer es ist, es kommt von dort.«

Marian hatte recht gehabt. Durch die feuchtkalten Gänge der Lunae Libri zu gehen, war eine Sache, doch das hier war etwas völlig anderes. Wir hatten nicht die leiseste Ahnung, worauf wir uns da eingelassen hatten, so viel war klar.

Mit jedem Schritt wurde die Musik lauter. Unter meinen Füßen verwandelte sich das Kopfsteinpflaster in Asphalt, und es sah jetzt auch gar nicht mehr wie im alten London aus, sondern eher wie in einem der heruntergekommenen Elendsviertel, die es heute in jeder großen Stadt gibt. Die Gebäude ähnelten verlassenen Lagerhäusern, die zersprungenen Fensterscheiben waren vergittert und die trostlosen Überreste der Reklameschilder warfen ihr fluoreszierendes Licht in die Dunkelheit. Die Straße war mit Zigarettenkippen und Müll übersät, und an die Hausmauern waren merkwürdige Caster-Graffiti gesprüht, die mir absolut nichts sagten. Ich machte Liv darauf aufmerksam. »Hast du so was schon mal gesehen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, noch nie. Aber es hat ganz sicher etwas zu bedeuten. In der Welt der Caster steht jedes Symbol für etwas ganz Bestimmtes.«

»Hier ist es sogar noch gruseliger als in der Lunae Libri.« In Livs Gegenwart wollte Link cool bleiben, aber es fiel ihm sichtlich schwer.

»Möchtest du zurück?« Ich wollte ihm die Chance geben, sich mit Anstand aus dem Staub zu machen. Aber mir war klar, dass er genauso viel Grund wie ich hatte, hier unten zu sein. Im Unterschied zu meinem war sein Grund allerdings blond.

»Willst du damit andeuten, dass ich ein Weichei bin?«

»Psst. Halt die Klappe«, zischte ich, denn ich hatte etwas gehört. In die verführerische Melodie der Caster-Musik hatten sich Worte gemischt, und ich war offenbar der Einzige, der sie vernahm.

Seventeen moons, seventeen fears,

Pain of death and shame of tears,

Find the marker, walk the mile,

Seventeen knows just exile …

»Ich höre was. Wir sind ganz nah dran.« Ich lauschte dem Song, der immer wieder in meinem Kopf ablief, und ging ihm nach.

Link sah mich an, als wäre ich bescheuert. »Wovon zum Teufel redest du?«

»Ach nichts. Komm einfach mit.«

Wir gingen die verdreckte Straße entlang, vorbei an einer Reihe wuchtiger Metalltore. Sie waren verbeult und zerkratzt, als hätte sich ein riesengroßes Tier oder etwas noch Schlimmeres an ihnen zu schaffen gemacht. Nur die letzte Tür war anders. Hinter ihr spielte Seventeen Moons. Sie war aus Holz, schwarz gestrichen und mit Graffiti beschmiert. Aber eines der Zeichen sah anders aus. Es war auch nicht mit Farbe gesprayt, sondern in die Tür geritzt. Mit der Fingerspitze fuhr ich die Konturen nach. »Das sieht sehr ungewöhnlich aus, beinahe keltisch.«

Livs Stimme wurde zu einem Flüstern. »Nicht keltisch, sondern niadisch. Das ist eine uralte Caster-Sprache. Viele alte Schriftrollen in der Lunae Libri sind auf Niadisch verfasst.«

»Und was bedeutet das Zeichen?«

Liv betrachtete es genauer. »Niadisch kann man nicht einfach so übersetzen. Für die Begriffe dieser Sprache gibt es keine Wörter in unserer Sprache. Dieses Zeichen bedeutet zum Beispiel Ort oder Augenblick, es ist also sowohl räumlich als auch zeitlich zu verstehen.« Sie strich mit dem Finger über eine Vertiefung im Holz. »Aber diese Linie geht quer durch das Zeichen, siehst du? Aus dem Ort wird also ein Mangel an Ort, ein Nicht-Ort.«

»Wie kann ein Ort zum Nicht-Ort werden? Entweder man ist an einem Ort oder man ist es eben nicht.« Aber schon in dem Moment, als ich es sagte, wusste ich, dass das nicht stimmte. Ich war seit Monaten an einem Nicht-Ort und Lena ebenfalls.

Liv sah mich an. »Ich glaube, es bedeutet Exil oder so ähnlich.«

Seventeen knows just exile …

»Ja«, sagte ich. »Genau das heißt es.«

Livs Blick sprach Bände. »Das kannst du doch gar nicht wissen. Oder sprichst du etwa Niadisch?« Ihre Augen leuchteten triumphierend, so als hätte ich gerade einen weiteren Beweis für ihre Theorie geliefert, dass ich ein Lotse war.

»Ich habe es in einem Lied gehört.«

Ich streckte die Hand aus und wollte das Tor aufstoßen, aber Liv hielt mich am Arm fest. »Ethan, das ist kein Spiel! Es geht hier nicht um einen Backwettbewerb auf dem Volksfest. Du bist nicht mehr in Gatlin. Hier unten lauern Gefahren, hier gibt es Kreaturen, die tödlicher sind als Ridley und ihre Lollis.«

Sie wollte mir Angst einjagen, aber es gelang ihr nicht. Seit der Nacht von Lenas Geburtstag wusste ich mehr über die Gefahren der Caster-Welt als jede Bibliothekarin, Hüterin hin oder her. Ich konnte es Liv nicht einmal verübeln, dass sie Angst hatte. Man musste schon ziemlich dumm sein, um keine zu haben – so wie ich.

»Du hast recht. Das hier ist etwas anderes. Und ich kann gut verstehen, wenn ihr nicht mitkommen wollt. Ich muss aber da rein. Irgendwo dort drin ist Lena.«

Link stieß das Tor auf und ging hinein, als wäre es die Jungsumkleide der Jackson High. »Was soll’s. Mit gefährlichen Geschöpfen kenn ich mich aus.«

Achselzuckend folgte ich ihm. Liv umklammerte den Riemen ihres Rucksacks fester, vermutlich um ihn, falls nötig, jemandem an den Kopf zu werfen. Zögernd machte sie einen Schritt nach vorn und sofort schloss sich das Tor hinter ihr.

Drinnen war es sogar noch finsterer als auf der Straße. Enorme Kristalllüster, die zwischen den blanken Rohren an der Decke ziemlich deplatziert wirkten, spendeten nur schummriges Licht. Abgesehen von den altmodischen Kronleuchtern war alles im Industrial-Rave-Look: ein riesiger freier Raum, der von runden, mit dunkelrotem Samt ausgekleideten Nischen gesäumt war. Einige besaßen dicke Vorhänge, die an Deckenschienen befestigt waren, um sie von den anderen Nischen abzutrennen. In einer Ecke befand sich eine Bar und dahinter war eine massive, runde Metalltür mit einem Griff.

Link hatte das Ding auch entdeckt. »Ist es das, wofür ich es halte?«

Ich nickte. »Ein Tresorraum.«

Die schmuckvollen Leuchter, die Bar, die eher wie ein Kundentresen aussah, die hohen Fenster, die kreuz und quer mit schwarzem Klebeband abgedichtet waren – denkbar wäre es, dass hier früher einmal eine Bank gewesen war. Falls Caster überhaupt so etwas wie Banken hatten. Ich fragte mich, was hinter der dicken Metalltür aufbewahrt worden war. Nein, vielleicht wollte ich die Antwort lieber doch nicht wissen.

Am seltsamsten waren allerdings die Leute – oder wie auch immer man die Anwesenden nennen wollte. Ihr Anblick erinnerte mich an Macons bizarre Party auf Ravenwood. Sie tauchten wie aus dem Nichts auf, nur um sich scheinbar wieder in Luft aufzulösen. Es war so, als würden sich mehrere Zeitebenen überlagern. Vornehm im Stil des 19. Jahrhunderts gekleidete Gentlemen, die aussahen wie Mark Twain, mit steifen weißen Krägen und gestreiften Seidenkrawatten, standen einträchtig neben Gothics und Punks in Lederkluft. Sie alle tranken, tanzten oder unterhielten sich.

»Mann, jetzt sag nur noch, dass diese durchsichtigen Typen da Gespenster sind.« Link wich vor einer schattenhaften Gestalt zurück und hätte um ein Haar eine andere umgerannt. Ich verzichtete darauf, ihm zu sagen, dass sie genau das waren. Ähnlich wie Genevieve damals auf dem Friedhof hatten sie nur zum Teil Gestalt angenommen. Bloß dass sich hier nicht nur eines, sondern Dutzende dieser seltsamen Wesen tummelten. Sie schwebten nicht hoch durch die Lüfte wie Gespenster in Trickfilmen, sondern gingen und tanzten wie ganz normale Menschen – nur dass sie dabei den Boden nicht berührten. Einer blickte zu uns herüber, nahm ein leeres Glas vom Tisch und erhob es in unsere Richtung.

Link versetzte Liv einen Knuff. »Bilde ich mir das ein oder hat uns der Geist da gerade zugeprostet?«

Liv stellte sich zwischen uns, ihre Haarspitzen streiften meinen Hals. Sie sprach ganz leise. »Genau genommen sind das keine Geister. Es sind Schemen – Seelen, die noch nicht in die Anderwelt gelangen konnten, weil sie noch etwas in der Welt der Caster oder der Sterblichen erledigen müssen. Keine Ahnung, weshalb heute Abend so viele von ihnen unterwegs sind, normalerweise sind es Einzelgänger. Das ist höchst merkwürdig.«

»Hier ist so gut wie alles merkwürdig.« Link beobachtete den Schemen mit dem Glas in der Hand. »Du hast meine Frage nicht beantwortet.«

»Ja, sie können alles in die Hand nehmen, was sie wollen. Wie sonst könnten sie Türen zuschlagen und Möbel in verwunschenen Häusern verrücken?«

Ich interessierte mich nicht für verwunschene Häuser. »Und was genau müssen sie erst noch erledigen?« Ich kannte genügend Tote, die noch eine Rechnung offen hatten. Und keinem von denen wollte ich heute Nacht über den Weg laufen.

»Etwas, das sie bei ihrem Tod ungelöst hinterlassen haben – einen machtvollen Fluch zum Beispiel, eine verlorene Liebe, ein erschütterndes Schicksal. Du kannst es dir aussuchen.«

Ich dachte an Genevieve und das Medaillon und fragte mich, wie viele Menschen so wie sie ihr Geheimnis mit ins Grab genommen hatten, wie viele Menschen auf dem Friedhof von Gatlin begraben waren, die noch eine Rechnung offen hatten.

Link begaffte ein Mädchen, dessen Hals mit kunstvollen Zeichen geschmückt war; sie ähnelten denen von Ridley und John. »Mit der würde ich gerne noch etwas Unerledigtes erledigen.«

»Sie wohl auch mit dir. Sie würde dich in null Komma nichts dazu bringen, von einer Felsklippe zu springen.«

Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen. Nirgends eine Spur von Lena. Je länger ich mich umsah, desto dankbarer war ich für das Schummerlicht. Die Nischen füllten sich allmählich mit Pärchen, die tranken und knutschten, und auf der Tanzfläche waren viele Mädchen, die tanzten und sich bewegten, als würden sie ein unsichtbares Netz spinnen. Seventeen Moons war verklungen, wenn es denn überhaupt je gespielt worden war. Jetzt war die Musik härter, rockiger, es klang wie eine Caster-Version von Nine Inch Nails. Die Mädchen waren ganz unterschiedlich angezogen, es gab alles, vom mittelalterlichen Gewand bis zu hautengem Leder. Einige sahen exakt aus wie Ridley – Miniröcke, schwarze Tanktops, rote, blaue oder violette Strähnchen im Haar. Sie umkreisten sich und spannen weiter ihr seltsames Netz. Vielleicht waren sie alle Sirenen, ich konnte es nicht sagen. Aber alle sahen fantastisch aus und alle hatten ein geheimnisvolles Tattoo wie Ridley.

»Sehen wir uns mal hinten um.« Ich ließ Link den Vortritt, sodass Liv zwischen uns beiden ging. Obwohl sie den Hals verrenkte und alles genau in Augenschein nahm, merkte ich doch, wie angespannt sie war. Das war kein Ort für Sterbliche, und ich fühlte mich verantwortlich, weil ich Liv und Link hierhergebracht hatte. Wir drückten uns dicht an der Wand entlang, um nicht aufzufallen, aber es war so voll, dass ich schon nach ein paar Schritten mit der Schulter gegen jemanden stieß. Gegen jemanden aus Fleisch und Blut.

»Entschuldigung«, sagte ich automatisch.

»Kein Problem.« Der Typ blieb stehen, denn er hatte Liv bemerkt. »Ganz im Gegenteil, es ist mir ein Vergnügen.« Er zwinkerte ihr zu. »Hast du dich verlaufen?« Er lächelte und seine schwarzen Augen glänzten. Liv blieb wie angewurzelt stehen. Die rote Flüssigkeit in seinem Glas schwappte, als der Mann sich zu ihr beugte.

Liv räusperte sich nervös. »Nein, alles bestens. Ich suche nur einen Freund.«

»Ich bin dein Freund.« Wieder lächelte er. Seine weißen Zähne leuchteten unnatürlich hell in dem Dämmerlicht des Clubs.

»Äh … tut mir leid, ich meine Freundin.« Liv umklammerte den Tragegurt des Rucksacks, und ich sah, dass ihre Hand zitterte.

»Wenn du sie gefunden hast, ich sitze dort drüben.« Er ging zur Bar, wo mehrere Inkubi Schlange standen, um ihre Gläser aus einem merkwürdigen gläsernen Zapfhahn mit roter Flüssigkeit nachzufüllen. Ich wollte lieber nicht so genau wissen, was für ein Getränk das war.

Link zog uns zu einem der Samtvorhänge an der Wand. »Ich kann mir nicht helfen, Leute, aber das war keine gute Idee von uns.«

»Wie bist du denn zu dieser schlauen Erkenntnis gekommen?«, sagte Liv, aber Link hatte jetzt keinen Sinn für Sarkasmus.

»Ich weiß nicht, vielleicht weil ich gesehen habe, was dieser Bursche trinkt. Ich fürchte, das war kein Punsch.« Er sah sich im Raum um. »Wer sagt eigentlich, dass sie hier sind, Mann?«

»Sie sind hier.« Es konnte gar nicht anders sein. Ich wollte Link gerade erzählen, dass ich den Song gehört hatte und jetzt irgendwie spürte, dass Lena in der Nähe war, als jemand mit pinkfarbenen Strähnchen in blonden Haaren über die Tanzfläche wirbelte.

Ridley.

Als sie uns sah, blieb sie unvermittelt stehen. Der Blick auf die Tanzfläche hinter ihr wurde frei. Und dort tanzte John Breed mit einem Mädchen. Sie hatte die Arme um seinen Hals geschlungen, seine Hände lagen auf ihren Hüften. Sie schmiegten sich eng aneinander und schienen alles um sich herum vergessen zu haben. Jedenfalls war es mir immer so gegangen, wenn ich meine Hände auf diese Hüften gelegt hatte. Bei dem Gedanken ballte ich unwillkürlich die Fäuste und mein Magen krampfte sich zusammen.

Ich wusste, dass sie es war, noch ehe ich ihre schwarzen Locken gesehen hatte.

Lena …

Ethan?