Einer gegen viele

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20.6.

Macon war stur wie ein Esel. Er war zwar nicht in der Verfassung, irgendwohin zu gehen, aber er wusste natürlich auch, dass uns nicht viel Zeit blieb, und war entschlossen, uns zu begleiten. Ich redete es ihm auch nicht aus, denn selbst ein geschwächter Macon Ravenwood konnte mehr bewirken als vier kraftlose Sterbliche zusammen. Das hoffte ich jedenfalls.

Der Weg, der vor uns lag, war klar. Er führte uns zu der mondbeschienenen Höhle. Liv und ich stützten Macon abwechselnd, der mühevoll einen Fuß vor den anderen setzte, und antworteten ihm auf alles, was er wissen wollte. Dann stellte ich ihm meine Fragen.

»Warum will Sarafine gerade jetzt den Siebzehnten Mond heraufbeschwören?«

»Je früher Lena berufen wird, desto sicherer werden die Dunklen Caster in Zukunft sein. Lenas Kräfte wachsen mit jedem Tag. Und je mehr Zeit vergeht, desto eher wird sie ihre eigene Entscheidung treffen. Wenn sie die Umstände meines Ablebens kennen würden, dann, so steht zu befürchten, würden sie Lenas Verwundbarkeit erst recht ausnutzen.«

Ich erinnerte mich daran, wie Hunting mir erzählt hatte, dass Lena für Macons Tod verantwortlich war. »Sie kennen die Umstände.«

»Ihr müsst mir alles sagen. Das ist von größter Wichtigkeit.«

Ridley schloss zu uns auf. »Seit Lenas Geburtstag sammelt Sarafine Kraft aus dem Dunklen Feuer, damit sie mächtig genug wird, um den Siebzehnten Mond heraufzubeschwören.«

»Sprichst du von dem Feuerzirkus im Wald?«, mischte Link sich ein. Bei ihm hörte es sich so an, als hätten ein paar Leute nachts aus Jux eine Mülltonne in Brand gesteckt.

Ridley schüttelte den Kopf. »Das war kein Dunkles Feuer. Es war eine Erscheinung, so wie Sarafine selbst auch. Sie hat sie hervorgerufen.«

Liv nickte. »Ridley hat recht. Das Dunkle Feuer ist die Quelle aller Magie. Wenn Caster ihre Kräfte in dieser Quelle bündeln, dann wird sie ungleich mächtiger. Eine Art übersinnliche Atombombe, sozusagen.«

»Du meinst, das Ding fliegt uns um die Ohren?« Mit einem Mal schien Link gar nicht mehr so wild entschlossen zu sein, es mit Sarafine aufzunehmen.

Ridley verdrehte die Augen. »Das tut es nicht, du Superhirn. Das Dunkle Feuer kann viel, viel größeren Schaden anrichten.«

Ich betrachtete den Vollmond, dessen Licht einen direkten Weg in die Höhle fand. Nicht der Mond war die Quelle für das Dunkle Feuer, sondern es war genau umgekehrt. Die Macht des Feuers wurde im Mond gesammelt. Und auf diese Weise berief Sarafine den Siebzehnten Mond vor seiner Zeit.

Macon beobachtete Ridley aufmerksam. »Und wieso wollte Lena unbedingt hierherkommen?«

»Ich habe sie dazu überredet, ich und John.«

»Wer ist dieser John und was hat er mit all dem zu tun?«

Ridley biss sich auf die purpurrot lackierten Fingernägel. »Er ist ein Inkubus oder wohl eher ein Mischwesen, halb Inkubus, halb Caster, und er verfügt über enorme Kräfte. Er hat andauernd von der Weltenschranke gesprochen und davon, wie vollkommen dort alles ist.«

»Wusste er, dass er Sarafine hier antreffen würde?«

»Nein, er ist ein Träumer. Er glaubt, dass die Weltenschranke alle seine Probleme löst, er hält sie für das Caster-Paradies.« Ridley schnitt eine Grimasse.

Ich sah Macon an, wie wütend er war. Die grünen Augen zeigten seine Gefühle deutlicher als zuvor die schwarzen. »Wie konnte es so weit kommen, dass du und ein Junge, der nicht einmal ein richtiger Inkubus ist, Lena zu einer so absurden Aktion überredet?«

Ridley wich seinem anklagenden Blick aus. »Das war nicht schwierig. Sie war in einer schlimmen Verfassung. Sie dachte, es gäbe keinen anderen Ort, an den sie gehen könnte.« Es war schwer, Ridley in ihre blauen Augen zu schauen, ohne daran zu denken, dass sie noch vor Kurzem eine Dunkler Caster gewesen war.

»Selbst wenn Lena sich die Schuld an meinem Tod gibt, wieso hat sie sich ausgerechnet euch beiden angeschlossen, einer Dunklen Caster und einem Dämon?« Macon hatte das nicht abschätzig gemeint, aber ich merkte, dass seine Bemerkung Ridley kränkte.

»Lena hasst sich selbst, sie ist davon überzeugt, dass sie Dunkel wird«, antwortete Ridley und sah mich dabei an. »Sie wollte an einen Ort gehen, an dem sie niemanden verletzen kann. Und John hatte ihr versprochen, auch dann noch für sie da zu sein, wenn sich niemand mehr um sie kümmert.«

»Ich wäre immer für sie da gewesen.« Meine Stimme hallte von den Felsen wider.

»Auch wenn sie Dunkel geworden wäre?«, fragte Ridley.

Alles passte zusammen. Lena war von Schuldgefühlen geplagt und machte sich Vorwürfe, und dann tauchte John auf und gab ihr die Antworten, die ich ihr nicht geben konnte.

Ich dachte daran, wie viel Zeit er und Lena allein miteinander verbracht hatten, wie viele Nächte in wie vielen düsteren Tunneln. John war kein Sterblicher. Er geriet nicht in Lebensgefahr, wenn sie sich berührten. John und Lena konnten alles tun, was sie wollten – alles, was Lena und ich niemals tun durften. Ich stellte mir vor, wie die beiden aneinandergeschmiegt im Dunkeln lagen. So wie ich und Liv in Savannah.

»Da ist noch etwas.« Ich musste es Macon sagen. »Sarafine war nicht allein. Abraham hat ihr geholfen.«

Macons Miene verdüsterte sich, aber sein Blick blieb unergründlich. »Abraham. Das überrascht mich nicht.«

»Und auch die Visionen sind jetzt anders. Abraham scheint mich zu sehen.«

Macon stolperte und hätte mich beinahe umgestoßen. »Bist du dir sicher?«

Ich nickte. »Er hat mich beim Namen gerufen.«

Macon sah mich an wie am Abend des Winterballs, als Lena zum ersten Mal tanzen ging. Als hätte er Mitleid mit mir wegen der Dinge, die ich tun musste, wegen der Verantwortung, die ich auf mich zu nehmen hatte. Er begriff nicht, dass ich es so wollte.

Macon sprach weiter, und ich versuchte, mich zu konzentrieren. »Ich hatte keine Ahnung, dass alles so schnell gehen würde. Du musst äußerst vorsichtig sein, Ethan. Wenn Abraham eine Verbindung mit dir hergestellt hat, dann kann er dich so klar und deutlich sehen wie du ihn.«

»Auch dann, wenn ich keine Vision habe?« Die Vorstellung, dass Abraham mich auf Schritt und Tritt beobachtete, war alles andere als beruhigend.

»Noch kann ich dir leider keine Antwort darauf geben, und solange das so ist, solltest du auf der Hut sein.«

»Das werde ich auch – aber erst nachdem wir gegen eine Armee von Inkubi gekämpft haben, um Lena zu retten.« Je länger wir darüber sprachen, desto undurchführbarer kam mir unser Plan vor.

Macon sah Ridley fragend an. »Hat dieser John etwas mit Abraham zu tun?«

»Ich weiß es nicht. Abraham hat Sarafine davon überzeugt, dass sie den Siebzehnten Mond heraufbeschwören kann.« Ridley sah elend, erschöpft und ziemlich schmutzig aus.

»Ridley, du musst mir alles sagen, was du weißt.«

»Ich war nur einer von den kleinen Fischen, Onkel Macon. Ich habe Abraham ja nicht mal mit eigenen Augen gesehen. Alles, was ich weiß, hat mir Sarafine erzählt.« Kaum zu glauben, dass dies dasselbe Mädchen war, das meinen Vater um ein Haar dazu gebracht hätte, sich in den Tod zu stürzen. So traurig und verzagt hatte ich Ridley noch nie gesehen.

»Sir?«, fragte Liv zögernd. »Mir will eines nicht aus dem Kopf gehen. In der Lunae Libri liegen Hunderte Stammbäume von Castern und Inkubi, Hunderte von Jahren Geschichte sind dort aufgezeichnet. Wie ist es möglich, dass jemand aus dem Nichts auftaucht und es keinerlei Dokumente über ihn gibt? Ich spreche von John Breed.«

»Genau das Gleiche habe ich mich auch gefragt.« Macon ging weiter, auch wenn es ihm sichtlich Mühe bereitete. »Er ist also kein Inkubus.«

»Genau genommen nicht«, bestätigte Liv.

»Aber er ist so mächtig wie ein Inkubus.« Ich kickte die Steine unter meinen Füßen weg.

»Na und? Ich würde es jederzeit mit ihm aufnehmen«, sagte Link achselzuckend.

Ridley, die ein paar Schritte zurückgefallen war, holte uns ein. »Er trinkt kein Blut, Onkel M. Das wäre mir aufgefallen.«

»Interessant.«

Liv nickte zustimmend. »Sehr interessant.«

»Olivia, wenn du gestattest …« Macon streckte den Arm aus. »Gibt es auf deiner Seite des Atlantiks Mischwesen?«

Liv löste mich ab und Macon stützte sich jetzt wieder auf ihre Schulter. »Mischwesen?«, wiederholte sie. »Hoffentlich nicht.«

Während Liv mit Macon weiterging, blieb ich zurück. Ich zog Lenas Halskette aus meiner Tasche und ließ die Glücksbringer in meiner Hand hin und her gleiten. Ohne Lena war es nur ein wirres Knäuel ohne jede Bedeutung. Die Halskette war schwerer, als ich sie in Erinnerung hatte, aber vielleicht war es auch nur mein Gewissen, das mich so drückte.

Wir standen an einer Klippe direkt über dem Höhleneingang und ließen unsere Blicke über die Küste schweifen. Die Höhle aus schwarzem Vulkangestein war riesig. Der Mond stand so tief, als würde er jeden Augenblick vom Himmel fallen. Eine Horde Inkubi bewachte den Eingang, direkt vor ihnen brachen sich die Wellen an den schwarzen Felsen und kleine Rinnsale umspülten ihre Stiefel.

Das Mondlicht war nicht das einzig Auffällige an der Höhle. Eine Schar Vexe stieg in einem Kreis vom Wasser auf und wieder herab. Die huschenden schwarzen Schatten sausten zum Eingang der Höhle hinein und zur Deckenöffnung wieder hinaus, alle in einer Richtung, wie bei einem übernatürlichen Mühlrad. Ich sah zu, wie ein Vex vom Wasser emporstieg, seine flirrende Gestalt spiegelte sich klar und deutlich im Wasser.

Macon deutete auf die gespenstischen Wesen. »Sarafine benutzt sie, um das Dunkle Feuer zu nähren.«

Es war eine ganze Armee, gegen die wir kaum etwas ausrichten konnten. Es war noch schlimmer als befürchtet, unser Vorhaben, Lena zu retten, schien aussichtsloser denn je. Aber wenigstens hatten wir Macon. »Und was machen wir jetzt?«, fragte ich ihn.

»Ich werde euch helfen, in die Höhle zu gelangen, aber Lena musst du allein suchen. Schließlich bist du der Lotse.«

Er wollte uns helfen, in die Höhle zu gelangen? Machte er sich lustig über uns?

»Das hört sich an, als wollten Sie nicht mitkommen.«

Macon rutschte ein Stück den Abhang hinunter, bis er auf einem Felsvorsprung zu stehen kam. »Diese Annahme ist durchaus richtig.«

Ich versuchte, mir meinen Ärger nicht anmerken zu lassen. »Soll das ein Witz sein? Sie haben es doch selbst gesagt. Glauben Sie wirklich, wir vier könnten Lena retten – eine Sirene, die ihre Kräfte verloren hat, ein Sterblicher, der nie welche hatte, eine Bibliothekarin und meine Wenigkeit? Denken Sie wirklich, wir könnten es mit einer Bande von Blut-Inkubi aufnehmen und mit so vielen Vexen, dass man damit ein ganzes Luftgeschwader vom Himmel holen könnte? Ja? Wenn Sie irgendeinen Plan haben, dann wäre jetzt der richtige Moment, ihn auf den Tisch zu legen.«

Macon schaute zum Mond hinauf. »Ich werde euch helfen, aber ich werde es von hier aus tun. Vertraut mir. Es geht nicht anders.«

Ich starrte ihn fassungslos an. Er meinte es wirklich ernst. Er schickte uns allein in die Höhle. »Falls Sie uns damit beruhigen wollten, dann haben Sie genau das Gegenteil erreicht.«

»Dort unten wartet eine Schlacht und es ist weder meine Schlacht noch die deiner Freunde. Es ist allein deine, mein Sohn. Du bist ein Lotse, ein Sterblicher, auf den große Aufgaben warten. Seit ich dich kenne, kämpfst du – gegen die selbstsüchtigen Frauen von der TAR, gegen den Disziplinarausschuss, gegen den Sechzehnten Mond, sogar gegen deine eigenen Freunde. Ich bin sicher, du findest einen Weg.«

Ja, ich hatte im letzten Jahr gekämpft, aber das war kein Trost. Mrs Lincoln sah vielleicht so aus, als wollte sie einem den Hals umdrehen – aber sie tat es nicht wirklich. Was dort unten auf mich wartete, war etwas völlig anderes.

Macon zog etwas aus seiner Tasche und drückte es mir in die Hand. »Das ist alles, was ich habe, denn meine letzte Reise war sehr überstürzt, und ich hatte keine Zeit zu packen.« Ich blickte auf das schmale goldene Viereck. Es war ein winzig kleines Buch, das mit einer Schnalle verschlossen war. Ich drückte dagegen und die Schnalle sprang auf. Im Buch war ein Bild meiner Mutter als junges Mädchen. So hatte sie in den Visionen ausgesehen. Es war seine Jane.

Macon sah mich nicht an. »Ich hatte es zufällig bei mir, was sagt man dazu?« Aber der kleine Glücksbringer war abgegriffen und zerkratzt, und zweifellos trug Macon ihn heute bei sich wie an jedem anderen Tag auch, seit wer weiß wie vielen Jahren. »Es wird dir Kraft verleihen, Ethan, wie es auch mir immer Kraft verliehen hat. Vergessen wir nie, dass Lila Jane eine starke Frau war. Sie hat mir das Leben gerettet, sogar noch aus dem Grab.«

Ich kannte den Blick auf dem Foto. Ich hatte immer gedacht, so hätte sie nur mich angesehen. So hatte sie mich angesehen, als ich im Auto zum ersten Mal die Verkehrsschilder vorlas, obwohl alle dachten, ich könnte noch gar nicht lesen. So hatte sie mich angesehen, als ich heimlich von Ammas Buttermilchkuchen genascht hatte und danach in ihrem Bett schlief, weil ich Bauchschmerzen hatte, die fast so wild waren wie die zornige Amma. So hatte sie mich an meinem ersten Schultag, nach meinem ersten Basketballspiel, nach meinem ersten Liebeskummer angesehen.

Genau diesen Blick warf sie mir jetzt aus dem winzigen Buch zu. Sie würde mich nicht im Stich lassen. Und Macon auch nicht. Vielleicht hatte er ja tatsächlich einen Plan. Er war dem Tod schon einmal von der Schippe gesprungen.

Ich steckte das Buch in meine Hosentasche zu Lenas Halskette.

»Warte mal«, meldete sich Link zu Wort. »Ich bin echt froh, dass du das kleine goldene Buch hast und so, aber da unten sind angeblich das Blutrudel und der Vampirboy und Lenas Mutter und der Imperator oder was auch immer dieser Abraham ist. Und als ich das letzte Mal gecheckt habe, war von Han Solo leider weit und breit nichts zu sehen. Meinst du nicht, du bräuchtest etwas Schlagkräftigeres als dieses Goldding?«

Ridley stand hinter ihm und nickte. »Link hat recht. Vielleicht kannst du Lena retten, aber dazu musst du erst mal an sie herankommen.«

Link appellierte an Macon. »Können Sie nicht doch mitkommen, Mr Ravenwood, und uns ein paar dieser Kerle vom Hals schaffen?«

Macon zog die Augenbrauen hoch. »Unglücklicherweise hat mich meine Kerkerhaft etwas geschwächt …«

»Er vollzieht die Verwandlung, Link«, erklärte Liv. »Er kann jetzt unmöglich da hinein. Er ist viel zu verletzlich.« Sie ergriff wieder einmal Macons Partei.

»Inkubi sind unglaublich stark und schnell«, bestätigte Macon. »In meinem jetzigen Zustand kann ich es mit keinem von ihnen aufnehmen.«

»Aber ich kann es.« Die Stimme kam aus dem Nichts und zerriss die Nacht. Die Sprecherin trug einen langen schwarzen Mantel mit hohem Kragen und abgewetzte schwarze Stiefel. Ihr braunes Haar wehte im Wind.

Ich erkannte den Sukkubus sofort wieder; ich hatte sie auf Macons Beerdigung gesehen.

Macon war ebenso überrascht, sie zu sehen, wie wir. »Leah?«

Es war Leah Ravenwood, Macons Schwester. Sie schlang den Arm um seinen Rücken und stützte ihn. Als sie Macons Augen sah, sagte sie: »Grün, wie? Es wird wohl eine Zeit lang dauern, bis ich mich daran gewöhnt habe.« Sie legte den Kopf an seine Schulter, wie es Lena immer getan hatte.

»Wie hast du uns aufgespürt?«

Sie lachte. »In allen Tunneln spricht man von dir. Auf den Straßen munkelt man, dass sich mein großer Bruder mit Abraham anlegen will. Und wie ich gehört habe, ist er nicht gerade bestens auf dich zu sprechen.«

Leah war jene Schwester, die Arelia mit nach New Orleans genommen hatte, als sie Macons Vater verließ. Ich hatte in einer der Visionen von ihr gehört.

»Dunkel und Licht werden immer sein, was sie gewesen sind.«

Link stand hinter ihnen und sah mich fragend an. Ich wusste, was er wollte. Er wartete darauf, dass ich das Zeichen gab. Kämpfen oder fliehen. Keiner konnte sagen, was Leah Ravenwood von uns wollte oder weshalb sie gekommen war. Aber wenn sie tatsächlich wie Hunting war und sich von Blut statt von Träumen ernährte, mussten wir schleunigst verschwinden. Ich warf Liv einen Blick zu. Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. Sie war ebenfalls ratlos.

Macon lächelte, was er selten tat. »Nun, was tust du hier, meine Liebe?«

»Ich bin hier, weil ich für Ausgleich sorgen will. Und wie du weißt, geht für mich nichts über einen gepflegten Kleinkrieg in der Familie.« Leah lächelte. Sie schüttelte leicht ihr Handgelenk und plötzlich hielt sie einen langen Stab aus poliertem Holz in der Hand. »Und ich habe einen großen Stock dabei.«

Macon war offensichtlich im Zwiespalt. Er wusste nicht, ob er erleichtert oder besorgt sein sollte. Auf jeden Fall war er verblüfft.

»Weshalb gerade jetzt? Du kümmerst dich doch sonst nicht um Caster-Angelegenheiten.«

Leah griff in ihre Tasche und zog ein Gummiband hervor, mit dem sie ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammenband. »Das ist kein Caster-Kampf, jetzt nicht mehr. Wenn die Ordnung der Dinge zerstört wird, dann betrifft das alle.«

Macon warf ihr einen vielsagenden Blick zu, etwa so, wie wenn Erwachsene sich zu verstehen geben: Nicht vor den Kindern, bitte.

»Die Ordnung der Dinge hat seit Anbeginn der Zeiten Bestand. Um sie zu zerstören, braucht es mehr als eine Kataklystin, würde ich sagen.«

Lächelnd schwang Leah ihren Stock. »Es wird Zeit, dass jemand Hunting Manieren beibringt. Meine Beweggründe sind so rein wie das Herz eines Sukkubus.«

Macon lachte, als sie das sagte. Ich fand das allerdings gar nicht lustig. Dunkel oder Licht – mir war egal, auf welche Seite Leah Ravenwood sich schlug. Ich hatte wichtigere Dinge im Kopf.

»Wir müssen Lena suchen.«

Leah nahm ihren Stab. »Ich habe darauf gewartet, dass du das sagst.«

Link räusperte sich. »Ähm, ich möchte nicht unhöflich sein, Ma’am. Aber wie es aussieht, sind Hunting und sein Blutrudel da unten in der Höhle. Verstehen Sie mich nicht falsch, Sie scheinen ja wirklich knallhart zu sein. Trotzdem … Sie sind nur eine Frau mit einem Stock.«

»Dies hier«, blitzschnell schwang sie den Stab direkt vor Links Nase, »ist ein Sukkubus-Stab und kein gewöhnlicher Stock. Und ich bin auch keine gewöhnliche Frau. Ich bin ein Sukkubus. Bei uns sind die Frauen im Vorteil. Wir sind schneller und stärker und schlauer als unsere männlichen Artgenossen. Ich bin so etwas Ähnliches wie die Gottesanbeterin der übernatürlichen Welt.«

»Sind das nicht diese Heuschrecken, die den Männchen den Kopf abbeißen?«, fragte Link skeptisch.

»Ganz genau. Und danach fressen sie sie auf.«

Welche Vorbehalte Macon gegenüber Leah auch haben mochte, er schien froh zu sein, dass sie uns begleiten wollte. Aber er gab ihr noch einen letzten Ratschlag mit auf den Weg. »Larkin ist groß geworden, seit du ihn zum letzten Mal gesehen hast. Er ist jetzt ein geschickter Illusionist. Sei vorsichtig. Und wie du gehört hast, hat Hunting seine blindwütige Gefolgschaft bei sich, das Blutrudel.«

»Mach dir keine Sorgen, großer Bruder. Ich habe auch ein liebes Tierchen.« Leah deutete nach oben. Ein wilder Berglöwe, etwa so groß wie ein Schäferhund, rekelte sich auf einem Felsen, der Schwanz hing lässig nach unten. »Bade!« Die Katze sprang mit einem Satz auf und ließ fauchend zwei Reihen scharfer Zähne sehen. Dann kam sie herunter an Leahs Seite. »Bade kann es gar nicht erwarten, mit Huntings Hündchen zu spielen. Wie man so schön sagt: Sie sind wie Hund und Katz.«

Ridley flüsterte Liv zu: »Bade ist der Voodoo-Gott des Windes und der Stürme. Nicht gerade jemand, mit dem man sich anlegen möchte.« Wind und Stürme erinnerten mich an Lena, und das flaue Gefühl, das mich beim Anblick dieser Riesenkatze beschlichen hatte, legte sich ein wenig.

»Anschleichen und aus dem Hinterhalt angreifen sind ihre Spezialität.« Leah kraulte Bade hinter den Ohren.

Als sie die wilde Katze sah, kam Lucille herbeigesprungen und schlug verspielt mit der Pfote nach ihr. Bade stupste sie mit der Nase an.

Leah bückte sich und hob Lucille hoch. »Na, wie geht es meiner Süßen?«

»Woher kennen Sie die Katze meiner Großtanten?«

»Ich war dabei, als sie auf die Welt gekommen ist. Sie hat meiner Mutter gehört, die sie deiner Tante Prue schenkte, damit sie sich in den Tunneln zurechtfand.« Leah setzte Lucille wieder ab, woraufhin diese sich zwischen Bades Pfoten rekelte.

Ich war mir nicht sicher gewesen, was ich von Macons Schwester halten sollte, aber Lucille hatte ein untrügliches Gespür. Sie hatte eine gute Menschenkenntnis, auch wenn sie eine Katze war.

Genauer gesagt eine Caster-Katze. Was auch sonst?

Leah steckte den Stab in ihren Gürtel, das Gespräch war beendet. »Bist du bereit?«

Macon streckte die Hand aus und ich ergriff sie. Ich spürte die außergewöhnliche Kraft seines Händedrucks. Es war, als würden wir eine Art Caster-Gespräch führen, das ich nicht verstand. Dann ließ ich seine Hand los. Ob ich ihn wohl jemals wiedersehen würde?

Ich ging voran, und meine Freunde, so unterschiedlich sie auch waren, folgten mir. Meine Freunde, dazu ein Sukkubus und ein Berglöwe, der nach dem Gott des Winds aus dem Voodoo-Kult benannt war. Ich konnte nur hoffen, dass das reichte.