Hinter dem Spiegel
18.6.
Meine Tante Caroline wohnte in der East Liberty Street, nahe der Kathedrale, die dem heiligen Johannes dem Täufer geweiht war. Ich hatte meine Tante schon ein paar Jahre lang nicht mehr besucht, aber ich wusste, dass man die Bull Street entlanggehen musste, denn ihr Haus lag an der historischen Straßenbahnlinie, die dort verlief. Außerdem führten die Straßen vom Park zum Fluss hinunter, und hinter jedem zweiten Block lag ein großer Platz, an dem man sich orientieren konnte. Es war schwierig, sich in Savannah zu verlaufen, ein Lotse brauchte man jedenfalls nicht zu sein, um sich zurechtzufinden.
Zwischen Savannah und Charleston gab es historische Touren zu fast jedem Thema. Plantagen-Touren, Kochen-wie-in-den-Südstaaten-Touren, Touren zur Erinnerung an die Töchter der Konföderierten, Gespenster-Touren (die mochte ich am liebsten) und nicht zuletzt die klassische Tour zu den historischen Gebäuden. Seit ich denken konnte, war Tante Carolines Haus eine Station auf dieser Tour. Ihre Liebe zum Detail war sprichwörtlich, nicht nur in unserer Familie, sondern in ganz Savannah. Sie war die Leiterin des hiesigen Historischen Museums, und sie wusste so gut über die Geschichte jedes einzelnen Hauses, jedes einzelnen Denkmals und jedes einzelnen Skandals in der sogenannten Stadt der Eichen Bescheid, wie meine Mutter über den Bürgerkrieg Bescheid wusste. Und das war keine Kleinigkeit, denn Skandale gab es hier mindestens so viele wie Besichtigungstouren.
»Bist du sicher, dass du dich hier auskennst, Mann? Wir sollten eine Pause machen und uns was zu essen organisieren. Für einen Burger könnte ich glatt einen Mord begehen.« Link vertraute der Ortskenntnis des Bogenlichts mehr als meiner.
»Wir gehen einfach in Richtung Fluss. Früher oder später werden wir auf die East Liberty Street stoßen. Siehst du …« Ich zeigte auf den Turm der Kathedrale, der ein paar Blocks vor uns aufragte. »Das ist St. Johns. Wir sind gleich da.«
Zwanzig Minuten später liefen wir immer noch in der Nähe der Kathedrale im Kreis herum. Liv und Link wurden allmählich ungeduldig und ich konnte es ihnen nicht verdenken. Ich suchte die East Liberty Street in alle Richtungen ab, in der Hoffnung, etwas Bekanntes zu sehen. »Es ist ein gelbes Haus.«
»Gelb scheint hier eine beliebte Farbe zu sein. Jedes zweite Haus in dieser Straße ist gelb.« Liv war sauer auf mich. Ich hatte sie jetzt schon dreimal um den Block gescheucht.
»Ich dachte, es wäre in der Nähe des Lafayette Square«, sagte ich vage.
»Ich schlage vor, wir besorgen uns ein Telefonbuch und schauen die Nummer deiner Tante nach«, erwiderte Liv entnervt und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Ich kniff die Augen zusammen, denn ich hatte am Straßenrand eine Person erspäht. »Wir brauchen kein Telefonbuch. Es ist das Haus am Ende des Blocks.«
Liv verdrehte die Augen. »Und woher weißt du das jetzt auf einmal?«
»Weil Tante Del davorsteht.«
Es war wirklich verrückt, zuerst waren wir durch einen Caster-Tunnel marschiert und dann in einer Art Parallelzeit in Savannah gelandet, und jetzt stießen wir zu allem Überfluss auch noch auf Lenas Tante Del, die an der Bordsteinkante stand und winkte. Sie hatte uns ganz offensichtlich schon erwartet.
»Ethan! Ich bin so froh, dass ich dich endlich gefunden habe. Ich habe euch schon überall gesucht – in Athen, in Dublin, in Kairo.«
»Sie haben uns in Griechenland, Irland und Ägypten gesucht?«, fragte Liv verblüfft.
Auch ich wunderte mich über Tante Dels Erscheinen, aber zumindest das geografische Missverständnis konnte ich rasch aufklären. »Nicht in Griechenland, Irland oder Ägypten, sondern in Georgia. Athen, Dublin und Kairo sind Städte in Georgia.«
Liv wurde rot. Manchmal vergaß ich, dass sie so fremd in Gatlin war wie Lena, nur auf eine andere Art.
Tante Del nahm meine Hand und tätschelte sie liebevoll. »Arelia wollte vorherdeuten, wo du hingehst, aber dann hat sie nur herausfinden können, dass du dich in Georgia aufhältst. Leider ist Weissagung mehr Kunst als Wissenschaft. Den Sternen sei Dank, dass ich euch gefunden habe.«
»Was tust du hier, Tante Del?«
»Lena ist verschwunden. Wir hatten gehofft, dass sie bei dir ist.« Sie seufzte, weil ihr bewusst wurde, dass sie sich geirrt hatte.
»Sie ist nicht bei mir, aber ich glaube ganz sicher, dass ich sie finde.«
Tante Del strich ihr zerknittertes Kleid glatt. »Dann werde ich dir dabei helfen.«
Link kratzte sich am Kopf und sah mich zweifelnd an. Er hatte Tante Del zwar schon kennengelernt, allerdings nie miterlebt, wie hervorragend sie als Zeitenleserin war. Natürlich fragte er sich, wie eine leicht verwirrte alte Frau uns helfen könnte. Aber ich wusste es besser, denn ich hatte bereits eine finstere Nacht lang mit ihr zusammen am Grab von Genevieve Duchannes verbracht.
Ich betätigte den schweren eisernen Türklopfer. Tante Caroline öffnete und wischte sich die Hände an ihrer M.A.U.S.-Schürze ab: »Mädchen aus unserem Süden«. Sie lächelte und hatte dabei kleine Fältchen um die Augen.
»Ethan, was in aller Welt machst du hier? Ich hatte ja keine Ahnung, dass du nach Savannah kommen wolltest.«
Ich hatte nicht so weit gedacht, mir eine gute Ausrede zurechtzulegen, deshalb musste ich mit einer schlechten vorliebnehmen. »Ich bin hier … um einen Freund zu besuchen.«
»Wo ist Lena?«
»Sie konnte nicht mitkommen.« Ich trat einen Schritt von der Tür zurück, um die anderen vorzustellen und meine Tante vom Thema abzulenken. »Link kennst du ja schon und das sind Liv und Lenas Tante Delphine.« Ich machte mir keine Illusionen. Sobald ich wieder weg war, würde Tante Caroline schnurstracks meinen Vater anrufen und ihm erzählen, wie nett der kleine Plausch mit mir gewesen sei. So viel dazu, dass ich Amma verheimlichen könnte, wo ich mich herumtrieb. Die Chancen standen schlecht, dass ich meinen siebzehnten Geburtstag erleben würde.
»Nett, Sie wiederzusehen, Ma’am«, sagte Link höflich. Er war eben ein echter Kumpel, auf den man sich immer verlassen konnte.
Ich überlegte, ob es wohl irgendjemanden in Savannah gab, den meine Tante nicht kannte. Es war schwer vorstellbar; Savannah war zwar größer als Gatlin, aber eines hatten alle Städte im Süden gemeinsam: Jeder kannte jeden.
Tante Caroline führte uns alle ins Haus. Sie verschwand kurz und kehrte dann mit süßem Tee und einem Teller Benne Babys zurück, Plätzchen mit Ahornsirup, die sogar noch süßer waren als der Tee. »Heute war ein seltsamer Tag.«
»Wie meinst du das?« Ich nahm mir ein Plätzchen.
»Heute Morgen, als ich im Museum war, ist hier jemand eingebrochen. Seltsamerweise hat der Eindringling nichts mitgenommen. Er hat nur den gesamten Speicher durchwühlt, der Rest des Hauses blieb unangetastet.«
Ich warf Liv einen Blick zu. Ich glaubte nicht an Zufälle. Tante Del offenbar auch nicht. Sie blinzelte leicht benommen. Vermutlich fiel es ihr schwer, all die Dinge auseinanderzuhalten, die sich in diesem Raum ereignet hatten, seit das Haus im Jahr 1820 erbaut worden war. Während wir hier saßen und Plätzchen aßen, durchlebte sie wahrscheinlich gerade die letzten zweihundert Jahre. Ich dachte zurück an die Nacht auf dem Friedhof bei Genevieves Grab und daran, was Tante Del über ihre eigene Gabe gesagt hatte. Ein Palimpsest zu sein, sei eine große Ehre, aber eine noch viel größere Last.
Ich überlegte, was Tante Caroline besaß, das sich zu stehlen lohnte. »Was hast du denn auf dem Dachboden verstaut?«
»Ach, nichts Besonderes. Weihnachtsschmuck, Baupläne des Hauses, einige alte Aufzeichnungen deiner Mutter.«
Liv stieß mich unter dem Tisch an. Bestimmt dachten wir das Gleiche. Warum lagen diese Aufzeichnungen nicht im Archiv?
»Was sind das für Aufzeichnungen?«
Tante Caroline legte noch ein paar Plätzchen auf den Teller. Link futterte sie schneller auf, als meine Tante Nachschub holen konnte. »Ich weiß nicht genau. Ungefähr einen Monat vor ihrem Tod fragte Lila mich, ob sie ein paar Kisten hier aufbewahren könne. Du weißt ja, deine Mutter mit ihren vielen Aktenordnern.«
»Darf ich die Sachen mal sehen? Ich arbeite in den Sommerferien nämlich in der Bibliothek bei Tante Marian, vielleicht interessiert sie sich dafür.« Ich versuchte, meine Frage so beiläufig wie möglich zu stellen.
»Natürlich, allerdings herrscht da oben das reinste Chaos.« Tante Caroline nahm den leeren Teller. »Ich muss jetzt ein paar Anrufe erledigen und den Polizeibericht ausfüllen. Also, falls du mich brauchst, ich bin hier unten.«
Tante Caroline hatte recht, auf dem Dachboden herrschte Chaos. Überall lagen Kleider und Unterlagen verstreut. Jemand hatte sämtliche Kisten auf einen großen Haufen gekippt. Liv sammelte einige der herumliegenden Papiere auf.
»Wie zum …« Link warf einen verlegenen Blick auf Tante Del. »Ich wollte sagen, wie um alles in der Welt sollen wir hier etwas finden? Wonach suchen wir überhaupt?« Er trat so heftig gegen einen leeren Karton, dass er davonflog.
»Nach allem, was meiner Mutter gehört haben könnte. Irgendjemand hat hier nach etwas ganz Bestimmtem Ausschau gehalten.«
Jeder begann, eine andere Ecke des Haufens zu durchwühlen.
Tante Del stieß auf eine Hutschachtel mit Patronenhülsen und Gewehrkugeln aus dem Bürgerkrieg. »Da war einmal ein hübscher Hut drin.«
Ich hob einen alten Schuljahresbericht meiner Mutter auf und eine Beschreibung des Schlachtfelds von Gettysburg. Es war bezeichnend, wie zerschlissen die Schlachtfeldbeschreibung war, verglichen mit dem Jahresbericht. Typisch meine Mutter.
Liv kniete über einem Stapel Papier. »Ich glaube, ich habe was gefunden. Es sieht jedenfalls so aus, als hätte es deiner Mutter gehört, aber ich nehme nicht an, dass es wichtig ist – es sind alte Zeichnungen von Ravenwood Manor und ein paar Notizen zur Geschichte Gatlins.«
Alles, was mit Ravenwood zu tun hatte, war interessant. Liv gab mir die Papiere und ich überflog sie. Es waren Aufzeichnungen aus dem Bürgerkrieg, vergilbte Ansichten von Ravenwood Manor und von anderen alten Gebäuden der Stadt – von der Historischen Gesellschaft, dem alten Feuerwehrhaus, sogar von unserem Haus Wates Landing. Trotzdem konnte ich nicht allzu viel damit anfangen.
»Komm her, miez, miez. Seht mal, ich hab einen Freund für …« Link hob eine Katze auf, ließ sie aber gleich wieder fallen, als er bemerkte, dass sie ausgestopft war und ein schäbiges schwarzes Fell hatte. »… für Lucille.«
»Es muss noch etwas anderes da sein. Derjenige, der die Sachen durchwühlt hat, war ganz sicher nicht an Aufzeichnungen aus dem Bürgerkrieg interessiert.«
Liv zuckte ratlos mit den Schultern. »Vielleicht hat der Einbrecher gefunden, was er suchte.«
Ich sah Tante Del an. »Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.«
Ein paar Minuten später saßen wir alle mit untergeschlagenen Beinen auf dem Fußboden wie bei einem Lagerfeuer. Oder bei einer Séance zur Geisterbeschwörung.
»Ich weiß wirklich nicht, ob das eine gute Idee ist«, sagte Tante Del.
»Es ist die einzige Möglichkeit zu erfahren, wer hier eingebrochen ist und warum.«
Tante Del nickte, aber ganz überzeugt war sie nicht. »Nun gut. Denkt daran: Wenn euch schlecht wird, legt den Kopf auf die Knie. Und jetzt fasst euch bei den Händen.«
Link murmelte entgeistert: »Was faselt sie denn da? Wieso sollte uns schlecht werden?«
Ich nahm Livs Hand und schloss den Kreis. Ihre Hand lag weich und warm in meiner. Aber noch ehe ich ins Grübeln verfallen konnte, weil wir beide Händchen hielten, tauchten plötzlich Bilder vor mir auf …
Ein Bild kam nach dem anderen – wie wenn sich Türen öffneten und wieder schlossen. Jedes Bild rief ein weiteres hervor, sie folgten aufeinander wie Dominosteine oder wie die Bilder der Daumenkinos, die ich als kleines Kind so gerne angesehen hatte.
Lena, Ridley und John kippen Kisten auf dem Dachboden aus …
»Es muss hier sein. Sucht weiter.« John wirft alte Bücher achtlos auf den Boden.
»Woher willst du das so genau wissen?« Lena greift in eine Schachtel, ihre Hände sind mit schwarzen Mustern bemalt.
»Sie wusste, wie man sie findet, sogar ohne den Stern.«
Eine andere Tür öffnete sich. Tante Caroline, sie schiebt Kisten auf dem Speicher hin und her. Sie kniet sich vor eine Schachtel, in der ein altes Foto meiner Mutter liegt; sie streicht mit der Hand über das Bild und schluchzt.
Die nächste Tür. Meine Mutter, ihre Haare fallen locker auf ihre Schultern, nur zurückgehalten von der roten Lesebrille, die sie wie ein Haarband hochgeschoben hat. Ich sehe sie so deutlich, als stünde sie leibhaftig vor mir. Hastig schreibt sie etwas in ein abgegriffenes ledernes Tagebuch. Dann reißt sie das Blatt heraus, faltet es zusammen und steckt es in einen Umschlag. Sie schreibt etwas auf die Vorderseite des Umschlags und schiebt ihn in den hinteren Einband des Tagebuchs. Dann zieht sie eine alte Truhe von der Wand und löst ein Paneel der Holztäfelung. Sie blickt sich um, als fürchte sie, beobachtet zu werden. Dann steckt sie das Tagebuch in die schmale Öffnung …
Tante Del ließ meine Hand los.
»Heilige Scheiße!« Link hatte völlig vergessen, wie man sich in Gegenwart einer Dame benimmt. Er war ganz grün im Gesicht und nahm den Kopf zwischen die Knie, als würde er sich auf eine Bruchlandung gefasst machen. Seit dem Tag, als ihn Savannah Snow dazu überredet hatte, eine alte Flasche Pfefferminzschnaps auszutrinken, hatte ich Link nicht mehr in diesem Zustand gesehen.
»Es tut mir furchtbar leid. Ich weiß, wie schwer es ist, nach einer solchen Reise wieder zu sich zu kommen.« Tante Del klopfte ihm tröstend auf die Schulter. »Fürs erste Mal hast du dich wacker geschlagen.«
Ich hatte keine Zeit, über das Gesehene nachzudenken. Ich konzentrierte mich ganz auf den einen Satz: Sie wusste, wie man sie findet, sogar ohne den Stern. John hatte von der Weltenschranke gesprochen. Er glaubte, meine Mutter hätte etwas über sie gewusst, hätte vielleicht etwas darüber in ihr Tagebuch geschrieben. Liv und ich hatten den gleichen Gedanken, denn wir liefen gleichzeitig zu der alten Truhe.
»Sie ist schwer, sei vorsichtig.« Ich zog die Truhe langsam von der Wand weg. Sie fühlte sich an, als hätte jemand Ziegelsteine hineingelegt.
Liv lockerte die Vertäfelung, zögerte aber, in die Öffnung zu greifen. Ich tat es und fühlte sofort den brüchigen Ledereinband. Ich zog das Tagebuch heraus, es lag schwer in meiner Hand. Dieses Buch hatte meiner Mutter gehört, es war ein Stück von ihr. Ich schlug die letzte Seite auf, wo der Brief steckte. Sofort sprang mir die elegante Handschrift meiner Mutter ins Auge.
Macon
Ich riss den Umschlag auf und entfaltete ein einzelnes Blatt Papier.
Wenn du das liest, dann konnte ich nicht mehr rechtzeitig zu dir kommen, um es dir selbst zu sagen. Es steht viel schlechter, als wir beide dachten. Vielleicht ist es schon zu spät. Aber wenn es jemanden gibt, der verhindern kann, dass unsere schlimmsten Befürchtungen wahr werden, dann bist du es.
Abraham lebt. Er hat sich versteckt. Und er ist nicht allein. Sarafine ist bei ihm, sie ist ihm eine so ergebene Anhängerin wie einst dein Vater.
Du musst sie aufhalten, ehe es zu spät ist.
LJ
Meine Augen blieben am Ende der Seite hängen. LJ. Lila Jane. Und noch etwas anderes fiel mir auf – das Datum. Es war, als hätte mir jemand einen Schlag in den Magen versetzt. Der 21. März. Einen Monat, bevor meine Mutter verunglückte. Einen Monat vor ihrer Ermordung.
Liv wandte sich ab, sie spürte wohl, dass sie gerade etwas miterlebte, das nur mich anging und das sehr schmerzlich für mich war. Ich blätterte durch das Tagebuch und suchte nach Antworten. Was ich fand, war eine Abschrift des Stammbaums der Ravenwoods. Ich hatte den Stammbaum der Familie schon einmal im Archiv gesehen, aber dieser hier war anders. Einige der Namen waren durchgestrichen.