Kapitel 21

Nel fühlte sich, als hätte sie entweder einen schweren Kater oder eine beginnende Grippe. Dann begriff sie, dass es ein Schock war. Sie musste wohl auch merkwürdig ausgesehen haben, da Viv sich erbot, sie nach Hause zu bringen.

»Nein, geh du zu Florence und erzähl ihr von der Sitzung. Sie brennt bestimmt darauf, zu erfahren, was ich anhatte. Ich muss nach Hause und versuchen, einen klaren Kopf zu bekommen.«

»In Ordnung. Ich komme dann später bei dir vorbei.«

»Ich rufe dich an, wenn ich dich brauche. Ich muss mit Simon reden.«

»Oh Himmel, das hatte ich einen Moment lang vergessen. Ja, natürlich.«

Obwohl sie sich in jeder Sekunde seiner Anwesenheit bewusst gewesen war und glaubte, seinem Blick ausweichen zu können, sah Nel Jake doch genau in dem Moment an, als er auch sie ansah. Er schloss seinen Wagen zur gleichen Zeit auf wie sie. Sie hätte am liebsten geweint, vor Verlegenheit gelacht oder sich übergeben, aber sie tat nichts von alledem. Sie hatte das Gefühl, dass sie sich für seine Unterstützung bedanken müsste, aber sie konnte ihm ihren Dank wohl kaum quer über den Parkplatz des Hospizes zubrüllen. Also stand sie einfach nur da.

Er sah sie, zuckte kaum merklich die Achseln und deutete ein winziges Lächeln an. Dann öffnete er die Tür seines Wagens, stieg ein und ließ den Motor an.

Als er abfuhr, hatte Nel ihren eigenen Wagen bereits ebenfalls in Bewegung gesetzt.

Sie fuhr zu Simons Büro. Sie konnte nicht bis sechs Uhr warten, und außerdem wollte sie nicht, dass der Besuch auch nur annähernd freundschaftlich ausfiel.

»Ich fürchte, Simon ist noch nicht vom Mittagessen zurück«, sagte eine junge Frau, die Nel kannte, deren Name ihr jedoch entfallen war.

»Ich werde warten. Er hat doch nicht direkt nach dem Mittagessen einen Termin, oder?«

Die junge Frau sah nach. »Nein.«

»Kann ich dann in seinem Büro warten? Ich muss mir einige Papiere ansehen.«

»Ich bin sicher, dass er nichts dagegen haben würde.«

Simon war überrascht, sie zu sehen, und soweit Nel erkennen konnte, war dies keine durch und durch angenehme Überraschung.

»Nel, was führt dich hierher? Du willst doch nicht dein Haus auf den Markt bringen, oder?«

»Nein. Und ich habe auch kein Interesse daran, den Garten als Bauland zu verkaufen.«

»Oh.«

»Wir hatten heute eine Ausschusssitzung im Hospiz. Du wusstest das. Wahrscheinlich wusstest du auch, dass mein Garten zur Sprache kommen würde.«

»Ich hatte keine Ahnung ...«

»Du hattest nicht das geringste Recht, dich ohne meine Erlaubnis in meinem Namen nach meinem Haus oder meinem Land zu erkundigen.«

»Jetzt beruhige dich erst mal. Ich weiß, ich hätte dir davon erzählen sollen, aber du hättest einen Anfall bekommen!«

»Ja!«

»Und ich dachte, du solltest die Fakten kennen. Wir sind praktisch verlobt. Es ist mein Job, solche Dinge für dich zu erledigen.«

»Nein, das ist es nicht! Und wir sind nicht praktisch verlobt! Es ist nicht dein Job, irgendetwas zu tun, das mich betrifft, es sei denn, ich würde dich eigens darum bitten, und dann wäre es ein Gefallen, kein Job!«

»Nelly, du brauchst dich deshalb doch nicht so aufzuregen ...«

»Ich bin nicht aufgeregt! Ich bin ruhig und überlegt! Ich hatte Zeit, ein Weilchen nachzudenken, während ich auf dich gewartet habe!«

»Um Gottes willen ...«

»Und eins der Dinge, über die ich nachgedacht habe, ist die Tatsache, dass es keinen Grund auf der Welt gibt, warum
du etwas für mich herausfinden solltest, wenn du die Information dann nicht an mich weitergibst! Ich musste mir von einem zwielichtigen Bauunternehmer sagen lassen, bei mir
sei wohl St. Florian der Hausheilige, bevor ich überhaupt wusste, was los war. Du hast mich zum Narren gemacht, Simon.«

»Liebling! Nel! Schätzchen, das ist doch nicht wahr! Wirklich nicht. Ich habe deshalb Nachforschungen angestellt, weil ich in der Lage dazu bin. Wissen ist Macht! Je mehr du weißt, umso bessere Entscheidungen kannst du treffen!« Er manövrierte sie zu einem Stuhl und reichte ihr ein Glas Wasser. »Denk doch mal darüber nach; bist du dir sicher, dass du immer noch in deinem Haus wirst wohnen wollen, wenn die Siedlung erst steht?«

Da sie sich diese Frage selbst bereits gestellt hatte, zögerte Nel nicht. »Ja. Es gibt keinen Grund umzuziehen. Ich werde einfach am unteren Ende des Grundstückes Bäume pflanzen und einen Sichtschutz errichten.«

»Und im Winter die Sonne völlig aussperren?«

»Würde ich das? Oh, hm, dieses Problem werde ich lösen, wenn es so weit ist. Ich werde nicht verkaufen, Simon.«

»Schön. Es ist deine Entscheidung. Aber falls du deine Meinung doch noch ändern solltest, würdest du es dann nicht lieber zu einem Preis auf den Markt bringen, der diesem wertvollen Stück Land, das du besitzt, Rechnung trägt?«

»Theoretisch, ja. Wahrscheinlich.«

»Also habe ich nichts Unrechtes getan. Ich habe lediglich ein paar Nachforschungen angestellt und die Tatsachen für dich ermittelt. Genauso wie ich es getan habe, als ich in den Gelben Seiten die Bauern für dich nachgeschlagen habe.«

Nel nippte an dem Wasser. Es war lauwarm, und dasselbe galt für ihr Argument. »Damit hast du mir wirklich sehr geholfen, Simon. Ich weiß es zu schätzen.«

»Dann bist du mir also nicht mehr böse, weil ich Nachforschungen angestellt habe?«

»Ich wünschte trotzdem, du hättest es nicht getan. Es war sehr peinlich für mich, dass man mich in dieser Sitzung beschimpft hat und ich nicht einmal wusste, warum.«

»Du hättest dich nur aufgeregt, wenn ich dir vorher davon erzählt hätte.«

»Nun, ja, das ist wohl wahr, aber dann wärest nur du dabei gewesen. Ich hätte mich nicht vor einer ganzen Truppe wildfremder Leute aufgeregt.«

»Wie ist die Sitzung gelaufen?«

»Es war furchtbar! Ich habe das Gefühl, als käme ich direkt von der Streckbank.«

Simon ging auf ihren Kummer gar nicht ein. »Was ist denn entschieden worden?«

Nel seufzte. »Nun, es kam zu einer Abstimmung. Chris wollte offensichtlich Gideon Freebodys Plan durchbringen, aber Jake Demerand meinte, dass wir nicht über eine so wichtige Angelegenheit entscheiden dürften, wenn nicht alle Mitglieder des Ausschusses zugegen sind.«

»Um Himmels willen! Was geht den das an!«

Diese Reaktion schien Nel ein wenig heftig zu sein, aber da ihre eigenen Reaktionen auf Jake eindeutig irrational waren, erwiderte sie nichts darauf. »Er hat uns lediglich einen kleinen Rat gegeben. Außerdem sind wir zu einem Kompromiss gelangt.«

»Was für ein Kompromiss soll das sein? Habt ihr dem Verkauf des Gebäudes nun zugestimmt oder nicht?«

»Nein! Wir werden kleine Stücke des Landes verkaufen.«

»Wovon sprichst du?«

»Von dem Sperrstreifen. Du wusstest nichts von dem Streifen? Simon, ich dachte, du wüsstest alles!« Die Ironie in ihrer Stimme war so unterschwellig, dass sie ihm überhaupt nicht auffiel.

»Erzähl mir davon!«

»Sir Gerald hat dem Hospiz ein Stückchen Land hinterlassen. Es ist die für Gideon Freebodys Plan unbedingt erforderliche Zufahrt. Ohne diese Zufahrt kann er nicht bauen. Wir werden das Land in Parzellen aufteilen, es dürfte also nicht schwer zu verkaufen sein. Wenn man jedes Stück einzeln kaufen wollte, wären damit so viele Verwaltungskosten verbunden, dass es sich nicht lohnen würde. Außerdem würden die meisten Leute sich weigern, zu verkaufen. Der Grund, warum sie es überhaupt gekauft haben, wäre schließlich, weil sie das Hospiz retten wollen.«

»Oh.« Simon wirkte ehrlich schockiert. Nel konnte sich der Frage nicht erwehren, warum. In einer verborgenen Windung ihres Gehirns vermutete sie, dass er wahrscheinlich eine finanzielle Verbindung zu Gideon Freebody hatte. Sie verbannte diesen Gedanken aus ihrem Kopf; später würde noch genug Zeit bleiben, darüber nachzugrübeln.

Sie fuhr fort. »Das Problem ist nur, dass wir die Parzellen bis zum 1. April verkauft haben müssen. Ich glaube, das ist ein wichtiges Datum für die Terminierung der Bauplanungsgenehmigung oder etwas in der Art, obwohl niemand es laut ausgesprochen hat. Ich denke, Chris Mowbray glaubt nicht, dass wir es schaffen können.«

»Ehrlich gesagt, ich glaube es auch nicht!«

»Wir sind fest entschlossen. Außerdem haben wir am 1. eine große Veranstaltung, bei der wir Spenden sammeln wollen. Und wir halten einen Bauernmarkt ab. Quasi als Generalprobe für alle Beteiligten.«

»Nel, findest du das wirklich vernünftig?«

»Nun, das Wetter könnte natürlich eine Katastrophe sein, aber wir haben keine Zeit, bis zum Sommer zu warten.«

»Nein! Ich meine den Versuch, an dem Streifen festzuhalten! Das schafft ihr nie!«

Warum war Simon sich in dieser Angelegenheit so sicher?

»Wäre es nicht besser, den Streifen zu verkaufen und von dem Geld Land zu erwerben und ein neues Hospiz zu bauen? Überleg doch nur, wie lange ihr schon versucht, einen neuen Direktor zu finden. Es wäre erheblich einfacher, wenn ihr ihm ein funkelnagelneues Gebäude anbieten könntet.«

Nel hing dieses Argument langsam zum Hals heraus. »Nicht unbedingt! Es wäre durchaus möglich, dass ein neuer Direktor viele schöne, hohe Räume mit historischen Details vorziehen würde! Ich weiß, die Büros sind ein wenig eng, aber wenn das Hospiz ein wenig Geld zur Verfügung hätte, könnte es zum Beispiel die Ställe umbauen lassen.«

»Ich begreife nicht, warum du dich so in die Idee verbissen hast, dieses alte Haus zu erhalten.«

»Du solltest mich mittlerweile besser kennen, Simon! Wir sind lange genug zusammen! Ich habe nun mal eine Schwäche für elegante alte Häuser. Außerdem ...« Sie hielt inne, weil sie sich nicht ganz sicher war, wie sie ihr nächstes Argument formulieren sollte. »Außerdem mache ich mir ein wenig Sorgen, wo das Geld bleiben würde, falls wir tatsächlich verkaufen.«

»Was soll denn damit passieren?«

»Ohne einen Direktor und mit einem Ausschussvorsitzenden, der eindeutig zwielichtig ist ...«

»Chris Mowbray ist in Ordnung! Ich spiele mit ihm Golf.«

»Er ist nicht in Ordnung. Er ist schleimig. Und wenn ein großer Batzen Geld auf irgendeinem Konto herumliegt, während wir nach einem anderen Grundstück suchen und Baupläne erstellen lassen, dann befürchte ich, dass das Geld vielleicht in irgendwelchen Taschen versickern könnte. Und für den Preis, den man für ein altes Haus erzielt, kann man niemals etwas Neues bauen. Ich habe genug Fernsehsendungen darüber gesehen.«

»Dann könnte das Hospiz eben ein anderes altes Haus kaufen.«

»Aber warum sollte es das? Warum sollte es all die Verbindungen aufgeben, die es in dieser Gegend hat, wo sein jetziger Standort doch einfach ideal ist? Das ergäbe keinen Sinn.«

Simon zögerte, als sei Nel eine Spur besser informiert, als er es erwartet hatte – als er es gehofft hatte, um genau zu sein. »Nun, du kannst sagen, was du willst, Chris Mowbray ist ein ehrlicher Kerl! Und Gideon Freebody hat einen sehr guten Ruf ...«

»Ach wirklich, Simon? Ich dachte, du hättest diesen Zeitungsartikel aus dem Netz gezogen und ihn mir gezeigt, um mir klar zu machen, dass Gideon Freebody eben keinen guten Ruf hat.« Sie hielt inne. Simon war ziemlich rot im Gesicht geworden. »Oder wolltest du mir damit nur beweisen, dass Jake Demerand nicht ganz sauber ist?«

»Ich wollte nur das Beste!«

»Davon bin ich überzeugt, Simon. Da bliebe nur die Frage, wessen Bestes du wolltest!«

Sie verließ das Büro, während er noch versuchte, alles zu erklären, aber keine passenden Worte dafür finden konnte.

Müde und entmutigt fuhr sie nach Hause. Sie hätte eigentlich triumphieren sollen; das Hospiz war für den Augenblick außer Gefahr. Jetzt brauchte sie nur noch ihren Sohn von der Universität zu holen, damit er das Land für sie in Parzellen einteilte. Außerdem musste sie sich einen Anwalt suchen, um das Ganze legal zu machen.

Selbst wenn nichts Persönliches zwischen ihnen gewesen wäre, wäre Jake nicht infrage gekommen. Er arbeitete für die Opposition. Pierce Hunstanton musste fuchsteufelswild sein, dass jemand – sie – ihm die Möglichkeit geraubt hatte, an Gideon Freebody zu verkaufen. Auch Gideon Freebody und Chris Mowbray waren bestimmt sehr schlecht auf sie zu sprechen. Nel, die normalerweise nicht zu derartigen Gedanken neigte, überlegte plötzlich, ob sie sich irgendwie an ihr rächen würden. Würden sie Fleur entführen, ihr eine Bande Rowdys auf den Hals hetzen oder ihr Haus in Brand stecken? Oder würden sie ihr zumindest einen Stein durchs Fenster werfen? Sie wünschte, dass die Dinge zwischen ihr und Simon in Ordnung gewesen wären. Wenn sie Freunde gewesen wären, hätte sie ihn einfach bitten können, ein paar Tage bei ihr zu wohnen, bis sich ihre irrationalen Ängste gelegt hatten. Wenn sie in der gegenwärtigen Situation auch nur erwähnte, dass sie befürchtete, Gideon Freebody verärgert zu haben, würde er ihr lediglich einen Vortrag darüber halten, dass sie ihre Nase in Zukunft nicht in Angelegenheiten stecken sollte, von denen sie nichts verstand. Und dann würde er sie dazu überreden, den Ausschuss doch noch dazu zu bewegen, das Gebäude zu verkaufen.

Als sie den Wagen endlich abstellte und ins Haus ging, sah sie, dass jemand einen Zettel unter ihrer Tür hindurchgeschoben hatte. Sie hob ihn auf und steckte ihn in die Tasche, während sie die Hunde begrüßte. Als sie endlich alle festgestellt hatten, dass es wirklich Nel war und dass sie sie nicht für alle Zeit und Ewigkeit verlassen hatte, nahm sie den Zettel wieder heraus.

Darauf stand: Falls du einen guten Anwalt brauchst ... Es folgten ein Name und eine Telefonnummer. Alles Liebe, Jake.

Den Zettel fest an sich gedrückt, ging sie in die Küche. Sie war dankbar für den Namen und würde ihn ohne zu zögern benutzen, aber im Augenblick war sie noch dankbarer für ein paar Worte auf einem Fetzen Papier – von Jake.

Selbst seine Handschrift war irgendwie sexy. Eine Spur altmodisch, sehr schwarz, eckig. Sie las den Brief noch einmal. Was bedeutete »alles Liebe«? Konnte sie aus diesen beiden Worten möglicherweise den Schluss ziehen, dass er doch nicht aus berechnenden Motiven mit ihr geschlafen hatte? Dass er nicht einfach glaubte, sie sei über vierzig, Witwe und dankbar für jede Art von Zuwendung?

Sie legte das Blatt auf den Küchentisch zwischen zwei ihrer schönsten antiken Krüge und füllte dann den Teekessel.

Jake hatte einiges an Boden gewonnen bei dem Beweis, dass er zu den Guten gehörte. Er hatte ihr den Tipp gegeben, sich das Testament anzusehen, und er war bei der Sitzung für sie eingetreten. Und die Tatsache, dass er ihr den Namen eines Anwalts nannte, bedeutete ebenfalls, dass er in Ordnung sein musste. Er wusste, dass sie einen Anwalt brauchen würde, und um ihr Zeit zu sparen, hatte er ihr einen genannt. Das waren zumindest drei große Pluspunkte für Jake.

Sie hängte einen Beutel mit Frauentee in einen Becher. Und was war mit Simon? Konnte sie ein solches Verhalten dulden? Sollte sie seine Erkundigungen nach dem Wert ihres Gartens als Geste der Hilfsbereitschaft deuten oder als eine unverschämte Einmischung?

Es fiel ihr schwer, keine Einmischung darin zu sehen. Er mochte eine ganze Zeit ihr Freund gewesen sein, und sicher hatte er ihr viele Male geholfen, aber sie hatte seit Marcs Tod auf eigenen Füßen gestanden und ihre eigenen Entscheidungen getroffen. Konnte sie einen Mann in ihrem Leben dulden, der an ihrer Stelle entschied?

Sie dachte an den wunderbaren Aquamarinring, den sie oben versteckt hatte. Sie hatte ihn nicht in ihren Schmuckkasten gelegt, damit Fleur ihn nicht fand. War ein wunderschöner Ring ihre Unabhängigkeit wert? Nein. Teufel auch, sie konnte sparen und sich ihre eigenen Ringe kaufen. Sie würde mit Simon Schluss machen – wahrscheinlich mit den Männern überhaupt – und so weiterleben wie zuvor, unabhängig und glücklich, im Kreis ihrer Kinder.

Sie nippte an dem Tee. Er war sehr heiß und scharf und machte ihr Mut. Diese Sorte, hatten Viv und sie entschieden, kam von allen Tees einem kräftigen Whisky am nächsten. Wie würde sie sich fühlen, wenn sie ihre Kinder nicht mehr um sich hatte? Was, so schnell wie die Zeit verging, in ungefähr fünf Minuten passieren würde. Würde sie dann auch allein glücklich sein?

Ein weiterer Schluck, eine weitere Antwort: besser, allein zu sein und einsam, als ihre Unabhängigkeit für einen Mann zu opfern, der es vielleicht nicht wert war. Das mit Simon war schade. Sie kannte ihn schon lange, hatte ihm vertraut und war in kleinen Dingen sogar abhängig von ihm. Aber in letzter Zeit hatte er ihr ein Gesicht gezeigt, das sie nicht recht wiederzuerkennen vermochte, das Gesicht eines Mannes, der mit einflussreichen Leuten Golf spielte; der Dinge hinter ihrem Rücken tat; der, wie ihr jetzt klar wurde, zu großes Interesse an ihrem Haus zeigte. Wollte er sie wegen ihres Besitzes heiraten? Wäre er gar nicht so liebevoll und aufmerksam gewesen, wenn sie in einer modernen Doppelhaushälfte gelebt hätte, mit einem Garten, in dem man unmöglich bauen konnte?

Es war ein sehr niederschmetternder Gedanke. Niemand wollte sie, es sei denn, es gab noch eine Dreingabe dazu: Einfluss auf einen wichtigen Ausschuss, ein Haus mit einem wertvollen Garten.

Nein. Der letzte Schluck von dem Frauentee brachte die Lösung mit sich. Eine einsame Witwenschaft war das einzig Richtige. Es war nur ein Jammer, dass diese Schlussfolgerung sie nicht zu Freudentänzen veranlasste.

Villette legte ihr die Tatzen aufs Knie, und Nel hievte sie auf ihren Schoß. Es gab viele Entschädigungen für das Alleinsein. Schließlich war es nicht nur Sex, was einen glücklich machte. Abgesehen von ihren Kindern, hatte sie ihren Garten, ihr Haus, das sie verschönern konnte, und ihre Tiere. Eines Tages würde es auch Enkelkinder geben, nicht allzu bald, hoffte sie, aber all diese Dinge würden ihr Zufriedenheit schenken und die Art von alltäglichem Glück, das die Welt in Gang hielt. Eines Tages würde sie der Typ Frau sein, dessen dringlichstes Problem die Entscheidung war, wie sie ihren Flur streichen sollte. Tausende glücklicher, zufriedener Frauen lebten ohne Sex. Sie selbst hatte es jahrelang getan. Sie konnte es wieder tun.

»Vielleicht werde ich ja eine exzentrische Hundezüchterin«, sagte sie zu Villette, die müde seufzte. »Und die Hundehaare erkläre ich einfach zum Bestandteil der Dekoration.«

»Also, Mum, diese Parzelle ist schätzungsweise hundert Meter lang und zehn Meter breit?« Sam, der von der Universität hergekommen war, wollte einige alte Freunde besuchen, aber zuerst gab er seiner Mutter eine Nachhilfestunde in Mathematik.

»Ich denke, schon.« Sobald es um Mathematik ging, legte sich ein Nebel über Nels Gehirn, und es fiel ihr furchtbar schwer, sich zu konzentrieren. Sie konnte durchaus gut rechnen, wenn es sein musste, wenn sie nicht wusste, dass sie es überhaupt tat, zum Beispiel wenn sie ein Rezept ummodelte oder überlegte, wie viel Farbe sie kaufen musste. Aber jetzt, weil es wichtig war (und weil ihr Gehirn, wie sie es sich eingestehen musste, durch unerwiderte Liebe nicht richtig funktionierte), war sie nur müde und ratlos.

»Also, du kannst es auf die einfache Weise machen und tausend Parzellen von jeweils einem Quadratmeter verkaufen. Nimm, sagen wir, hundert Pfund pro Parzelle, und im Handumdrehen hast du hunderttausend Pfund beisammen.«

»Nein! So geht das nicht! Zunächst einmal kann ich unmöglich tausend Leute finden, die eine Parzelle kaufen würden, nicht einmal dann, wenn ich bis zur nächsten Jahrtausendwende Zeit hätte, geschweige denn bis zum 1. April. Und zweitens könnte ich nicht hundert Pfund pro Parzelle verlangen! Ich dachte eher an zwanzig.«

Sam tippte flink ein paar Zahlen in seinen Taschenrechner. »Okay, fünfhundert Leute ...«

»Nein, Sam. Denk an fünfzig, vielleicht hundert, höchstensfalls zweihundert. Wie viel müsste ich dann verlangen?«

Ein paar Sekunden später sagte er: »Nun, um zehntausend Pfund zusammenzubekommen – das war doch die Summe? Dazu müsstest du zweihundert Leute finden und ihnen jeweils einen Fünfziger abknöpfen. Etwas Besseres kann ich dir nicht sagen.«

Nel stützte das Gesicht in die Hände. »Zweihundert Leute! Das sind furchtbar viele.«

»Zerbrich dir deswegen nicht den Kopf. Einige Leute werden sicher mehr als eine Parzelle kaufen.«

»Das dürfen sie nicht!«

»Warum nicht?«

»Weil ich es eigens so bestimmt habe, damit Chris Mowbray nicht alle Parzellen selbst kaufen kann.«

»Oh. Chris Mowbray ist also ein Spitzbube, ja?«

»Definitiv.«

»Und wo wir gerade von Spitzbuben sprechen, wer ist dieser Jake, von dem Fleur ständig redet?«

»Er ist definitiv ein Spitzbube.«

»Fleur scheint anderer Meinung zu sein. Sie sagt, er sei viel netter als Simon.«

»In gewisser Hinsicht ist er das wohl ...«

»Ich persönlich glaube ja nicht, dass Simon ein schlechter Kerl ist, ich hätte ihn nur nicht gern zum Stiefvater.«

»Ich würde euch niemals jemanden zumuten, den ihr nicht mögt, aber er würde kein Stiefvater für euch sein, nicht in dem Alter, in dem ihr jetzt seid.«

»Mum, Simon hat sich wie ein Stiefvater benommen, wann immer er dieses Haus betreten hat und ich da gewesen bin. Ich weiß, dass er es gut meint, ich weiß, dass er es tut, um dir zu helfen, aber er tut es. Er fragt mich nach der Uni, ob ich die Vorlesungen besuche, ob ich einen Job habe und dergleichen mehr.«

»Oh Gott, das tut mir Leid.«

»Genau die Sachen, die du mich nicht fragst.«

»Aber das sind genau die Sachen, die ich gern wüsste.«

Sam grinste. »Mum, du weißt doch, dass ich ein braver Junge bin, wirklich.«

Seine Mutter erwiderte sein Lächeln und fand, dass sie das Beste aus dieser kostbaren Zeit mit ihrem ältesten Kind machen sollte. »Eine Tasse Tee, Liebling?«

Sam sah auf die Uhr. »In Ordnung, wenn’s schnell geht. Soll ich den Tee kochen?«

»Das wäre wunderbar! Du bist so lieb zu mir!«

»Es ist leicht, weil ich nicht oft hier bin. Vor allem, wenn du mir vielleicht etwas Geld gibst, Mummy.«

Nel seufzte und griff nach ihrer Handtasche. »Manchmal denke ich, die beiden Worte Mummy und Money sind für euch Kinder austauschbar.«

»Dein Tee, Mummy.« Sam stellte den Becher auf den Tisch, und Nel reichte ihm einen Zehnpfundschein.

»Sehr teures Café hier.«

»Ja, aber dafür bekommst du als Dreingabe gleich noch eine Therapiestunde. Was gibt’s, Ma?«

»Simon hat mir einen Heiratsantrag gemacht.« Nel konnte sehen, dass ihr Sohn um Fassung rang. »Ich glaube nicht, dass ich es tun werde.«

»Warum nicht? Mach dir um uns Kinder keine Gedanken. Wir kommen schon klar. Aber was hast du an ihm auszusetzen?«

Es tat so gut, darüber zu reden. »Nun, abgesehen von der Tatsache, dass er von Anfang an gewusst hat, dass ich keine dauerhafte Beziehung eingehen will, solange ihr noch zu Hause seid ...« Sie runzelte plötzlich die Stirn. »Und er hat mich trotzdem gefragt und hatte auch gleich einen Ring parat.«

»Einen Ring, hm? Was sagt meine Schwester denn dazu?«

»Sie weiß es noch nicht. Simon hat mich gebeten, es ihr nicht zu erzählen.«

»Warum nicht? Glaubt er, sie wird es dir ausreden?«

»Ich denke, ja.«

»Und wird sie es tun?«

»Sie braucht es nicht zu tun. Ich glaube, Simon will mich nur wegen meines Hauses.«

»Das ist ein bisschen unfair, oder?«

»Ich wünschte, so wäre es, aber wir sind miteinander ausgegangen und nichts Großes ist passiert, und dann, als dieses ganze Baufiasko ausbricht, bittet er mich, ihn zu heiraten. Als wir das erste Mal auf einen Drink miteinander ausgegangen sind, habe ich ihm gesagt, dass ich kein Interesse an einer erneuten Heirat hätte. Diese beiden Dinge können einfach nicht zufällig zusammentreffen.«

Sam zuckte die Achseln und sah wieder auf die Uhr. »Willst du mir dann von diesem Jake erzählen? Fleur mag ihn.«

»Ich habe ihn nicht auf dem Schirm, wie man so schön sagt, Sam.«

Sam kicherte. »Du hast manchmal eine drollige Ausdrucksweise, Ma. Also?«

»Also was? Ich habe gesagt, dass er nicht infrage kommt.«

»Erzähl mir trotzdem von ihm. Damit ich weiß, wovon Fleur redet. Anscheinend ist er der Mann, der dich unter dem Mistelzweig geküsst hat?«

Das und eine Menge mehr, dachte sie. »Sam, wenn ich dir einen genauen Bericht über jeden Mann erstatten muss, der mich unter dem Mistelzweig geküsst hat, was für mein betagtes Gedächtnis eine rechte Strapaze wäre ...«

»Komm mir nicht mit solchem Stuss. Fleur hat gesagt, er sei hierher gekommen und habe dir beim Kuchenbacken geholfen.«

»Oh ja. Hm, das hat er getan. Aber er hat den ersten ruiniert, deshalb war es nur fair.«

»Sie sagte, er sei wirklich witzig.«

»Ja, das ist er, aber er ist jünger als ich, und er interessiert sich nicht wirklich für mich, und ich werde ihn nie wiedersehen, also spielt er keine Rolle.«

»Wofür?«

»Für mein Leben. Und meinst du nicht, dass du dich langsam auf den Weg machen müsstest? Deine Freunde warten bestimmt schon.«

Sam stand auf und nahm seine Jacke von der Rückenlehne des Stuhls. »Das sieht dir aber gar nicht ähnlich, mich zu drängen, eine Kneipentour zu machen.«

»Ich tue alles, um das Verhör zu beenden, Sam. Vergiss nicht, auch reichlich Wasser zu trinken.«

»Prost, Mum.«

Der Anwalt, den Jake ihr empfohlen hatte, war väterlich und sehr nett. Außerdem waren seine Büros erheblich eleganter als die von Jake, als Nel sie das letzte Mal gesehen hatte.

»Mr Demerand hat mir mitgeteilt, dass Sie sich vielleicht melden würden. Es geht um die Aufteilung eines Landstreifens, der gegenwärtig dem dortigen Hospiz gehört, damit das Land nicht von Bauunternehmern aufgekauft werden kann?«

»Das ist richtig. Außerdem müssen wir es so einrichten, dass die Leute nur jeweils ein Stück kaufen können. Anderenfalls würden die Bauunternehmer das Land einfach selbst aufkaufen. Und wir müssen dafür Sorge tragen, dass das Land vor künftigen Hospizausschüssen geschützt wird, die möglicherweise den Wunsch haben könnten, es zu verkaufen.«

Mr Tunnard legte seinen Kugelschreiber beiseite und blickte Nel über den Rand seiner Brille hinweg an. »Mrs Innes, da ist etwas, das ich Ihnen sagen sollte, wie ich finde.«

»Was?« Nel hatte in letzter Zeit so viele Schocks erlitten, dass ihr Herz jedes Mal einen Satz machte, wenn irgendjemand sie in diesem vertraulichen, beinahe unheilschwangeren Tonfall ansprach.

»Die juristischen Kosten für etwas Derartiges wären hoch. Es gäbe eine Menge Papierkram zu erledigen.«

»Sie meinen, ich müsste das in den Preis für jede Parzelle einkalkulieren?«

»Nein, das könnten Sie nicht.«

»Dann fragen Sie mich also, wie ich bezahlen werde?« Einen Moment lang gestattete sie sich, über den Wert eines gewissen Aquamarinrings zu spekulieren, der in ihrer Wäscheschublade versteckt lag.

»Nein. Ich will Ihnen sagen, dass Jake Demerand mich gebeten hat, Sie pro nono zu vertreten, umsonst.«

»Oh – das hätte er nicht tun dürfen! Es ist nicht fair! Warum sollten Sie das tun, es sei denn, es ginge Ihnen um die Sache selbst?«

»Weil Jake bereit war, mir im Gegensatz seine Zeit zur Verfügung zu stellen.«

»Tut mir Leid, das verstehe ich nicht.«

»Ich werde die Stunden aufschreiben, die ich für Sie arbeite, und dann wird er sich mit ebenso vielen Stunden für mich revanchieren, wenn ich ihn brauche.«

»Also ...«

»Also ist es Jake, der umsonst arbeitet, nicht ich.«

»Oh.«

»Ich erzähle Ihnen das, weil ich aus Jakes Bemerkungen den Eindruck gewonnen habe, dass Sie keine allzu hohe Meinung von ihm haben. Nun, ich kenne Jake persönlich nicht besonders gut, aber beruflich kenne ich ihn gut genug, um mir sicher zu sein, dass er ein durch und durch anständiger Mann ist.«

Nel, die eine günstige Gelegenheit witterte, fragte ihn: »Ich dachte, er sei in einen Skandal verwickelt gewesen, bei dem jemand die Häuser alter Menschen verkauft hat oder so etwas in der Art.«

»Ich kenne den Fall, von dem Sie sprechen. Aber er stand auf der Verliererseite. Er war einer von den Guten.«

»Ich verstehe«, sagte sie, um nicht schon wieder »oh« zu sagen. Aber in Wirklichkeit verstand sie gar nichts.

»In diesem Fall kann er Ihnen kaum anbieten, selbst für Sie tätig zu werden, da er für einen der Bauunternehmer arbeitet.«

»Nein, aber warum wollte er das? Warum beschäftigt er sich überhaupt mit dieser Angelegenheit?«

Mr Tunnard zog eine buschige Augenbraue in die Höhe. »Das kann ich wirklich nicht sagen, Mrs Innes.«