Kapitel 10
Nel war zu schockiert, um sofort zu reagieren. Der Anblick eines dreckigen Fußballs in der Mitte ihres Schaufelraddampfers war einfach zu viel. Und die Tatsache, dass sie selbst ebenfalls mit Schlamm bespritzt war, kam ihr erst zu Bewusstsein, als sie automatisch die Hand hob, um sich über die Augen zu wischen, und begriff, warum sie nicht richtig sehen konnte.
»Es tut mir furchtbar Leid.«
Natürlich war es Jake. Natürlich musste er es sein, der diese Katastrophe ausgelöst hatte. Und natürlich musste er tadellos aussehen, während sie selbst von Schlamm troff. Murphys Gesetz (wer immer Murphy war, er schien viel zu viele Gesetze zu haben, und sie waren alle ausgesprochen unfair) besagte, dass ausgerechnet der Person, die es am wenigsten verdiente, mit Schlamm bespritzt zu werden und ihren Kuchen ruiniert zu sehen, gerade jene Katastrophen passieren würden und dass der Mann, der das verursacht hatte, schlammfrei und stolz aus der Begegnung hervorgehen würde.
Oder vielleicht auch nicht? Nel fluchte und schrie nicht, sie sprach nicht einmal. Sie entfernte einfach nur den Fußball, der jetzt nicht nur voller Schlamm war, sondern auch voller Schokolade, Buttercreme und leuchtend bunter Süßigkeiten. Dann nahm sie genau Maß und zielte sorgfältig auf Jake Demerands Seidenkrawatte.
»Ooh, Sir! Es tut uns so Leid, Miss!«, wurde eine Stimme laut, ängstlich und doch offenkundig neugierig, was als Nächstes passieren würde.
»Boh! Seht euch mal den Kuchen an! Der ist total im Eimer!«, erklang eine andere Stimme.
»Das war ein Boot, was? Kuckt euch mal die Bonbons an!«
Als Nel den Blick senkte, sah sie, dass alle Kinder, die vorher Fußball gespielt hatten, sie jetzt umringten. Mit einem wohligen Schaudern blickten sie zwischen ihr und Jake hin und her: Ein Streit lag in der Luft.
Aber das ging natürlich nicht an. Nel würde sich auf eine Form der Rache besinnen müssen, die sich ohne Augenzeugen bewerkstelligen ließ, aber in nicht allzu ferner Zukunft lag. Sie war keine Vertreterin der verbreiteten Auffassung, dass Rache ein Gericht war, das man am besten kalt servierte; wenn sie sich rächen wollte, dann wollte sie es sofort, mitten im Eifer des Gefechts.
Jake lachte. Er versuchte offensichtlich, es zu verbergen, aber er lachte eindeutig, wahrscheinlich weil ihm klar war, was Nel vorgehabt hatte, und er wusste, dass sie es nicht in die Tat umsetzen konnte.
Ein winziger Teil von Nel lachte ebenfalls, nur dass er von jenem Teil in den Hintergrund gedrängt wurde, der so viele Stunden auf den verdammten Kuchen verwandt hatte.
»Alles in Ordnung, Jungs«, sagte sie atemlos. »Ich kann im Handumdrehen einen neuen Kuchen zusammenbasteln. Schwirrt ab und bringt euer Spiel zu Ende. Und sucht euren Lehrer«, fügte sie ein wenig säuerlich hinzu. Dann stellte sie den Kuchen vorsichtig auf die niedrige Mauer, in die das Geländer eingelassen war, und warf den Fußball so weit von sich, wie sie konnte. Sie beobachtete die Jungen, die ihm nachrannten, und entdeckte einen jungen Mann, der ihnen entgegenkam, bekleidet mit einem Trainingsanzug und mit einer Trillerpfeife um den Hals.
»Das tut mir sehr Leid, Nel, das muss dich Stunden gekostet haben. Können wir irgendetwas tun, um den Kuchen noch zu retten?«
Nel antwortete nicht; sie sah Jake nur ruhig in die Augen und griff sich eine Hand voll Kuchen. Dann schmierte sie ihm den Brei auf seine Krawatte, von oben nach unten. »Ich sollte dich zwingen, ihn zu essen, und zwar mit den Händen«, sagte sie, während sie sich an dem Seidenpapier, das auf dem Kuchen gelegen hatte, die Hände abwischte.
Er lachte immer noch, das musste sie ihm lassen. Eine wunderschöne Seidenkrawatte war mit Absicht ruiniert worden, und er lachte. Ein Teil von Nel gab ihm dafür eine beträchtliche Menge Pluspunkte. Schließlich war die Sache mit dem Kuchen, wenn auch weitaus ernster, ein Unfall gewesen. Es war eine Schande, dass er die Wirkung verdarb, indem er ihr die Hände auf die Schultern legte.
»Nel, es tut mir so Leid!«
»Komm mir bloß nicht so!« Sie riss sich los, tastete hinter sich nach einer weiteren Portion Kuchen und bearbeitete damit sein Gesicht, seinen Kragen und sein Hemd, sodass die Krawatte nicht das Einzige war, worum er sich sorgen musste. Dann stolzierte sie ins Haus und ließ den Kuchen und Jake einfach stehen. Gerade als sie die Vordertür öffnete, hörte sie einen Wagen vorfahren, und Vivian rief ihr durchs Fenster etwas zu.
»Was um alles in der Welt ist hier passiert? Wer sind Sie, und warum sind Sie voller Kuchen? Oh, mein Gott! Sie sind das!«
Nel trug ihre alten, dreckigen Schuhe, und sie hatte eine beträchtliche Menge Schlamm im Gesicht. Sie konnte unmöglich geradewegs in die Versammlung gehen, ohne das irgendwie wenigstens notdürftig in Ordnung zu bringen.
»Frag mich nicht, warum ich so aussehe«, sagte sie zu Karen, die am Empfang arbeitete, während sie sich dort eintrug. »Frag den Nächsten, der reinkommt, was passiert ist. Ich verschwinde in die Damentoilette. Ich hoffe, es ist niemand da drin?«
»Ich glaube nicht. Die meisten Kinder sind, soweit ich weiß, im Malzimmer, und die freiwilligen Helfer sind bei ihnen.«
»Es ist mir wirklich schleierhaft«, sagte Nel ernst. »Manche Leute glauben, sie seien nur hier, um sich zu amüsieren.«
Karen lachte, und Nel ging den Korridor hinunter.
Ihr Spiegelbild war nicht gerade ermutigend. Ihre weiße Seidenbluse, die sie bei Ausschusssitzungen zu tragen pflegte, würde ziemlich gründlich gewaschen werden müssen, um sauber zu werden. Als die Jungen seinerzeit Rugby gespielt hatten, hatte sie gelernt, dass Schlamm die Eigenschaft hatte, unangenehmer an der Wäsche zu kleben als alles andere. Ihr marineblauer Blazer, Teil eines Kostüms, das sie für genau solche Anlässe in einem Secondhandshop gekauft hatte, sprach um einiges besser darauf an, mit einem Papierhandtuch abgerubbelt zu werden, als der Rock. Es war eine Schande, dass mit dem Schlamm auch die Hälfte ihres Augen-Make-ups abging. Nachdem sie einige Sekunden lang in ihrer Handtasche nach einem Stückchen Kholstift gegraben hatte, gab sie es auf und hoffte, dass der Schlamm dieselbe Wirkung haben würde wie Eyeliner und Mascara. Dann tupfte sie die Hände an einigen weiteren Papiertüchern ab, zupfte ein wenig an ihrem Haar herum und ging ins Sitzungszimmer, wo sie eine Entschuldigung für ihre Verspätung murmelte und endlich Platz nahm.
»Sie kommen nicht zu spät, Nel«, sagte eine Frau von über siebzig Jahren, eine Stütze des Hospizes und eine gute Freundin von Nel. »Wir warten noch auf Vivian und natürlich auf unseren Rechtsberater.«
Rechtsberater? Deshalb also war Jake hier. Aber warum?
»Wozu brauchen wir Ja... einen Rechtsberater? Ich dachte, wir wollten über den Verlust unseres Einkommens durch den Bauernmarkt reden? Wohlgemerkt, ich neige zu vorsichtigem Optimismus, dass wir einen neuen Standort finden werden, vorausgesetzt, wir können die Vorschriften erfüllen.« Als hätte Nel nicht ohnehin schon genug um die Ohren gehabt, hatte sie mögliche neue Standorte ausgekundschaftet und sich einige notiert, die in die engere Wahl kamen: Keiner jedoch war so reizvoll wie Paradise Fields. »Also, warum meinen Sie, dass man einen ... Rechtsbeistand hinzugezogen hat?«
»Vielleicht wird er uns erzählen, wie wir unsere Einkünfte vergrößern können.«
»Das glaube ich nicht! Er ist der Anwalt der Hunstantons! Ich bin ihm draußen gerade begegnet«, fügte sie hinzu. Nel war zutiefst niedergeschlagen. Warum war er hier, warum tauchte er in allen Bereichen ihres Lebens auf, wie eine finstere, zum Verzweifeln attraktive Nemesis, die es ihr unmöglich machte, normal zu funktionieren? Sie unterdrückte ein Seufzen. Sie würde es bald genug in Erfahrung bringen.
Vivian und Jake kamen zusammen herein. Beide lachten laut. Für den Bruchteil einer Sekunde wusste Nel, was Eifersucht war, als sie ihre beste Freundin so sah. Jünger und unendlich hübscher, als sie selbst es je gewesen war, scherzte Vivian mit einem Mann, den Nel mit jeder Faser ihres Seins begehrte, selbst als sie ihm Kuchen auf sein Hemd geschmiert hatte.
Nel fingerte an den Papieren herum, die vor ihr lagen. Wenn Jake und Vivian einander wollten, konnte sie nichts dagegen tun. Vivian würde sich vielleicht zurückhalten, wenn Nel sie darum bat, aber welchen Sinn hätte das? Jake würde Nel nie wieder ansehen, nachdem er Vivian kennen gelernt hatte, die, wie Nel bekümmert dachte, heute einen besonders liebreizenden Anblick bot.
Zu Nels gewaltiger Erleichterung konnten die beiden nicht nebeneinander Platz nehmen, was sie Chris Mowbray verdankte, dem Vorsitzenden des Ausschusses. Chris Mowbray, ein Mann in mittleren Jahren, war früher einmal ein großes Tier in der City gewesen, war dann aber frühzeitig in Pension gegangen, sodass er ein großes Tier in Sachen gute Werke werden konnte. Jetzt stand er auf, um Jake zu begrüßen, wobei er Nels Empfinden nach ein wenig zu viel Unterwürfigkeit an den Tag legte.
Nel und Vivian hatten Chris Mowbray nie besonders gemocht. Kaum war er in der Stadt angekommen, hatte er sich in jedem Ausschuss wichtig gemacht und war in diesem hier mit bemerkenswerter Geschwindigkeit zum Vorsitzenden aufgestiegen. Das Problem war, so hatte es seinerzeit geheißen, dass Leute für solche Positionen nicht leicht zu finden waren. Daher wurde jeder, der dazu bereit war, auch prompt gewählt.
Jetzt führte er Jake zu dem Stuhl neben seinem. Nel konnte sehen, dass er die Lippen bewegte, aber sie verstand nicht, was er sagte. Jake fing Nels Blick auf und bedachte sie mit einem schiefen Grinsen. Es hätte abermals »Tut mir Leid« bedeuten können.
Nel sah auf ihre Papiere hinunter, um ihr eigenes Grinsen zu verbergen. Es war noch zu früh, um ihm zu verzeihen, aber wie selbstgefällig Jake auch sein mochte, wie sehr ihm die anderen Ausschussmitglieder schmeichelten (die offensichtlich ein wenig überrascht waren, ihn ohne Krawatte zu sehen und dafür mit einer Vielzahl von Fettflecken auf seinem Hemd und seinem Anzug), die Tatsache blieb bestehen, dass er so aussah, als hätte ihm jemand eine Torte an den Kopf geworfen. Was natürlich der Fall war.
»Sind wir alle da?«, fragte der Vorsitzende. »Ich denke, wir fangen am besten an. Würden Sie bitte in dem Buch, das ich herumgehen lasse, Ihre Anwesenheit bestätigen?«
Nels Nachbarin reichte ihr das kleine, gebundene Notizbuch, und sie trug ihren Namen ein, wobei sie bemerkte, dass sie immer noch Kuchenreste unter den Fingernägeln hatte.
»Also, dies ist eine außerordentliche Sitzung. Haben wir alle unsere Finanzberichte dabei?«
Nel wurde bewusst, dass sie ihren vergessen hatte. Sie war zu sehr damit beschäftigt gewesen, den Kuchen in den Wagen zu schaffen, um an die Unterlagen auf dem Küchentisch zu denken. Ihre Nachbarin schob ihren eigenen Bericht ein Stück zu ihr herüber, sodass Nel mit hineinschauen konnte.
»Hat sich jemand für heute entschuldigt? Nur Michael und Cynthia? Sonst niemand?«
Nel fand einen Kugelschreiber in ihrer Tasche und begann, auf ihrer Tagesordnung herumzukritzeln. Konnten sie nicht einfach zur Sache kommen und allen mitteilen, was Jake hier zu suchen hatte?
»Bevor wir anfangen, sollte ich Ihnen wohl mitteilen, warum wir Mr Jake Demerand hier haben.«
»Ja«, sagte Nel. Es kam ziemlich laut heraus.
»Es hat einen unglücklichen Zwischenfall mit Mrs Innes’ Kuchen gegeben«, bemerkte Jake, wie um Nels Grobheit zu erklären. »Ein Fußball ist versehentlich darauf gelandet.«
»Es war nicht mein Kuchen«, sagte sie, immer noch lauter und streitlustiger, als sie es eigentlich beabsichtigte. »Es war der Geburtstagskuchen für das Hospiz, für die Party. Morgen.«
»Oh je. Was für eine Schande.« Chris Mowbray sah herablassend auf sie hinunter. »Nel backt ziemlich leckere Kuchen für das Hospiz, und die Einkünfte, die dem Hospiz daraus zufließen, sind nicht zu unterschätzen, auch wenn es natürlich nur kleine Summen sind. Aber ich bin davon überzeugt, dass Sie im Handumdrehen einen neuen Kuchen zusammenrühren können.«
Nels Nackenhaare stellten sich unwillkürlich auf. Irgendwie hatte er es geschafft, anzudeuten, ihre Kuchen seien der einzige Beitrag, den sie für das Hospiz leistete. Und was das »Zusammenrühren eines Kuchens im Handumdrehen« betraf, würde sie gern mal sehen, wie er es versuchte!
»Hm, ich hatte leider keine Gelegenheit, den Kuchen zu sehen, bevor er von dem Fußball zermatscht wurde«, sagte Jake. »Aber ich kann mich dafür verbürgen, dass er köstlich war.«
Er sah Nel an. »Ich habe unbeabsichtigt etwas davon gegessen.«
Nel fügte einige Dornen zu dem Rosenstängel hinzu, den sie gerade zeichnete, und biss sich auf die Lippen. Sie kochte vor Wut, war aber gleichzeitig außer Stande, nicht auf Jake anzusprechen. Rache war heftig und heiß definitiv besser als kalt und sorgfältig geplant. Wie Sex, um genau zu sein.
Kaum hatte der Gedanke in ihrem Kopf Gestalt angenommen, errötete sie. Denk nicht an Sex, befahl sie sich streng. Tu es nicht! Du bist wegen des Hospizes hier! Er ist der Feind! Alles, was zwischen euch vorgefallen ist, ist vorbei! Außerdem wird er dich jetzt, nachdem er Vivian kennen gelernt hat, nicht einmal mehr ansehen. Nur dass er sie doch ansah. Und sie errötete noch heftiger, aus Sorge, er könne ihre Gedanken lesen.
»Also«, verlangte sie zu wissen, »warum ist er hier? Ich meine, ist es moralisch vertretbar, Mr Demerand an der Ausschusssitzung teilnehmen zu lassen, obwohl er die Hunstantons vertritt? Er dürfte kaum unparteiisch sein.«
»Wenn ich das einfach erklären ...«
Nel, die sich im Allgemeinen bei Ausschusssitzungen sehr gut benahm, geriet mit jedem Wort, das der Vorsitzende sagte, mehr und mehr in Rage. »Es ist einfach undemokratisch, Leute in den Ausschuss zu berufen, ohne uns andere zu konsultieren, nur weil – weil man sich in der Gemeinde lieb Kind machen will! Sollten wir nicht darüber abstimmen dürfen, mit wem wir arbeiten wollen?«
»Nel! Könnten Sie Ihre Anmerkungen bitte an den Vorsitzenden richten!«
»Sie hat Recht«, sagte Vivian. »Herr Vorsitzender.«
Jake hob die Hand. »Darf ich das bitte erklären? Ich bin hier, um meinen Mandanten zu vertreten, um sicherzustellen, dass seine Interessen nicht irgendwie gefährdet werden. Ist das für Sie in Ordnung, Mrs Innes?«
Nel errötete. Er hätte sie nicht so ansehen dürfen. Das war nicht fair.
Chris machte die Art von Handbewegung, die dem Ausschuss sagte, dass er auf beruflicher Ebene niemals mit Frauen hatte umgehen können. Nel registrierte es mit einem Schaudern. Chris hatte sie auf der Tanzfläche bei mehr als einer Gelegenheit zu fest an sich gepresst.
»Ich weiß nicht, inwiefern die Interessen Ihrer Mandanten gefährdet werden könnten. Paradise Fields gehört den Hunstantons, ein Grundstück, das es uns ermöglicht, erhebliche Gelder für das Hospiz aufzubringen, und es gibt eine Bauplanungsgenehmigung für das Land. Was wollen Ihre Mandanten denn sonst noch, Mr Demerand?«
Jake warf Chris Mowbray einen Blick zu, als wolle er ihn zum Sprechen auffordern.
Der Vorsitzende räusperte sich und stand auf. »Ich denke, alle Mitglieder des Ausschusses sind mit der Situation vertraut. Es ist natürlich sehr bedauerlich für das Hospiz, dass wir die Wiesen nicht länger benutzen können ...« Er hielt inne und warf Nel ein verzerrtes Lächeln zu. »Aber ich bin davon überzeugt, dass Ihre köstlichen Kuchen uns diese Kümmernis um einiges versüßen werden.«
Nel wäre am liebsten aus dem Raum stolziert. Noch nie im Leben hatte jemand sie so herablassend behandelt. Aber sie konnte nicht aus dem Raum stolzieren. Sie musste hier sein, um herauszufinden, was weiter geschehen würde.
»Aber werden wir denn wie gewohnt unser Frühlingsfest dort abhalten können?«, fragte Vivian. »Bis dahin wird auf den Wiesen nichts passieren.«
»Diese Entscheidung liegt natürlich ganz allein bei Mr und Mrs Hunstanton«, sagte Chris mit einer Verbeugung in Jakes Richtung.
»Können Sie mir sagen, worum genau es sich handelt?«, fragte Jake.
»Es handelt sich um eine halbjährlich stattfindende Benefizveranstaltung«, erklärte ihm Nels Nachbarin, Muriel.
»Wir haben zwei große Feste im Jahr, bei denen wir an das Gewissen und an das Portemonnaie der Leute appellieren. Eines findet im Frühling statt, das andere im Herbst. Es wäre eine Schande, wenn wir in diesem Jahr die Wiesen nicht benutzen dürften.«
»Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass uns das Gelände zur Verfügung stehen wird. Es gehört uns nicht«, rief Chris den Ausschussmitgliedern in Erinnerung.
»Das wissen wir. Jetzt«, murmelte Nel wütend.
»Ich bin nicht in der Position, mich darüber zu äußern, ob Mr und Mrs Hunstanton die Benutzung der Felder noch einmal gestatten werden ...«
Nel hob die Hand. »Aber Kerry Anne hat gesagt, dass wir es dürfen! Sie hat es mir versprochen.«
Jake musterte sie streng. »Ich werde den Hunstantons jedoch versichern, dass es das letzte Mal sein wird und dass das Hospiz auf den Erlös angewiesen ist«, sagte Jake.
»Wir wollen keine Sondervergünstigungen«, meldete Chris sich zu Wort.
»Doch, wollen wir wohl!«, sagte Viv. »Wir sind eine Wohltätigkeitsorganisation!«
Muriel hob die Hand. »Herr Vorsitzender? Können wir bitte feststellen, ob es absolut unausweichlich ist, dass auf dem Gelände gebaut wird? Gibt es nichts, was wir dagegen unternehmen können?«
»Ich fürchte, so ist es.« Chris Mowbray lächelte auf eine Art und Weise, die in Nel den Verdacht aufkeimen ließ, dass ihm die Entwicklung der Dinge durchaus angenehm war. Er wollte, dass auf dem Land gebaut wurde. Aber warum um alles in der Welt wollte er es?
»Haben Sie irgendwelche Pläne, die wir uns ansehen können?«, fragte Vivian. »Damit wir wissen, woran wir sind?«
Chris schüttelte bekümmert den Kopf. »Ich fürchte, nein ...«
»Das ist kein Problem«, erklärte Jake, »ich habe eine Kopie davon hier.«
»Oh«, plusterte Chris sich auf. »Ich wusste gar nicht, dass sie schon fertig sind. Nun, sehen Sie sich die Pläne ruhig an, wenn Sie meinen, dass sie Ihnen etwas sagen werden.« Er griff nach den Papieren, ohne sie aufzufalten. »Aber ich bitte Sie, die Damen vor allem, keine Mätzchen zu machen und sich zum Beispiel vor die Bulldozer zu werfen.«
Nel zuckte sofort zusammen und dachte nach – warum benutzte er genau denselben Ausdruck, den Simon benutzt hatte? Sie war jedoch zu wütend, um zu weinen, und fühlte sich zu elend, um viel Zeit mit Grübeln zu vergeuden. Es war schließlich einfach eine Redensart. Bedeutete das jetzt das Ende ihrer Bürgerinitiative? Gab es gar keine Möglichkeit, die Felder zu retten?
»Könnten wir die Pläne sehen?«, verlangte Vivian. Sie riss sie Chris Mowbray aus der Hand und schlug sie auf. Nach wenigen Sekunden sagte sie: »Moment mal. So wie das hier aussieht, werden es mehr Häuser, als auf Paradise Fields Platz hätten.«
Chris Mowbray riss die Pläne wieder an sich. »Ich denke, Sie irren sich, Vivian.«
»Welcher Bauunternehmer hat den Auftrag bekommen?«, wollte Muriel wissen. »Jemand aus dem Ort?«
»Gideon Freebody«, sagte Chris Mowbray. »Ein sehr angesehener Unternehmer.«
»Ha!«, warf ein älterer Mann ein, der bisher noch nichts gesagt hatte und der auch sonst nie viel sagte. »Angesehen! Dass ich nicht lache!«
»Er ist ein Typ, der aus The Archers (Die Schützengilde) kommen könnte«, flüsterte Chris Jake zu. Nel konnte seine Bemerkung hören, hoffte aber, dass der Sprecher selbst es nicht gehört hatte.
Sie machte eine hastige Notiz auf ihre Tagesordnung.
Wie heißt er?
Abraham Soundso, antwortete Muriel ihr auf dem gleichen Blatt. Netter alter Bursche.
»Wollten Sie dem Ausschuss etwas mitteilen?«, fragte Chris Mowbray laut. »Wenn ja, könnten Sie das freundlicherweise durch den Vorsitzenden tun?«
Abraham erhob sich. »Ich habe gerade gesagt, dass Gideon Freebody kein angesehener Bauunternehmer ist. Seine Häuser stürzen ein, und er zieht die Leute über den Tisch!«
»Das kommt einer Verleumdung gleich!«, sagte der Vorsitzende beleidigt.
»Nicht, wenn es wahr ist, oh nein«, widersprach Abraham.
»Nun, wir sind nicht hier, um die Vorzüge oder die Versäumnisse des Bauunternehmers zu erörtern«, fuhr Chris Mowbray fort.
»Dürfte ich bitte die Pläne sehen?«, beharrte Abraham.
»Oh. Na schön, wenn es Sie glücklich macht. Jetzt finde ich aber wirklich, dass wir zur Sache kommen sollten. Der erste und wichtigste Punkt auf der Tagesordnung ist das Dach«, erklärte der Vorsitzende.
»Was ist mit einem neuen Direktor?«, fragte Vivian. »Ich hätte gedacht, das sei auch ziemlich wichtig.«
»Wichtig, gewiss, und wir tun alles, was in unserer Macht steht, aber bisher haben sich keine geeigneten Kandidaten vorgestellt. Also, wenn ich jetzt wieder auf das Dach zurückkommen dürfte, ich habe Kostenvoranschläge von drei Bauunternehmern eingeholt, aber sie laufen in etwa alle auf dieselbe Summe hinaus.« Er nannte drei astronomische Zahlen.
»Verdammt!«, sagte Vivian.
»Na, na«, ermahnte Nel sie.
»Wie sollen wir so viel Geld locker machen?«, fragte jemand anderes.
»Es gibt einige Fördermittel, um die wir uns bewerben können«, meinte Chris, »aber den größten Teil der Summe werden wir über Spenden aufbringen müssen. Was die Frage der Bebauung der Feuchtwiesen ziemlich in den Schatten stellt.« Chris musterte abwechselnd Vivian und Nel. »Wir werden das Fest morgen nutzen, um eine neue Initiative ins Leben zu rufen, aber ich muss gestehen, ich mache mir nicht viele Hoffnungen. Die Leute haben sehr hart gearbeitet, um das Geld für die Mole und den Weg dorthin aufzubringen, was, wie sich herausgestellt hat, reine Zeitverschwendung war. Ich weiß nicht, ob wir so kurz darauf schon wieder in der Lage sein werden, eine solche Summe zu beschaffen. Die Leute wollen ihr Geld auch mal woanders ausgeben als auf unseren Festen.« Er sah Nel beinahe anklagend an, als organisiere sie Tombolas und Flohmärkte, nur um die Leute zu ärgern. »Wir hätten natürlich noch Nels Kuchen.«
»Und unser Erlös wird nicht gerade steigen, wenn wir die Einnahmen durch den Bauernmarkt verlieren«, bemerkte Nel. »Sie scheinen zu vergessen, dass dem Hospiz nicht nur durch unsere Feste Gelder zufließen. Der Bauernmarkt wirft jedes Mal auch ein beträchtliches Sümmchen ab. Und wenn er mehr offizielle Anerkennung fände und etwa alle zwei Wochen abgehalten würde, bekämen wir noch viel mehr Geld. Aber es gibt noch keine Garantie dafür, dass die Sache wirklich klappen wird. Genauso wenig steht bisher fest, ob ich dafür sorgen kann, dass das Hospiz weiterhin davon profitiert. Ich glaube nicht, dass Sie den Verlust der Wiesen annähernd ernst genug nehmen.«
»Hören Sie, ich verstehe, dass Sie sich aufregen, nachdem Sie zwei Jahre lang ganz umsonst Spenden gesammelt haben ...«, begann Chris ungeduldig.
»Ich denke nicht, dass der Bau der Mole Zeitverschwendung war«, warf Vivian ein. »Ich denke, dass selbst zwei Sommer, in denen die Kinder das Boot benutzen konnten, die Mühe wert waren. Sie haben es genossen. Und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass irgendjemand im Finanzausschuss früher darauf hätte kommen müssen, dass das Land nicht uns gehört. Nel und ich sind für die Spendensammlungen zuständig, wir haben keinen Zugang zu den Besitzurkunden des Hauses oder ähnlichen Dingen, es ist also nicht unsere Schuld, dass unsere Bemühungen umsonst waren. Welche Alternative haben wir, wenn wir das Dach nicht renovieren? Plastikplanen und Eimer unter den undichten Stellen?«
»Die Alternative ist die Schließung des Hospizes, der Verkauf des Gebäudes und der Versuch, etwas anderes zu finden«, sagte Chris.
Betroffenes Schweigen folgte. »Das kommt nicht infrage!«, sagte Nel entsetzt. »Das Hospiz ist Teil der Gemeinde! Abgesehen von all dem Aufruhr, den es gäbe, wenn wir – wahrscheinlich für eine lange Zeit – das Hospiz schließen müssten, während wir etwas Neues suchen, würde es eine Ewigkeit dauern, das Hospiz anderswo als die wichtigste Wohltätigkeitseinrichtung am Ort zu etablieren! Ein Umzug wäre fatal.«
»Ich muss Nel Recht geben«, erklärte Nels Freundin Muriel. »Der Wechsel würde mindestens ein Jahr in Anspruch nehmen. Und was sollten unsere Kinder in der Zwischenzeit tun?«
»Es sei denn, wir würden endgültig schließen«, warf ein Mann ein, der normalerweise gar nichts sagte. Niemand wusste genau, was er eigentlich tat, da er nur zu den Ausschusssitzungen erschien und sich sonst nie sehen ließ. »Ich meine, es gibt doch noch andere Kinderhospize.«
»Nur über meine Leiche!«, rief Muriel und sprang auf.
»Und meine!«, pflichtete Nel ihr bei.
»Meine auch«, sagte Vivian.
»Es gibt gar keinen Grund, sich so aufzuregen, meine Damen«, erklärte Chris und brachte Nel mit seinem herablassenden Tonfall noch weiter in Wut. »Niemand schlägt ernsthaft vor, das Hospiz zu schließen.«
»Ach nein?«, fragte Nel. »Ich dachte, das wäre genau das, was Mr – Mr – er vorgeschlagen hat!«
»Es war nur ein Gedanke«, sagte der infrage stehende Mister.
»Und kein besonders hilfreicher«, bemerkte Vivian.
»Also, was machen wir jetzt?«, fragte ein pensionierter Pfarrer mit heftigem Mitgefühl.
»Wir werden das Geld für ein neues Dach aufbringen«, sagte Nel und begriff dann, dass sie das nicht hätte sagen sollen. »Ich meine, ich denke, dass ich das behaupten kann, stellvertretend für den Spendenausschuss.« Sie sah ihre Mitstreiter ängstlich an und stellte zu ihrer Erleichterung fest, dass sie zwar nicht übermäßig begeistert von dem Gedanken waren, aber zumindest einsahen, dass das Geld irgendwie beschafft werden musste.
»Und wie wollen Sie das machen? Mit Kuchenverkäufen?« Der Vorsitzende versuchte nicht einmal mehr, den Anschein von Höflichkeit zu wahren.
»Entschuldigung«, sagte Abraham und erhob sich. »Ich habe einen Vorschlag.«
Der Vorsitzende schnalzte mit der Zunge und seufzte. »Was gibt es denn, Mr – ähm –, ich hatte gehofft, die Sitzung bald beenden zu können.«
»Ich könnte Häuser auf diesem Land bauen – nicht so viele, aber in besserer Qualität –, sodass trotzdem ein kleines Stück vom Flussufer für die Kinder zum Spielen übrig bliebe. Und was noch wichtiger ist, ich könnte, während ich schon dabei bin, das Dach des Hospizes renovieren.«
»Es wäre sicher sehr schön für die Kinder, wenn sie weiter paddeln könnten, aber Sie scheinen zu vergessen, Mr ...«, er räusperte sich, um die Tatsache zu kaschieren, dass er den Namen des Sprechers nicht kannte. »... dass Mr und Mrs Hunstanton den Auftrag bereits an Gideon Freebody vergeben haben. Sie werden eine Menge Geld dabei verdienen, und sie dürften sich kaum für ein paar winzige Doppelhaushälften interessieren.«
»Ich rede nicht von winzigen Doppelhaushälften – zumindest nicht nur von ein paar.«
»Wie um alles in der Welt sollte jemand wie Sie in der Lage sein, das notwendige Geld für ein Projekt dieser Größenordnung aufzubringen?«, wollte der Vorsitzende wissen.
»Das braucht Sie nicht zu interessieren«, entgegnete Abraham. »Und wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden, ich habe noch zu arbeiten.«
Er verließ den Sitzungssaal, wobei er (sehr zu Nels Befriedigung) die Pläne mitnahm.
»Wahrhaftig! Was für eine verfluchte Unverschämtheit!«, sagte Chris Mowbray. »Er ist mit den Plänen verschwunden! Jemand soll ihm nachgehen!«
»Nicht nötig«, sagte Jake leise. »Wir können uns ohne Probleme eine weitere Kopie besorgen.«
»Ich hätte gern selbst noch einmal einen Blick darauf geworfen«, murmelte Viv. »Ich hatte keine Zeit, mir die Zeichnungen richtig anzusehen, aber ich bin mir sicher, dass allein auf Paradise Fields nie und nimmer genug Platz wäre für all diese Häuser.«
»Ich nehme nicht an, dass Gärten dazu gehören würden. Es ist alles so niederschmetternd«, sagte Nel.
»Es ist verdammt lächerlich! Aber wir machen wohl mal besser weiter.«
Danach gab Nel sich keine Mühe mehr, der Sitzung zu folgen. Die ganze Angelegenheit schien ihr ein fait accompli zu sein. Die Feuchtwiesen waren verloren. Ihr einziger Trost war die Hoffnung, dass Abraham tatsächlich eine Alternativlösung fand. Wenn schon auf den Feuchtwiesen gebaut werden musste, wäre die Vorstellung bei weitem angenehmer, dass ein netter alter Mann es tat, dem das Hospiz am Herzen lag, und nicht ein gesichtsloser Bauunternehmer mit einem merkwürdigen Namen, der Abraham zufolge schlechte Häuser baute.
Endlich erklärte der Vorsitzende die Zusammenkunft für beendet, und etliche Stuhlbeine kratzten über den Boden, während die Leute in aller Eile zur Tür stürzten. Nel und Vivian warteten, bis das Gedränge sich gelegt hatte, bevor sie miteinander sprachen.
»Du hast wohl keine Lust, mit zu mir zu kommen und darüber zu reden?«, fragte Nel. »Ich muss noch diesen verflixten Kuchen backen, und das wäre weitaus erträglicher, wenn ich mir dabei eine Flasche Wein mit jemandem teilen könnte. Fleur wird nicht zu Hause sein; wir können uns ein paar Gedanken machen, während ich backe. Und später lassen wir uns dann vielleicht ein Balti kommen?« Sie versuchte, ihren Vorschlag möglichst verlockend klingen zu lassen, merkte aber sofort, dass Vivian anscheinend nicht mitkommen würde.
»Oh Gott, tut mir ja so Leid!«, sagte Vivian und legte eine Hand auf Nels Ärmel. »Ich habe Mum versprochen, mit ihr einkaufen zu fahren, sobald die Sitzung vorbei ist, und ich kann sie nicht hängen lassen, da ich den Termin schon ungefähr dreimal verlegen musste. Aber ich komme gleich morgen Früh bei dir vorbei, wenn dir das hilft.«
Nel schüttelte den Kopf. »Keine Sorge. Ich muss den Kuchen heute noch backen, sonst ist der Guss bis morgen Nachmittag nicht richtig fest.«
»Es tut mir so Leid, dass ich dich im Stich lasse. Diese Geschichte ist einfach schrecklich, Nel. Wir müssen ernsthaft darüber nachdenken, wie wir eine beträchtliche Summe zusammenbekommen können, nicht nur ein bisschen Kleingeld hier und da.«
»Wir werden uns etwas ausdenken, und wir werden es irgendwie schaffen. Das tun wir immer. Grüß deine Mum von mir und sag ihr, dass ich ein paar Bücher habe, die sie vielleicht gern lesen würde. Ich werde sie irgendwann mal vorbeibringen.«
Vivian küsste Nel auf die Wange. »Das ist lieb von dir. Du weißt ja, was ihr am meisten Spaß macht. Sie ist nicht wie ihre nette Nachbarin, die meint, sie sollte nichts lesen, worin Sex vorkommt.«
Nel erwiderte den Kuss mit einer Umarmung. »Wir setzen uns bald mal zusammen, hm?«