Kapitel 13
Nel war überrascht, aber durchaus erfreut, als sie am nächsten Montag einen Anruf von der netten Frau aus der Gemeindeverwaltung bekam.
»Ich habe die Nummer des jungen Kochs, meines Neffen, von meiner Schwester bekommen. Soll ich Sie Ihnen durchgeben?«
»Nun, das wäre sehr hilfreich, aber wird er nicht ein wenig überrascht sein, wenn eine wildfremde Frau ihn aus heiterem Himmel anruft?«
»Oh nein, ich habe ihm gesagt, dass Sie vielleicht anrufen werden. Er ist begeistert von der Idee.«
Da sie das Eisen schmieden wollte, solange es noch heiß war, wählte sie die Nummer und hatte Glück. Der junge Koch hatte Zeit für sie, und sie konnte ihn zwischen einen potenziellen Eishersteller, einen Korbflechter und einen Bauern einschieben, der selbst zwar nichts mit dem Markt zu tun haben wollte, dessen Frau jedoch Hochzeitshüte herstellte. Nel hatte eigentlich nicht das Gefühl, dass Hochzeitshüte genau das waren, was die Leute auf einem Bauernmarkt kaufen wollten, aber andererseits wäre ein Besuch bei dieser Frau vielleicht eine nette Abwechslung. Sie beschloss, zuerst den Koch aufzusuchen, denn sie wusste, dass er ein absolutes Muss war. Die anderen waren nur ein Vielleicht.
Sobald er die Tür zu seinem Cottage öffnete, war Nel klar, dass er wie geschaffen für den Job war. Er war riesig, jung, blond und gut aussehend, mit tonnenweise jungenhaftem Charme. Alle Frauen würden auf der einen oder anderen Ebene auf ihn ansprechen, und vielleicht konnte er sogar Kochmuffel wie Fleur für seine Arbeit interessieren.
»Ben Winters.« Er schüttelte ihr die Hand. »Kommen Sie doch herein. Tut mir Leid, dass es hier so chaotisch ist.«
»Ich bin Nel Innes.« Während sie Ben in den Flur folgte, warf sie durch die offene Tür einen Blick in das Wohnzimmer. Nel unterdrückte ein Seufzen; das Bild hatte etwas schauerlich Vertrautes. Nel hatte ihre Söhne an ihren jeweiligen Universitäten besucht und war an Studentenquartiere gewöhnt. Tatsächlich hatte sie beträchtliche Zeit selbst so gelebt, aber das Wohnzimmer dieses kleinen Cottages war übel, selbst nach ihren großzügigen Maßstäben. Der Boden war so übersät mit zerdrückten Bierdosen, dass man die Schicht zerbröselter Chips, die den unruhig gemusterten roten Teppich bedeckte, kaum noch darunter erkennen konnte. Gameboys lagen wild verstreut um einen Haufen Videos und Tonerkartuschen herum, und im Kamin stapelten sich ketschupverschmierte Teller mit Pizzakrusten. Jedes verfügbare Fleckchen war bedeckt mit Gerümpel wie Essensreste, leere Bierdosen, Zigarettenkippen oder elektronische Spielgeräte.
Es war wirklich eine Schande. Sein Aussehen war perfekt, sein Benehmen sympathisch, und er mochte so kochen wie Gordon Ramsay persönlich, aber wenn er den hygienischen Anforderungen nicht genügte, hatte es keinen Sinn. Wie sollte sie das der Frau von der Gemeindeverwaltung erklären, die ihn ihr empfohlen hatte? Es würde furchtbar peinlich werden. »Tut mir ja so Leid, aber Ihr Lieblingsneffe« – oder was immer er war – »lebt in einer Wohnung, die an einen Dokumentarfilm über Müll erinnert oder an ein für den Turner-Preis nominiertes Kunstwerk.«
»Kommen Sie mit in die Küche, dann mache ich Ihnen eine Tasse Kaffee. Vielleicht haben Sie ja auch Lust, ein Zimthörnchen zu probieren. Sie sind aus Blätterteig, aber nicht klebrig, hoffe ich. Ich habe sie gerade aus dem Ofen geholt.«
Nels aufgewühlte Nerven erholten sich wieder, als sie den makellosen Zustand der Küche sah. Sie war ebenso sauber und ordentlich, wie das Wohnzimmer schmutzig und chaotisch war. »Was für eine Erleichterung!« Sie lachte. »Ich dachte schon, ich müsste Sie ablehnen.«
»Was? Meine Zimthörnchen ablehnen?« Seine Enttäuschung war bezaubernd. »Das wäre eine Premiere!«
»Nein! Ich dachte, ich müsste Sie als Koch für den Bauernmarkt ablehnen. Alles und jeder müssen sehr hohen Hygienestandards entsprechen. Selbst wenn Sie nicht hier kochen würden, nehme ich an, dass man Ihre Küche inspizieren würde.«
»Ich bin gelernter Koch! Ich habe all meine Prüfungen in dieser Hinsicht bestanden!«
»Dann wäre das also geklärt. Darf ich mich setzen?«
Nel nahm am Küchentisch Platz und sah zu, wie dieser große, gut aussehende Junge Kaffee kochte, Teller zu Tage beförderte und Puderzucker durch ein Teesieb auf einen Teller mit Pasteten siebte. Er war gebaut wie ein Rugbyspieler, aber seine Bewegungen waren harmonisch und sparsam, und jeder Gegenstand erschien unter seinen Fingern, sobald er ihn brauchte. Nel war in diesen Dingen selbst kein Profi, hatte aber das Gefühl, dass der junge Mann überall kochen konnte und es wie ein Kinderspiel aussehen würde.
Die Zimthörnchen schmolzen schon fast, bevor sie in ihrem Mund ankamen, und sie blieben auch nicht lange dort. »Die sind ja fantastisch!«, sagte sie. »Oh, ich bin so froh, dass ich nicht mehr zu den Weight Watchers gehe.«
»Weight Watchers? Warum denn das?«
»Aus den normalen Gründen. Und jetzt erzählen Sie mir, was Sie sonst noch zubereiten können. Auf dem Markt werden Sie nämlich keinen Ofen haben. Es muss alles auf Gasbrennern gemacht werden.«
»Hm, ich habe Blätterteigpasteten geübt, weil sie immer meine Schwachstelle gewesen sind, aber ich benutze wirklich gern frische Zutaten, bereite sie schnell zu und esse sie ohne großen Firlefanz, was Soßen und dergleichen betrifft. Außerdem habe ich eine Vorliebe für Gebratenes. Ich will in zehn Jahren mein eigenes Restaurant haben.«
»Wow! Und es würde Ihnen Spaß machen, Ihr Können auf dem Bauernmarkt zu demonstrieren?«
»Oh ja, Helen – Sie haben sie kennen gelernt? – hat mir alles erzählt. Sie meinte, Sie würden mich wahrscheinlich nicht bezahlen können, ich müsse aber auch die Zutaten nicht bezahlen, und das wäre eine gute Möglichkeit, meinen Namen und mein Gesicht in der Gegend bekannt zu machen.«
»Nun, ich hoffe, dass ich Ihnen etwas bezahlen kann. Wenn ich genug Verkäufer zusammenbekomme und sie alle ihre zwanzig Pfund oder was auch immer bezahlen, müsste ich ein wenig für Sie abzweigen können. Genau genommen werde ich Sie nicht selbst bezahlen. Da fällt mir etwas ein!«, fügte sie plötzlich hinzu. »Warum halten wir beim Frühlingsfest für das Hospiz nicht auch einen Bauernmarkt ab?«
»Bitte?«
»Ich muss verrückt klingen, aber mir ist gerade die Idee gekommen, dass wir bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung, die ich organisiere, außer der Reihe einen Markt abhalten könnten. Das würde der Veranstaltung zugute kommen, und gleichzeitig könnten wir bekannt geben, dass der Bauernmarkt in Zukunft woanders stattfindet! Das wäre wunderbar!«
»Und Sie wollen, dass ich dort koche? Cool!« Er zeigte ein breites zähneblitzendes Lächeln, mit dem man Bier an Brauereien, Kohlen in Newcastle und, wenn nötig, Kühlschränke an die Eskimos verkaufen konnte. »Möchten Sie vielleicht die Pasteten probieren, die ich gemacht habe? Die könnte ich auf dem Bauernmarkt verkaufen.«
Nel war durch den Umgang mit ihren Söhnen unempfänglich für den Charme junger Männer. Oder zumindest glaubte sie, es zu sein. Sie konzentrierte sich darauf, professionell zu klingen. »Nur wenn Sie einheimische Zutaten benutzen. Wenn Sie eine Pastete machen wollen, sollten Sie sich mit jemandem zusammentun, der die Hauptzutat produziert ...«
»Ente.«
»... und sie für Ihre Pastete benutzen.« Dann vergaß sie ihren Vorsatz, geschäftsmäßig und nüchtern zu sein. »Ich kenne einen Entenzüchter! Ich gebe Ihnen die Adresse. Ich denke, er züchtet auch irgendwelche seltenen Rassen. Was genau, weiß ich nicht mehr. Ich muss noch wegen des Marktes mit ihm sprechen. Bis Sie mich daran erinnert haben, hatte ich ganz vergessen, dass ich den Betreffenden kenne. Sie sollten sich unbedingt bei ihm melden.«
Es widerstrebte Nel, die gemütliche Küche und den vor jugendlichem Überschwang sprühenden Ben zu verlassen, aber wenn sie blieb, musste sie noch mehr essen, und ihr war bereits leicht übel. Daher schien ihr das keine gute Idee zu sein. Sie ging durch schmale, gewundene Gassen und fand schließlich den Korbmacher.
»Auf den meisten Bauernmärkten werden nur Lebensmittel angeboten«, erklärte sie ihm, nachdem sie gesehen hatte, was er mit einem Weidenzweig zu Wege brachte. »Aber ich bearbeite die Gemeindeverwaltung, um die Erlaubnis zu bekommen, auch qualitativ hochwertige handwerkliche Waren zuzulassen – Töpferei, Schmiedesachen und so weiter. Ich denke, so etwas würde gut zu Lebensmitteln passen, und wenn die Sachen vor Ort produziert werden, warum nicht?«
»Hm, vielen Dank.« Der Mann war in den Dreißigern, bärtig und mit einem Overall bekleidet. Mehrere kleine Kinder scharten sich um ihn, und in der Küche kochte seine Frau Tee. »Es wäre schön, eine regelmäßige Verkaufsmöglichkeit zu haben. Ich verbringe den größten Teil meiner Zeit damit, Hecken anzulegen, aber man braucht schließlich auch eine Beschäftigung für schlechtes Wetter. Kommen Sie mit ins Warme.«
Es war eine nette Familie. Die Küche war behaglich und nicht allzu ordentlich, und Nel fühlte sich dort sofort zu Hause. »Sie wissen wahrscheinlich, dass der Markt in Zukunft nicht mehr auf Paradise Fields stattfinden kann«, sagte sie schließlich. »Wir sind zwar ein wenig zu weit entfernt, als dass es Sie direkt betreffen würde, aber eine Schande ist es trotzdem. Es ist sehr seltenes und kostbares Wiesengebiet. Außerdem hat das Kinderhospiz dort den größten Teil seiner Spenden gesammelt.«
Ewan sah sie nachdenklich an. »Das tut mir Leid, aber Menschen brauchen nun mal Häuser. Welcher Bauunternehmer hat den Auftrag bekommen?«
»Nun, im Augenblick ist es jemand mit Namen Gideon Soundso.« Sie seufzte. »Ein netter alter Bursche aus unserem Ausschuss – Isaak oder Abraham, irgendetwas Biblisches – meinte, er könnte vielleicht etwas Besseres bauen, aber mal ehrlich ...«
»Abraham? Den kenne ich! Ich habe früher für ihn gearbeitet. Er ist ein guter Kerl. Und ein guter Bauunternehmer.«
»Aber er muss langsam in die Jahre kommen.«
»Er ist in Frührente gegangen. Hat aber seine Schäfchen vorher ins Trockene gebracht. Er interessiert sich für dieses Stück Land? Das ist gut. Er baut schöne Häuser.«
Nel war ein wenig erstaunt. Ewan war alternativ von seinen Stiefeln bis zu seiner Wollmütze mit Ohrklappen; Nel hätte geschworen, dass er selbst gegen den Bau einer Bushaltestelle gewesen wäre, hätte sie auf einem Fleckchen Gras gestanden, geschweige denn einer Siedlung auf Feuchtwiesen.
»Wir fahren mit den Kindern im Sommer manchmal hin«, bemerkte seine Frau. »Sie spielen da gern auf der Schaukel. Es wäre eine Schande, wenn auf den Wiesen gebaut würde.«
Ewan schüttelte den Kopf. »Nein. Die Menschen müssen schließlich irgendwo wohnen. Sind auch einfachere Einfamilienhäuser geplant? Dagegen kann man keine Einwände erheben. Aber Gideon Freebody ist ein durch und durch übler Kerl.«
»Sie scheinen ja eine Menge darüber zu wissen. Wie kommt das?«
»Ich war von Beruf Maurer, bis ich mich hier niedergelassen habe. Wir haben Geld gespart und dieses Stückchen Land mit Bäumen darauf gekauft, und jetzt arbeite ich größtenteils auf dem Grundstück. Aber Gideon Freebody gehört hinter Gitter. Seine Häuser fallen in sich zusammen, bevor die Farbe getrocknet ist.«
»Oh.«
»Er hat eine Menge Geld gescheffelt, indem er die Häuser alter Leute aufgekauft hat und sie dann verfallen ließ, um sie abzureißen und teure Häuser auf die Grundstücke zu setzen. Er hatte einen zwielichtigen Anwalt, der ihm geholfen hat, damit durchzukommen.«
Nel hatte das Gefühl, als hätte ihr jemand einen Schlag direkt ins Herz versetzt. Sie fragte nicht nach dem Namen des zwielichtigen Anwalts, für den Fall, dass sie ihn kannte. Gerüchte, die sie von Catherine hörte, konnte sie noch als Gerüchte abtun, so gerade eben. Aber das Gleiche aus zwei verschiedenen Quellen zu hören, machte die Sache erheblich schwieriger.
Ewan leerte seinen Teebecher. »Sie sollten mal mit Abraham reden und sich anhören, was er vorhat.«
»Wissen Sie, wo er wohnt?«
»Nicht weit von hier. Ich rufe ihn an, wenn Sie wollen. Mal sehen, ob er zu Hause ist. Er arbeitet auch zu Hause, daher könnten Sie ihn durchaus antreffen.«
Nel war sich gar nicht sicher, ob sie Abraham, den Bauunternehmer, besuchen wollte. Sie hatte keine Ahnung vom Baugewerbe und würde nicht wissen, was sie sagen sollte. Sie hob die Hand, um Ewan aufzuhalten, aber er hatte bereits nach dem Telefonhörer gegriffen. Trotz all seiner Gutmütigkeit und seiner Liebe zur Natur war Ewan offensichtlich fest entschlossen, dass die Menschen tun sollten, was er für das Richtige hielt, auch wenn sie selbst andere Vorstellungen hatten.
Nel hörte zu, wie er mit seinem Freund einen Termin vereinbarte und ihm erzählte, dass diese Frau gleich bei ihm sein werde. Jetzt konnte sie keinen Rückzieher mehr machen. Sobald Ewan eingehängt hatte, drehte er sich aufgeregt zu ihr um. »Das ist ja wirklich ein erstaunlicher Zufall. Er hat versucht, Sie zu erreichen. Er muss sofort mit Ihnen reden – können Sie jetzt gleich zu ihm rübergehen?«
Nel seufzte. »In Ordnung. Dürfte ich vorher kurz Ihre Toilette benutzen?«
Abraham wohnte in einem großen, neuen Haus, das mehr Charme und Eleganz besaß, als Nel erwartet hatte. Es gab nichts Unpassendes oder Nippes wie Butzenscheiben oder kitschige Putten, die im Garten die Vogeltränken stützten, und die Türglocke spielte auch nicht die ersten Takte der Ouvertüre von Wilhelm Tell, als sie darauf drückte. Während Nel vor der Tür wartete, tadelte sie sich für ihre Vorurteile; selbst Bauunternehmer, die ein Vermögen mit dem Bau von Häusern verdienten, in denen sie persönlich nicht hätten wohnen wollen, konnten in ihrem Privatleben durchaus guten Geschmack an den Tag legen.
Abraham schien sich zu freuen, sie zu sehen, und selbst angesichts ihrer Unfähigkeit, Leute zu hassen, erlag Nel dem altmodischen Charme ihres Gastgebers beunruhigend schnell.
»Kommen Sie herein, meine Liebe. Meine Frau ist beim Friseur, aber sie wird bald wieder da sein und uns eine Tasse Kaffee machen. Mir ist klar, dass Sie am liebsten überhaupt keine Häuser auf den Wiesen hätten, aber ich denke, wenn Sie sehen, was mir vorschwebt, würde das den Schlag ein wenig mildern.«
Es war schwer, sich seiner väterlichen Güte zu widersetzen. Nel folgte ihm ins Esszimmer, wo auf dem Tisch die Pläne ausgebreitet lagen.
Nel hatte sie schon einmal gesehen, bei der Planungssitzung vor Weihnachten im Büro der Gemeindeverwaltung, aber sie war dankbar für die Gelegenheit, sie in einer friedlicheren Umgebung noch einmal studieren zu können. Außerdem waren diese Pläne in einem größeren Maßstab gezeichnet. Sie betrachtete sie genau. Irgendwie schien es sich nicht um dieselben Pläne zu handeln.
»Sie werden sehen, dass das ganze Projekt sehr ehrgeizig ist«, sagte Abraham.
»Sehr teuer natürlich.« Nel war verwirrt und versuchte immer noch, das, was jetzt vor ihr lag, mit den anderen Plänen in Einklang zu bringen. Der größere Maßstab veränderte das Bild natürlich. Aber trotzdem ...
»Moment mal, Abraham, tut mir Leid, wenn ich mich dumm anstelle, aber wie sollen all diese Häuser auf Paradise Fields Platz finden?«
»Indem man auch das Hospiz abreißt und auf diesem Grundstück ebenfalls baut.«
Nel spürte, wie alles Blut aus ihrem Gesicht wich, und einen Augenblick lang befürchtete sie, in Ohnmacht zu fallen.
»Deshalb habe ich versucht, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen. Mir ist klar geworden, dass Sie keinen Schimmer von dem Ausmaß haben, in dem Gideon Freebody zu bauen plant.«
Sie setzte sich auf einen etwas abseits stehenden Stuhl. »Aber warum wusste niemand davon?«
Abraham zuckte die Achseln. »Weil man nicht wollte, dass Sie davon erfahren.«
»Wer steckt dahinter? Gideon Freebody?«
Abraham schüttelte den Kopf. Er hatte anscheinend die Informationen, die sie benötigte, aber offensichtlich widerstrebte es ihm aus irgendeinem Grund, sie ins Vertrauen zu ziehen. »Sie meinen, es ist jemand vom Hospiz?« Ihr wurde plötzlich heiß. »Chris Mowbray?«
Der alte Mann nickte. »Ich schätze, so ist es. Sie sehen ein wenig blass aus, Kind. Möchten Sie ein Glas Wasser?«
Nel nickte, weniger weil sie das Wasser haben wollte, sondern weil sie Zeit brauchte, um ihre Gedanken zu ordnen.
Sie waren immer noch ungeordnet, als Abraham mit dem Glas zurückkam.
»Sie denken, dass er das Hospiz zu Bebauungszwecken verkaufen will?«, fragte sie, nachdem sie einen Schluck genommen hatte.
Abraham nickte.
»Das würde erklären, wie man Platz für all diese Häuser schaffen will, aber wo ist die Zufahrt?«
»Hier.« Abraham zeigte auf eine Stelle auf dem Plan.
»Warum ist die mit einer anderen Farbe eingezeichnet? Tut mir Leid, dass ich so dumme Fragen stelle.«
»Es ist keine dumme Frage. Es ist eine sehr vernünftige Frage. Die Stelle ist deshalb mit einer anderen Farbe eingezeichnet, weil das Grundstück den Hunstantons nicht gehört. Zumindest nicht mehr.«
»Wem gehört es dann?«
»Das ist nicht ganz klar. Sie sehen, dass man dafür nicht dieselbe Farbe benutzt hat wie für dieses Grundstück hier.«
Nel schaute genauer hin, und sie verschob den Plan etwas. »Das ist das Hospiz!«
»Das vermute ich. War das hier früher der Witwensitz von Hunstanton Manor?«
»Hmhm. Sir Gerald hat es vor etlichen Jahren dem Hospiz überschrieben. Deshalb dachten wir, dass uns das Wiesenland gehört.«
»Ich vermute, dass er nicht allzu viel von dem Erbe seines Sohnes verschenken wollte. Aber dieser kleine Streifen Land, eine Art Schutzgrundstück könnte man es nennen, könnte für das Hospiz sehr nützlich sein.«
»Inwiefern? Es ist nicht besonders groß.«
»Aber ohne dieses Grundstück würden Gideon Freebodys überarbeitete, größere Pläne niemals genehmigt werden. Es gibt keine ausreichende Zufahrtsmöglichkeit ohne diesen Streifen Land.«
»Und Sie denken, dass es vielleicht dem Hospiz gehört.«
»Ja.«
»Aber warum?«
»Ein kleines Vögelchen hat es mir zugezwitschert. Ich werde nicht sagen, wer es war, ich sage nur, dass Sie der Sache nachgehen sollten. Bevor jemand anderes es tut. Wer immer dieses Land besitzt, hat viel Macht bei all diesem Hokuspokus. Ohne dieses Stückchen Land hätte es keinen Sinn, das Hospiz abzureißen.«
Ein Hoffnungsschimmer flackerte auf. »Aber wir könnten die Bebauung als solche nicht verhindern?«
Abraham lachte. »Nein, Mädel, das können Sie nicht. Die Hunstantons sind erpicht darauf zu bauen, und sie haben bereits eine Bauplanungsgenehmigung für Paradise Fields. Aber Gideon Freebody könnten Sie auf diese Weise ausbremsen.«
Nels Gedanken überschlugen sich. Sie konnte es nicht fassen, dass jemand, insbesondere Chris Mowbray, so verschlagen sein konnte. Durfte sie überhaupt noch jemandem trauen? »Was ist mit Ihnen? Wie sehen Ihre Pläne aus? Sie haben doch nicht auch etwas Abscheuliches vor, oder?«
Abraham kicherte. Er blieb bemerkenswert ruhig, was sehr hilfreich war, da Nel einem hysterischen Anfall nahe war. »Nein! Mein Plan ist sehr viel kleiner, und die Zufahrt auf beiden Seiten würde deutlich angemessener sein.
Ich baue gern qualitativ hochwertige Häuser. Das zahlt sich am Ende immer aus. Ah, da kommt ja meine Frau. Haben Sie Lust auf eine Tasse Kaffee oder Tee und selbst gemachte Butterkekse?«
Nel hatte im Grunde keinen Appetit auf irgendetwas; sie wollte sich verabschieden und über die Konsequenzen dessen nachdenken, was sie soeben erfahren hatte. Angenommen, das Hospiz war im Grundbuch nicht als Eigentümer des Landstreifens eingetragen und konnte deshalb ohne weiteres abgerissen werden? Angenommen, es wurde zu teuer für sie, das Haus zu unterhalten? Konnten sie sich darauf verlassen, dass Abraham bis in alle Ewigkeit die Wartungsarbeiten übernahm? Konnten sie ein baufälliges Haus teuer genug verkaufen, um etwas Neues, Zweckmäßiges für das Hospiz zu erwerben? Oder würden sie, wenn sie nur den kleinen Streifen Land verkauften, genug Geld zusammenbringen, um das Hospiz noch ein Weilchen über Wasser zu halten – aber für wie lange? Wie sie es auch drehte und wendete, die Situation war grässlich kompliziert.
Aber Mrs Abraham, deren Name Doris war, tischte im Handumdrehen Tee und Kekse auf, und Nel konnte es ihr nicht abschlagen. Doris war gerade so mütterlich, wie ihr Mann väterlich war, und die Gesellschaft der beiden freundlichen alten Leute tat ihr gut.
»Erzählen Sie mir von diesem Hospiz«, sagte Doris, als spürte sie, dass Nel vollkommen außer sich war und beruhigt werden musste. Und ihre vernünftige, sanfte Stimme beruhigte Nel tatsächlich. »Abraham bringt es nicht fertig, mir zu erklären, was da eigentlich vorgeht. Wie ich höre, machen Sie Ihre Arbeit ganz großartig.«
Es half ihr, gleichermaßen vernünftig antworten zu müssen, obwohl sie sich am liebsten auf den Teppich geworfen und laut geheult hätte. »Oh, das tun wir. Ich hoffe nur, dass wir auch weiterhin großartige Arbeit leisten können.«
»Was könnte Sie daran hindern?«
Nel beschrieb ihr leidenschaftlich die Arbeit, die im Hospiz getan wurde, die Schwierigkeiten mit dem Wiesengelände (aus Gründen der Höflichkeit geziemend zensiert) und die Probleme mit dem Bauvorhaben selbst. Auf halber Strecke musste sie sich noch eine Tasse Tee einschenken lassen, um bei Kräften zu bleiben.
»Sie sehen also«, kam sie schließlich zum Ende, »wir brauchen die Wiesen wirklich, um Jahr um Jahr Spenden zu sammeln. Wir brauchen auch den Zugang zum Fluss, damit die Kinder auf das Boot können.«
Abraham zwinkerte ihr nicht gerade verschwörerisch zu, aber es fehlte auch nicht viel. »Überlassen Sie das mir«, sagte er. »Vergessen Sie nicht, dass die Kinder bei meinem Vorschlag nach wie vor Zugang zum Fluss hätten.« Mit einem geübten Schlürfen leerte er seine Tasse. »Aber prüfen Sie einmal die Grundstücksurkunden des Hospizes und ermitteln Sie, wer genau wo das Sagen hat. Und, wenn ich das vorschlagen darf, ermitteln Sie, wer wovon profitieren wird.«
Nel machte sich zu dem Eiscremeverkäufer auf den Weg und dachte angestrengt darüber nach, was Abraham über die Grundstücksurkunden gesagt hatte. Sie hatte genug Zeit in seiner Gesellschaft verbracht, um auf seine Ehrlichkeit zu vertrauen, und sein Angebot, das Hospiz neu zu decken, sagte ihr, dass er das Herz eindeutig am rechten Fleck hatte. Natürlich würde er daran verdienen, aber Geld zu verdienen war nicht direkt eine Sünde. Eine Sünde dagegen war es, Geld an benachteiligten Menschen zu verdienen: alten Menschen oder Kindern mit lebensbedrohlichen Krankheiten.
Sie änderte ihre Meinung, was die Eiscreme betraf. Stattdessen bog sie in einen Feldweg ab und fuhr zurück in die Stadt. Sie wollte tun, was sie so oft getan hatte, nachdem sie hierher umgezogen war: Sie machte sich auf den Weg zum Hospiz.
Sie hatte Glück; ein kleiner Junge wollte etwas vorgelesen haben, sodass Nel einen Vorwand hatte, um es sich mit ihm auf den Sitzkissen bequem zu machen, einen Stapel Bücher neben sich. Das Zusammensein mit Kindern rückte die Dinge im Leben immer wieder ins richtige Verhältnis, denn bei Kindern konnte man sich nicht verstellen, man musste einfach man selbst sein. Genauso wenig brauchte man sich über ihre Motive Gedanken zu machen. Wenn sie eine Geschichte hören wollten, dann wollten sie eine Geschichte hören, und Nel war nur allzu gern bereit, vorzulesen. Als ihre eigenen Kinder noch klein gewesen waren, waren sie beim Vorlesen oft eingeschlafen, aber sie hatte weitergemacht und die Geschichte trotzdem zu Ende gelesen. Die Literatur für Erwachsene bot wenig Spielraum für verstellte Stimmen. Als der kleine Junge ihrer schauspielerischen Darbietung von Die Katze im Hut müde wurde und abzog, um sich eine andere Beschäftigung zu suchen, hievte Nel sich hoch und ging ins Büro.
»Karen«, sagte sie und versuchte, lässig wie immer zu klingen, obwohl sie sich in Wirklichkeit wie ein Spion vorkam, »ich könnte wohl nicht mal schnell einen Blick in die Grundstücksurkunden werfen, oder? Ich würde gern eine Sache wegen dieser Bauplanungsgenehmigung nachsehen.« Es entsprach vollkommen der Wahrheit, kam ihr aber trotzdem wie eine Flunkerei vor.
»Ich glaube nicht, dass die Urkunden hier sind, Nel«, erwiderte Karen, öffnete den Aktenschrank und stöberte in den Mappen. »Ich glaube, Christopher hat sie. Er hat sie mit nach Hause genommen, um selbst etwas zu überprüfen.«
»Oh, hm, ich schätze, er hatte dieselben Gedanken wie ich. Dieses alternative Bauvorhaben könnte ausgesprochen vorteilhaft für uns sein.«
»Warum fahren Sie nicht zu ihm nach Hause? Er hat die Urkunden wahrscheinlich parat, da er sie erst vor zwei Tagen mitgenommen hat.« Karen lachte. »Er könnte natürlich Golf spielen. In letzter Zeit ist er geradezu versessen darauf. Soll ich ihn für Sie anrufen und feststellen, ob er da ist?«
»Nein, machen Sie sich keine Mühe. Ich fahre einfach aufs Geratewohl mal vorbei. Wenn er nicht da ist, kann ich ihn später anrufen, um einen Termin auszumachen.«
Christopher Mowbray war da, aber die Urkunden waren es nicht. Nel war nicht überrascht, nicht jetzt, nachdem sie beinahe sicher war, dass er etwas im Schilde führte. Wahrscheinlich hatte er schon seit Ewigkeiten eine Kopie zu Hause und hatte die aus dem Hospiz nur mitgenommen, damit sie sonst niemand zu Gesicht bekam. »Oh nein«, erklärte Chris mit ungewohnter Leutseligkeit. »Ich habe sie einem Freund geliehen. Er interessiert sich für die Lokalgeschichte und wollte die Urkunden gern sehen.« Nel konnte dagegen kaum Einwände erheben. Sie war nicht verantwortlich für die Urkunden, und wahrscheinlich waren sie in der Tat von einigem Interesse für einheimische Historiker. »Wollen Sie nicht ins Wohnzimmer kommen und einen Sherry mit mir trinken?«
»Das wäre schön«, sagte sie.
Christopher Mowbrays Wohnzimmer war, wie Nel nicht zu bemerken umhin kam, der Inbegriff eines neureichen Hauses: all das, was sie bei Abraham, dem Bauunternehmer, erwartet und nicht vorgefunden hatte. Butzenscheiben, Kamin aus nachgemachtem Catswold-Stein und kitschige Skulpturen in den Nischen. Außerdem zog sich ein Soundsystem über eine ganze Wand, aber Bücher waren keine zu sehen. Es roch nach einer toxischen Chemikalie, die den Raum sehr sauber wirken ließ, aber zugleich irgendwie so unpersönlich wie eine Behörde. Nel erinnerte sich daran, dass Christopher Mowbray geschieden war, und fragte sich, ob es wirklich klug war, sich auf das Sofa zu setzen, wo er neben ihr Platz nehmen konnte.
Statt ihre eigenen Bedenken zu offenbaren, sagte Nel, sobald sie den Tío Pepe in der Hand hielt: »Also, was halten Sie von den Bauplänen für die Feuchtwiesen? Sie stimmen mir doch sicher zu, dass es für das Hospiz das Beste wäre, Abraham den Auftrag zu geben?!«
Er setzte sich neben sie, worauf die lederne Sitzfläche einsackte, sodass Nel unausweichlich auf ihn zu rutschte. »Eigentlich bin ich ganz und gar nicht Ihrer Meinung, Nel. Ich glaube nicht, dass Abraham – ist das übrigens sein Vorname oder sein Familienname?«
»Keine Ahnung. Er wird überall einfach nur Abraham genannt.«
»Ist ja auch egal. Aber ich glaube nicht, dass Abraham einen Plan vorlegen können wird, der für die Hunstantons auch nur annähernd attraktiv wäre. Er ist ein alter Mann. Er versteht nichts von all der neuen Technologie. Nein, ich denke, das Hospiz sollte Gideon Freebodys Pläne unterstützen.«
»Aber warum, wenn Abraham meint, dass er uns den Zugang zum Fluss bewahren könnte? Ich weiß, dass wir die Wiesen trotzdem verlieren würden, aber es wäre besser als gar nichts, wenn wir auch weiterhin das Boot erreichen könnten. Würde das nicht bedeuten, dass das Hospiz in Sicherheit ist?«
Chris Mowbray schüttelte den Kopf, und Nel nahm einen Schluck Sherry, den sie nicht besonders gern mochte, und rückte ein wenig von dem Mann ab. Es war ihr grässlich, wenn der Abstand zwischen ihr und einem anderen Menschen falsch war, sei es, dass sie zu weit entfernt oder dem Betreffenden zu nah war. Christopher Mowbray war ihr eindeutig zu nah. »Ich fürchte, das sind doch kleine Fische. Für das Hospiz wäre es bei weitem besser, den größeren Plan zu unterstützen.«
»Aber warum?«
Nel rückte ein wenig weiter von ihm ab. Sie hielt sich im Allgemeinen nicht für die Art Frau, der Männer Avancen machten, aber selbst sie konnte die Signale, die sie jetzt empfing, nicht falsch deuten.
»Ich fürchte, Nel ...« Er legte eine Hand auf ihr Knie. Sie konnte sich vorstellen, dass sie einen Fettfleck auf ihrer Hose hinterlassen würde. »Ich fürchte, es gibt einige Dinge, die ich Ihnen nicht offenbaren darf. Aber lassen Sie es sich von mir gesagt sein, Gideon Freebody ist unser Mann.«
»Das klingt sehr verdächtig, Christopher!« Nel lachte, obwohl sie das Ganze absolut nicht komisch fand.
»Ich weiß, dass es so klingen muss, aber glauben Sie mir, es ist wirklich im Interesse des Hospizes.« Er beugte sich vertraulich vor, und Nel bemerkte, dass er Mundgeruch hatte. »Wir schlagen vielleicht genug Geld für ein brandneues Hospiz heraus. Was würden Sie dazu sagen?«
Oberflächlich betrachtet, war es schwierig, auf diese Idee nicht mit Begeisterung zu reagieren, aber Nel misstraute dem Mann mit jeder Faser ihres Körpers. Sie wusste jetzt, dass Viv Recht gehabt hatte, in zweifacher Hinsicht. »Nun, das wäre natürlich wunderbar. Sie müssten diese Idee dem Ausschuss vorlegen. Meine Sorge gilt der Frage, was aus dem Hospiz würde, während ein neues Haus dafür gebaut wird. Und sollten wir solche Entscheidungen wirklich treffen, solange wir keinen Direktor haben? Bei einer solchen größeren Veränderung würde der neue Mann oder die neue Frau doch sicher ein Wort mitzureden haben.«
»Oh, zerbrechen Sie sich deswegen nicht den Kopf, Nel. Ich bin überzeugt davon, dass wir das hinbekommen würden. Und ich denke, es wäre erheblich einfacher, einen neuen Direktor zu bekommen, wenn wir ein neues Gebäude vorweisen könnten.«
Nel unterdrückte ein Stöhnen. Sie nahm noch einen Schluck Sherry. »Glauben Sie wirklich? Nun ...«
Genau zum richtigen Zeitpunkt klingelte das Telefon, sodass Nel kostbare Augenblicke gewann, um sich eine Erwiderung zurechtzulegen und darüber nachzudenken, wie sie hier herauskam, ohne beleidigend zu wirken. Obwohl er sich ihr gegenüber äußerst beleidigend benahm, konnte Nel sich ihrerseits ein solches Benehmen nicht erlauben.
Christopher hatte ihr den Rücken zugewandt und sprach leise in den Hörer. »Wie schön, von Ihnen zu hören. Dinner? Wann? Das wäre großartig. Sagen Sie mir, ist – ist Ihr Mann da? Ich würde gern einen Termin für eine Golfpartie ausmachen.«
Christopher mochte leise gesprochen haben, aber die Person am anderen Ende der Leitung tat es nicht. Die Stimme klang natürlich gedämpft, war aber offensichtlich weiblich – und amerikanisch. Kerry Anne?
Als Christopher Mowbray den Hörer einhängte, war Nel der schlüpfrigen Falle des Sofas entronnen und auf dem Weg zur Tür.