Kapitel 16
In der Woche darauf besuchte Nel eine Frau, die auffallend unschöne Taschen aus selbst gesponnener Wolle herstellte. Nel hatte beschlossen, die Dame nicht einmal in die Nähe ihres Marktes zu lassen, auch wenn sie die Vorschriften noch so gut erfüllen mochte. Auf der Rückfahrt kam sie in der Nähe des Pubs vorbei, in dem sie mit Jake gegessen hatte.
Obwohl sie ihre ganze Zeit darauf verwandte, ihn sich aus dem Kopf zu schlagen, beschloss sie, sich einen kleinen, sentimentalen Abstecher zu gönnen. Womöglich waren es in den kommenden Jahren die kleinen Erinnerungen an ihre kurzen Begegnungen, die ihr über dunkle Tage und Nächte hinweghelfen würden.
Direkt vor dem Restaurant war eine Baustelle, und während Nel an der vorübergehend installierten Ampel wartete, hatte sie reichlich Zeit, den Parkplatz zu inspizieren. Ihr fiel wieder ein, dass Jake eigens nach einer Stelle gesucht hatte, die es ihr ermöglichte, trockenen Fußes in das Restaurant zu gelangen. Wie aufmerksam von ihm.
Dann sah sie seinen Wagen. Er war dort! Ihr Herz tat einen Satz, und sie zog es einen Moment lang beinahe in Erwägung, ins Restaurant zu gehen und ihn zu suchen. Sie konnte es unter irgendeinem Vorwand tun; wenn er mit Mandanten zu tun hatte, brauchte sie gar nicht mit ihm zu sprechen, sie konnte einfach nach dem Weg fragen oder die Toilette benutzen und wieder gehen. Plötzlich wurde das Bedürfnis, ihn zu sehen, übermächtig. Sie warf einen Blick in den Rückspiegel. Angesichts des ungünstig gelegenen Eingangs und der Baustelle war es besser, sie wendete an der nächsten Nebenstraße, als zu versuchen, von ihrem jetzigen Standort aus den Parkplatz zu erreichen. Noch bevor sie eine endgültige Entscheidung getroffen hatte, kam Jake aus dem Pub. Er war mit Kerry Anne zusammen.
»Gerate jetzt nicht in Panik«, sagte sie sich, obwohl sich an ihrem Haaransatz und im Nacken bereits Schweißperlen bildeten. »Pierce wird jeden Augenblick nachkommen. Es ist lediglich ein Geschäftsessen, aber vielleicht wäre es doch besser, wenn ich nicht hineinginge.«
Die Ampel war immer noch rot. Jetzt betete sie, dass sie auf Grün umspringen würde, damit der Anblick von Kerry Anne und Jake zusammen sie nicht länger quälte. Sie konnte jedoch nicht aufhören, die beiden zu beobachten. Sie sah, wie er mit Kerry Anne zu einem anderen Wagen hinüberging – ihrem Wagen anscheinend. Also waren sie nicht zusammen hergekommen. Bedeutete das etwas? Und wo war Pierce?
Natürlich musste es eine rein geschäftliche Angelegenheit gewesen sein. Aber drei Dinge tauchten gleichzeitig in ihrem Gedächtnis auf und kollidierten dort mit unbarmherziger Genauigkeit: Das Bild von Kerry Anne, wie sie mit Jake flirtete, als Nel sie seinerzeit in Jakes Büro kennen gelernt hatte; Simon, der ihr mit kühler Stimme mitteilte, dass er Jake und Kerry Anne bei einem gemeinsamen Mittagessen gesehen habe; und die Erinnerung an die amerikanische Stimme am Telefon in Chris Mowbrays Haus.
Kerry Anne. Jake. Chris. Chris, der so versessen auf Gideon Freebodys Pläne war. Jake, der so versessen auf Kerry Anne zu sein schien, die wiederum so viel Geld wie nur möglich aus dem Erbe ihres Mannes herausschlagen wollte. Als der Anwalt der Hunstantons war Jake in einer sehr guten Position, um Pierce und Kerry Anne zu überreden, dass es das Beste für sie wäre, das Land an Gideon Freebody zu verkaufen. Wenn sie an Abraham verkauften oder Abraham das Gelände erschließen ließen, würde Gideon Freebody leer ausgehen. Und wenn Jake mit Gideon Freebody unter einer Decke steckte, dann wäre das das Letzte, was er wollte.
Jetzt brach Nel plötzlich am ganzen Körper der Schweiß aus. Ihr war übel, und in ihrem Kopf drehte sich alles, als sei sie körperlich krank. Oh Gott, wie konnte ich nur so dumm sein! Sie hätte am liebsten geweint, nicht die sentimentalen Tränen, die ihr mehrmals am Tag aus den Augenwinkeln rannen, sondern das herzzerreißende, den ganzen Körper schüttelnde Schluchzen, dem sie schon seit so langer Zeit nicht mehr erlegen war. Jake machte sich an sie heran, hatte sie sogar verführt – und das nur deshalb, weil sie die engagierteste Person im Vorstand des Hospizes war. Die anderen Ausschussmitglieder, ausgenommen natürlich Vivian, neigten eher dazu, Chris Mowbrays Führung zu folgen. Chris musste ziemlich zuversichtlich gewesen sein, dass er diese Leute auf Freebody einschwören konnte, außer Nel. Jake hatte den Auftrag bekommen, Nel ruhig zu halten, sodass sie nicht allzu viel Wind machen konnte.
Auch wenn sie stets das Gute in einem Menschen zu sehen bereit war, so war sie deswegen nicht vollkommen vernagelt, sie erkannte eine Ratte, wenn sie eine zu Gesicht bekam, sie durchschaute es, wenn man ihr etwas vormachte. Qual, Reue und Verzweiflung bemächtigten sich ihrer, als sie nun den Schweiß von ihrer Stirn wischte. Einen Moment lang hatte sie das Gefühl, Marks Andenken besudelt zu haben und ihre glücklichen gemeinsamen Jahre, indem sie es zugelassen hatte, dass ihre Sinne ihr Gehirn derart umnebelten. Sie massierte sich die Stelle zwischen ihren Augen mit dem Finger, als versuche sie auszulöschen, was sie getan hatte.
Kerry Anne suchte jetzt in ihrer Handtasche nach den Schlüsseln. Jake nahm sie ihr ab und öffnete die Wagentür für sie. Sie drehte sich zu ihm um, stellte sich auf die Zehenspitzen, schlang ihm die Arme um den Hals und zog seinen Kopf zu sich herunter, sodass sie etwa auf gleicher Höhe waren.
Der Wagen hinter ihr machte sie auf die Tatsache aufmerksam, dass die Ampel auf Grün gesprungen war. Der Fahrer hupte, ziemlich laut, und steckte den Kopf aus dem Fenster und rief. Sie legte den ersten Gang ein und fuhr los, sodass sie Jakes Reaktion nicht mehr beobachten konnte. Es war schrecklich, nicht zu wissen, ob er auf diese zärtliche, vertraute Geste reagiert hatte.
Aber ob er es getan hatte oder nicht, diese kleine Szene bestätigte ihren Verdacht. Da war etwas zwischen Jake und Kerry Anne, eindeutig. Sie musste verrückt gewesen sein, sich einzureden, dass da nichts sei. Jetzt hatte sie es mit ihren eigenen Augen gesehen.
Auf eine seltsame Weise bedeutete es eine Erleichterung für sie, das Schlimmste zu wissen. Ihre Gedanken und Träume waren vollkommen ausgelöscht worden von dem Anblick dieses hoch gewachsenen Mannes, der sich vorbeugte, um eine winzige, hübsche, habgierige Frau zu küssen, aber zumindest wusste sie jetzt Bescheid. Sie war von ihrem Elend erlöst worden. Sie biss sich auf die Lippen, um nicht in Tränen auszubrechen. Wenn sie weinte, würde sie an den Rand fahren und es richtig tun müssen, und sie wollte nach Hause. Aus seinem Elend erlöst. Was für ein merkwürdiger Ausdruck. Wo das in diesem Falle doch bedeutete, dass sie so tief in ihrem Elend untergetaucht war, dass sie es womöglich nie wieder schaffte, sich daraus zu befreien.
Als Nel nach Hause kam, war Fleur bereits da. »Hi, Mum, Tasse Tee?«
»Ich glaube, ich brauche etwas Stärkeres, Liebling. Haben wir Whisky da? Kram doch mal hinter den Cornflakes und schau, was du finden kannst.«
Nel ging ins Wohnzimmer und zog sich den ersten Spaniel auf den Schoß, den sie zu fassen bekam. Es ging doch nichts über einen Spaniel auf dem Bauch, wenn man auf der Stelle Trost brauchte. Aber im Augenblick wäre wohl eine ganze Tonne Spaniels vonnöten gewesen, um auch nur eine Kerbe in ihre Verzweiflung zu schlagen. Trotzdem tat es gut, Fleur dazu-haben, um mit ihr zu reden, um vor ihr den Anschein von Normalität aufrechtzuerhalten.
»Simon hat angerufen«, rief Fleur aus der Küche. »Ich habe welchen gefunden. Wie willst du ihn haben?«
»In einem Glas. Ganz einfach. Was hat Simon gesagt?«
»Nicht viel. Er möchte nur, dass du ihn zurückrufst.«
Nel stöhnte, lauter, als sie beabsichtigt hatte. In letzter Zeit genügte schon der Gedanke an Simon, und sie fühlte sich, als bekäme sie ihre Tage: gereizt und verärgert. Jetzt bezweifelte sie, dass sie ihm gegenüber auch nur höflich sein konnte. Fleur kam ins Wohnzimmer und reichte Nel ein Glas. »Willst du ihn denn nicht zurückrufen?«
»Meine Güte, der ist ja riesig. Nein, lass ihn hier! Ich schaffe das schon. Ich werde Simon zurückrufen, aber nicht jetzt. Ich habe einen seltsamen Tag hinter mir. Ich denke, ich werde gleich Vivian anrufen.« Nel wusste nicht genau, warum sie mit Viv sprechen wollte, um ihr zu sagen: »Ich hab’s dir ja gleich gesagt« oder um sich gründlich das Maul zu zerreißen über das Leben, die Männer und Kerry Anne. Wahrscheinlich beides.
»Na ja, Simon hat einen Zeitungsausschnitt oder so etwas in der Art, und er meint, es könnte nützlich sein für die Antibaukampagne.«
Als der erste Schluck Whisky in ihrem Magen ankam, entspannte Nel sich. »Das ist ja merkwürdig. Ich dachte, er wüsste, dass der Bau unausweichlich ist.«
»Mum! Das kann doch nicht sein! Das sind unsere Wiesen!«
»Ich wusste gar nicht, dass dich das interessiert! Und nein, es sind nicht unsere Wiesen, sie gehören den Hunstantons, und die werden Häuser drauf bauen.« Ohne den Hoffnungsschimmer, dass Jake Teil ihres Leben sein könnte, war diese Tatsache unerträglicher denn je. »Unser Ziel besteht jetzt darin, die Hunstantons dazu zu überreden, unseren freundlichen Bauunternehmer mit den Arbeiten zu betrauen, und nicht jemanden, der sogar noch die hässliche Seite des Kapitalismus in Verruf bringt.«
»Was um alles in der Welt redest du da?« Fleur hockte sich auf die Armlehne des Sofas, ein Glas Wasser in der Hand.
»Es gibt zwei Bauunternehmer. Einer will das Hospiz zum Selbstkostenpreis neu decken, und der andere will dutzende von Kaninchenlöchern hochziehen und uns den Zugang zum Fluss versperren.«
»Kaninchenlöcher wären doch ganz süß. Ich mag Kaninchen.«
»Fleur!«
»Schon gut. Ich weiß, was du meinst.«
Nel seufzte und schloss die Augen. »Und als wäre das nicht schon alles schlimm genug, verlieren wir möglicherweise auch noch das Gebäude des Hospizes. Ich habe das grässliche Gefühl, dass unser Vorsitzender die Absicht hat, es dem Bauunternehmer zu verkaufen – dem aufgeblasenen Kapitalisten, nicht dem netten.«
Fleur nickte weise. »Heikle Geschichte.«
Nel brachte ein schwaches Lächeln zu Stande. »Was erklärt, warum ich mich dem Alkohol zugewandt habe und warum ich mit Viv sprechen will.« Es war nicht der wahre Grund, aber das sollte Fleur nicht wissen.
Fleur hatte das Interesse verloren. »Ich bin halb verhungert. Wie wär’s, wenn du Viv auf ein Balti einladen würdest? Du könntest es bestellen, und sie könnte es auf dem Weg hierher abholen. Das würde dir die Kocherei ersparen.«
Trotz ihrer Niedergeschlagenheit musste Nel lachen. »Ich dachte, du hättest vielleicht Lust, uns ein leichtes, fettarmes Essen zu zaubern, voller freier Radikale und Antioxidantien?«
Fleur schüttelte den Kopf. »Ich kann Nudeln machen oder Nudeln, nichts Kompliziertes.«
»Oh! Ich war so beschäftigt, dass ich ganz vergessen habe, es dir zu erzählen! Ich habe letzte Woche einen absolut himmlischen Koch kennen gelernt!« Es tat gut, mit Fleur über normale Dinge zu reden. »Er wird für den Bauernmarkt kochen. Er ist wirklich ein Schatz! Und vielleicht kann er sogar dich dazu inspirieren, ab und zu mal einen Kochlöffel in die Hand zu nehmen.«
»Mum! Du spielst doch nicht mit dem Gedanken, dir einen Lustknaben zuzulegen, oder?«
»Natürlich nicht! Als würde ich so etwas tun!«, sagte Nel und fragte sich, um wie viele Jahre ein Mann jünger sein musste, um als ein solcher durchzugehen. Dann kam sie jedoch zu dem Schluss, dass Jake viel zu gefährlich war, um ihn als Lustknaben zu betrachten. Sie seufzte noch einmal. Oh, wenn sie doch nur noch ein einziges Mal seine Arme um sich spüren könnte. Das alles tat so weh. Sie schluckte ihren Whisky herunter, damit Fleur sie nicht noch einmal stöhnen hören konnte.
Fleur, die langsam die Hoffnung aufgab, jemals etwas zu essen zu bekommen, erhob sich. »Soll ich dir das Telefon holen, damit du Viv anrufen kannst? Hier kann man ja verhungern.«
»Es ist eine teure Angelegenheit, dich zu ernähren, weißt du das, Fleur?«
Fleur grinste. »Ja, aber ich bin es wert.«
Viv erklärte sich bereit, zu ihnen zu kommen, und sagte Fleur, was sie haben wollte. Nel verließ das gemütliche Sofa, um die Küche in Angriff zu nehmen. Die Aussicht auf einen Frauenabend mit Viv und Fleur war wie ein winziger Lichtstrahl in ihrem Elend. Schließlich war sie vollkommen glücklich gewesen, bevor sie Jake kennen gelernt hatte. Es gab keinen irdischen Grund, zu glauben, dass sie ohne ihn nicht wieder glücklich sein konnte. Während Nel die Vorbereitungen für das Balti traf und Zeitungspapier auf dem Plastiktischtuch ausbreitete, damit es keine kurkumagelben Fettflecken abbekam, klingelte das Telefon. Sie holte erst die Teller aus dem Ofen, bevor sie den Hörer abnahm. Es würde Simon sein, der noch einmal anrief, und ihr Herz krampfte sich schuldbewusst zusammen, weil sie ihn nicht zum Essen eingeladen hatte. Es war Jake.
Ihr Mund wurde sofort trocken. »Oh, du bist es.« Wie um alles in der Welt sollte sie sich ihm gegenüber auch nur halbwegs normal geben?
»Wen hast du denn erwartet?«
»Simon.«
»Oh, verstehe.«
Mit einiger Anstrengung gelang es ihr, ein wenig Speichel in ihrem Mund zu sammeln, sodass sie sprechen konnte. Angenommen, er hatte bemerkt, dass sie ihn auf dem Parkplatz gesehen hatte? Was für eine schreckliche Demütigung. »Ich weiß, ich hätte dich anrufen müssen, um dir für das Abendessen zu danken ...«
»Warum hast du es dann nicht getan?«
»Ich habe deine Telefonnummer nicht.«
Er lachte. »Das wäre eine Erklärung. Soll ich sie dir geben?«
»Hm, nein, spar dir die Mühe. Ich kann mich ja jetzt bedanken, wo ich dich schon mal am Apparat habe. Also, vielen Dank für das Essen neulich abends. Es war wirklich schön. Ich hoffe, du hast meine E-Mail bekommen.« Ihre Stimme klang tonlos und künstlich, aber sie hoffte, dass es ihm nicht auffallen würde. Sie wollte auf keinen Fall, dass er wusste, wie sehr er ihr wehgetan hatte.
»Das freut mich. Was machst du gerade?«
»Viv kommt mit einem Balti vorbei. Wir wollen über das Hospiz sprechen.«
»Oh, darf ich auch kommen?«
Wie viele Frauen brauchte er zur gleichen Zeit? Kerry Anne am Mittag – und es musste ein langes Mittagessen gewesen sein – und sie und Viv und Fleur heute Abend. »Nein. Es ist eine geschlossene Gesellschaft. Nur für Frauen. Und für Leute, denen das Hospiz am Herzen liegt.«
»Mir liegt das Hospiz ebenfalls am Herzen.«
Aber nicht ganz so sehr, wie ihm Kerry Anne am Herzen lag. »Nicht genug, sonst würdest du deine Mandanten nicht dazu ermutigen, auf dem Land zu bauen.«
»Ich ermutige niemanden, ich arbeite lediglich für etwas, das sowieso geschehen wird.«
»Nenn es, wie du willst, soweit es das Hospiz betrifft, bist du immer noch der Feind.« Sie kniff die Augen zusammen und hoffte, dass es wirklich nur die Hunstantons waren, die er unterstützte, und nicht Gideon Freebody. Jetzt, da sie ein wenig ruhiger war, fielen ihr seine seltsamen Andeutungen, die Pläne betreffend, wieder ein, und sie war sehr verwirrt.
»Dann komme ich also nicht vorbei?«
»Bitte, tu’s nicht.« Warum konnte sie nicht einfach entschieden »Nein« sagen und dazu stehen? Warum wollte sie ihn trotzdem sehen, trotz allem, was geschehen war? »Viv und ich müssen wirklich arbeiten. Das Balti dient nur dazu, Fleur bei Laune zu halten.«
»Gibt es auch Zwiebel-Bahjis?«
»Ich nehme es an, da Fleur die Bestellung aufgegeben hat.« Obwohl das Gespräch eigentlich zu Ende war und Jake möglicherweise die hinterhältigste, bösartigste Schlange auf Erden war, wollte sie weiter seine Stimme hören. »Ich liebe Bahjis.«
»Ach ja?«
»Nel, ist alles in Ordnung mit dir? Du klingst ein bisschen seltsam?«
»Ach ja? Ich bin wahrscheinlich nur müde.«
»Neulich abends warst du auch müde, aber da hast du dich trotzdem nicht so angehört wie jetzt.«
»Das war vielleicht eine andere Art von Müdigkeit. Wie dem auch sei, ich muss jetzt Schluss machen. Auf Wiedersehen.«
»Mum! War das Jake am Telefon? Warum warst du so komisch zu ihm?«
»Wie ich schon sagte, ich bin müde.« Sie wandte sich ab, damit Fleur nicht sehen konnte, wie nahe sie den Tränen war.
In ihrem Herzen hatte sie immer gewusst, dass Jake keinen zweiten Blick auf sie verschwenden würde, wenn jemand Junges und Hübsches des Weges käme. Jetzt hatte sie den Beweis dafür mit eigenen Augen gesehen. Und sie hatte so vollkommen den Verstand verloren, dass sie mit ihm ins Bett gegangen war. Eine Woge der Verzweiflung überschwemmte sie. Sie stellte sich vor, wie Chris Mowbray, die Hunstantons und Gideon Freebody darüber redeten.
»Sie ist die Unruhestifterin«, hätte Chris gesagt. »Gehen Sie mit ihr ins Bett, Jake, bringen Sie sie dazu, Ihnen aus der Hand zu fressen. Sie ist über vierzig, sie ist Witwe, sie wird dankbar dafür sein. Sie brauchen es nur ein einziges Mal zu tun. Es würde sich lohnen, wenn wir sie dadurch vom Hals hätten ...« Der Schmerz brannte wie Säure in ihrer Seele, dass sie, eine aufrechte, angesehene Säule der Gemeinde, Mutter der Nation, sich dazu hatte bringen lassen, mit jemandem zu schlafen (es gab einen kürzeren, härteren Ausdruck, den sie nicht einmal denken mochte), der sie für seine eigenen Zwecke benutzte.
Sie hätte sich noch einen Whisky eingegossen, nur dass Fleur sie so seltsam ansah und sie gerade jetzt keine Zeit hatte, ihren Kummer zu ertränken.
In diesem Moment traf Vivian ein, beladen mit Plastiktüten, aus denen bereits das Fett tropfte. Daher konnte sie sich nicht weiter in ihre Niedergeschlagenheit hineinsteigern. Sie würde warten müssen, bis Fleur ins Bett gegangen war, bevor sie sich Viv anvertrauen und ihr erzählen konnte, was sie gesehen hatte. Und selbst die gnadenlos positive Viv würde Mühe haben, etwas Positives daran zu finden.
Während Viv sich an den Hunden vorbeischob, die sie sehr liebten und die Prozedur dadurch verzögerten, hatte Nel noch ein wenig Zeit zum Nachdenken. Selbst wenn Jake sie nicht verführt hatte, um sie gefügig zu machen, war er dennoch ein sehr anziehender, intelligenter Mann, und seine Aufmerksamkeitsspanne war wahrscheinlich nicht allzu lang, wenn es sich um Frauen drehte. Er hatte wahrscheinlich als Kind unter einem Defizit an Aufmerksamkeit gelitten. Sie konnte nicht erwarten, das sie sein Interesse für mehr als einige Wochen fesseln würde. Und sie wusste, dass ihre Gefühle nichts damit zu tun hatten, dass sie über vierzig und Witwe war.
Mehrere tausend Kalorien und etliche Poppadoms später sprachen Nel und Viv über das Hospiz, wobei Nel jede Erwähnung Jakes unterließ. »Ich kann nicht behaupten, dass ich im Augenblick sehr hoffnungsvoll wäre«, meinte Nel, der nicht entgangen war, dass Viv sie forschend ansah, und die sich deshalb verpflichtet fühlte, ihr einen Grund für ihre Mutlosigkeit zu nennen, den Fleur akzeptieren würde. »Ich glaube, dass Christopher, die Hunstantons und Gideon Soundso, wie immer er heißen mag, alle unter einer Decke stecken. Ich wette, sie wissen genau, wem dieses Stückchen Land gehört, und haben schon längst alles in trockenen Tüchern. Möchtest du Tee oder lieber ein Bier?«
»Tee, bitte ...« Vivian brach ab, da es in diesem Moment an der Tür klingelte. »Erwartest du noch jemanden, Nel?«
»Wenn das Jake ist«, sagte Nel ungehalten, während sie über die Hunde zur Tür stolperte und ihr Herz auf eine jämmerlich kindische Art und Weise hämmerte, »dann bringe ich ihn um.«
»Warum sollte er es sein?«, rief Viv ihr nach. »Hast du Geheimnisse vor mir?«
»Oh, hallo, Simon«, sagte Nel. »Waren wir verabredet? Hat Fleur vergessen, mir etwas auszurichten?« Sie wusste, dass das unfair war. Fleur vergaß niemals, etwas auszurichten. (Im Gegensatz zu ihren Brüdern, die das regelmäßig taten.)
Simon schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin nur vorbeigekommen, um dir eine Liste von Bauern aus den Gelben Seiten zu geben, die vielleicht Interesse hätten, auf dem Markt zu verkaufen. Und derjenigen Landwirte, die ich noch nicht erreichen konnte. Und außerdem ...« Er hielt inne. »Ich dachte, das hier könnte dich interessieren.« Er wedelte mit einem Stück Papier herum. »Das habe ich aus dem Internet.«
»Ich bin dir sehr dankbar für all die Kontakte, Simon. Das ist wirklich lieb von dir. Es muss dich Stunden gekostet haben. Aber komm doch rein.« Etliche Sekunden zu spät setzte sie ein herzliches Willkommenslächeln auf und kam sich abscheulich vor. Er hatte am Samstag so viel für sie erledigt, und jetzt wirkte sie nicht einmal dankbar, geschweige denn, dass sie sich so benahm. Und Simon wollte sie nur um ihrer selbst willen und verfolgte keine Hintergedanken bei seiner Werbung. »Viv ist hier. Wir essen gerade ein Balti und reden über das Hospiz.«
Simon kam in die Küche. Obwohl er müde war, konnte er einen angewiderten Gesichtsausdruck nicht kaschieren, als er das Durcheinander von Aluminiumschalen, schmutzigen Tellern, Plastiktüten, aus denen fein gehackter Salat und Zwiebeln herausquollen, zerbrochenen Poppadoms und Bierdosen sah.
»Hallo, Simon«, sagte Vivian. »Komm rein und hol dir einen Teller. Wir haben noch jede Menge übrig.«
»Nein danke, ich habe schon gegessen. Ich bin nur schnell vorbeigekommen, um Nel das hier zu zeigen. Und du solltest es dir wohl auch ansehen.«
Nel nahm das Blatt mit den Fingerspitzen entgegen, brachte es aber trotzdem fertig, Fettflecke darauf zu hinterlassen. »Setz dich doch, Simon«, forderte sie ihn auf.
Es war die Kopie eines Artikels aus einer Lokalzeitung. Sie überflog den Text. Es ging um einen Gerichtsfall, in dem gegen einen Bauunternehmer und einen Rechtsanwalt verhandelt worden war. Die Anklage hatte auf illegalen Abriss eines großen Altersheimes gelautet. Der Abriss war erfolgt, damit eine Agentur dort bauen konnte. Die beiden Angeklagten waren freigesprochen worden. Nel konnte es nicht ertragen, jedes einzelne Wort zu lesen; die Quintessenz des Ganzen war schlimm genug. Jake Demerand wurde nicht namentlich genannt, aber es war ein Foto von ihm beim Verlassen des Gerichts abgebildet. Die Aufnahme war verschwommen, aber unverkennbar.
»Lass mal sehen.« Vivian nahm ihr das Blatt ab. »Der Mann sieht aus wie Jake. Trotzdem. Sie haben ihn freigesprochen.«
»Ich dachte nur, dass Nel einen Blick darauf werfen sollte«, meinte Simon. »Es könnte bei ihrer Antibaukampagne hilfreich sein.«
»Es ist nicht nur Nels Kampagne, Simon. Der ganze Leitungsausschuss des Hospizes ist gegen die Bebauung«, stellte Vivian fest. »Wir sammeln den größten Teil unserer Spenden auf diesem Grundstück. Und wir brauchen Zugang zum Flussufer.«
»Ich glaube, ich koche jetzt mal einen Tee«, sagte Nel, die von Jake und dem Hospiz ablenken wollte. »Habe ich euch das eigentlich erzählt? Ich habe neulich einen Koch für den Bauernmarkt kennen gelernt. Der Mann ist einfach göttlich und wie geschaffen für uns. Und obendrein ein großartiger Koch.«
»Pass bloß auf, Simon«, meldete Fleur sich zu Wort. »Ich glaube, Mum hält möglicherweise Ausschau nach einem Lustknaben.«
»Was für eine Vorstellung!«, rief Vivian. »Ein Mann, der gut im Bett ist und obendrein kochen kann! Eine bessere Kombination gibt es nicht.«
Simon rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. Nel seufzte. Vivian war zu vulgär für Simon, und sie war davon überzeugt, dass ihre Freundin das mit Absicht herauskehrte. Sie konnte sich hervorragend benehmen, aber wenn Simon dabei war, riss sie sich jedes Mal ein Bein aus, um ihn zu schockieren. Konnte sie sich wirklich an einen Mann binden, der mit ihrer besten Freundin nicht zurechtkam? Auf ihre Freundin konnte sie nicht verzichten, so viel stand fest; das war kein Mann auf Erden wert.
»Du weißt nicht, ob er gut im Bett ist«, sagte Fleur, was Simon noch peinlicher war.
»Nun, vielleicht müsstest du ihn ein bisschen auf Vordermann bringen«, meinte Vivian. »Ihm die Feinheiten beibringen. Aber all diese jugendliche Energie, wow! Und danach ein köstlicher kleiner Imbiss. Klingt perfekt.«
»Ich gebe dir seine Adresse«, erwiderte Nel und wünschte, sie sei in der Stimmung für diese Art von Konversation gewesen. »Aber nochmal zurück zum Hospiz.« Sie leerte eine Flasche Bier, wohl wissend, dass Simon Frauen hasste, die aus der Flasche tranken. Tatsächlich gefiel es ihr selbst nicht besonders, aber ihr waren die Gläser ausgegangen. »Unser nächstes Ziel, Simon, besteht darin, die Hunstantons davon zu überzeugen, dass Abrahams Plan der bessere ist, weil dabei für das Hospiz gleich noch ein neues Dach abfallen würde. Wir müssen sie dazu bringen, sich gegen diesen Gideon Soundso zu entscheiden, dessen Häuser, wie man so hört, einfach grauenhaft sind.«
Simon schüttelte wissend den Kopf, was Nel noch mehr in Wut brachte. »Ich habe in letzter Zeit gelegentlich mit Chris Mowbray Golf gespielt, und er denkt, dass die Hunstantons mit dem größeren Bauunternehmer besser bedient wären.«
»Nun, dann wollen wir hoffen, dass sie sich nicht von Chris beraten lassen!«, erklärte Vivian energisch.
»Sie könnten es schlechter treffen. Chris versteht eine Menge von geschäftlichen Investitionen.«
»Wenn du ein Busenfreund von Chris Mowbray bist«, beharrte Viv, »warum erzählst du uns dann Dinge, die das Bauvorhaben deiner Meinung ausbremsen könnten?«
»Möchte irgendjemand eine Tasse Tee?«, fragte Nel. Selbst zu den besten Zeiten hasste sie Auseinandersetzungen, und jetzt, da ihr Herz langsam, aber sicher vor sich hinbröckelte, war ihre Schmerzschwelle niedriger denn je. Sie wusste, dass Viv Simon nicht über den Weg traute.
Simon sah Nel an. »Ich fand nur, du solltest Bescheid wissen, das ist alles.«
Es ging um Jake, wurde Nel plötzlich klar. Das ist Simons Art, mir mitzuteilen, dass er ein Schwein ist. Nun, vielen Dank, Simon, aber da bin ich schon selbst drauf gekommen.
»Möchte noch jemand Tee, oder bin ich die Einzige?«
»Ich nehme einen Frauentee«, antwortete Vivian, »falls du welchen da hast. Ich brauche etwas Starkes. Ich würde ja Whisky trinken, wenn ich nicht noch fahren müsste.«
»Simon?«
»Ich werde dieses Hexengebräu, das ihr beide, du und Viv, so liebt, keinesfalls anrühren, aber eine Tasse Kaffee wäre nicht schlecht. Nescafé reicht.«
»Oh, gut«, murmelte Nel bei sich, »denn etwas anderes habe ich nicht im Haus. Fleur?«, fügte sie lauter hinzu. »Möchtest du irgendetwas, das aus heißem Wasser gemacht wird?«
»Nein danke, Mum, ich halte mich an Bier.«
»Hast du morgen Früh nicht Schule?«, fragte Simon. Niemand nahm Notiz von ihm. »Du darfst dir die Sache mit dem Bau nicht allzu sehr zu Herzen nehmen. Die Menschen brauchen schließlich Häuser, Nel.«
»Das weiß ich. Und die Menschen sollen auch ihre Häuser bekommen. Wir wollen nur dafür sorgen, dass es die richtigen sind«, sagte Nel, während sie Teebeutel in die Gläser tauchte und sich inbrünstig wünschte, sie könnte nach oben gehen und sich ordentlich ausheulen. »Wenn wir also alle akzeptieren, dass auf Paradise Fields gebaut werden wird, warum bewirfst du Jake Demerand dann mit Schmutz?« Sie hatte diese Frage eigentlich gar nicht stellen wollen. Es war wahrscheinlich der Whisky, der sie dazu brachte, Dinge zu sagen, die sie später bereuen würde.
»Er ist für meinen Geschmack einfach eine Spur zu glatt. Ich habe Kerry Anne gesagt ...«
»Was?«, fragte Vivian scharf. »Was hast du Kerry Anne gesagt?«
»Dass Demerand vielleicht nicht der beste Anwalt für sie wäre.«
»Ich bin ein wenig verwirrt«, bemerkte Fleur.
»Geschieht dir recht. Was musst du auch Bier trinken, wenn du morgen Schule hast«, versetzte Viv.
Fleur überhörte den Einwurf ihrer Patentante. »Du schleppst Mum irgendwas aus dem Web an, um ihr bei ihrer Initiative zu helfen, und dann erzählst du ihr, die Hunstantons hätten deiner Meinung nach den falschen Anwalt. Das kann ihr doch nur recht sein, wenn sie keine Siedlung auf Paradise Fields haben will.«
Simon lachte. »Das war nicht ganz das, was ich meinte, Fleur. Es gibt schon seit Jahren eine Bauplanungsgenehmigung für die Wiesen. Daran lässt sich jetzt nichts mehr ändern.«
Fleur liebte es, mit Simon zu streiten, wenn niemand sie berechtigterweise daran hindern konnte. »Ich bin davon überzeugt, wir könnten es schaffen, wenn wir uns nur genug Mühe gäben. Wir könnten uns zum Beispiel eingraben, wie Boggy, oder wie immer sein Name sein mag.« Sie zog Simons Papier aus dem Durcheinander auf dem Tisch. »Also, inwiefern kann uns das hier von Nutzen sein?«
»Ich glaube, überhaupt nicht«, erklärte Nel, während sie die Becher verteilte. »Wenn wir den Hunstantons beweisen, dass ihr Anwalt in zwielichtige Geschäfte verwickelt war, werden sie sich einfach einen anderen Anwalt nehmen ...«
»Und der nächste wäre vielleicht nicht gar so attraktiv«, warf Vivian wenig hilfreich ein.
»... es würde also keinen Unterschied machen«, beendete Nel ihren Satz.
»Das Problem ist, dass keiner von uns weiß, wie die Hunstantons reagieren werden«, sagte Vivian und nippte an ihrem Tee. »Denn im Grunde kennt sie keiner von uns.«
»Chris kennt sie«, sagte Simon. »Jedenfalls ist er gerade dabei, sie kennen zu lernen. Ich schätze, er wird sie schon dazu überreden, den richtigen Entschluss zu treffen.«
»Richtig, soweit es dich angeht«, bemerkte Fleur. »Ich nehme an, als Grundstücksmakler musst du von Berufs wegen erpicht darauf sein, weitere Häuser zu verkaufen.«
Nel sah sie stirnrunzelnd an. Es war eine Sache, freimütig zu sein, Unhöflichkeit war eine andere.
»Nun, ich glaube nicht, dass wir Dinge, die im Wesentlichen das Hospiz betreffen, außerhalb des Ausschusses erörtern sollten«, erklärte Vivian jetzt, die normalerweise bereit gewesen wäre, alles überall zu erörtern, wenn die Gerüchte nur viel versprechend waren.
»Ganz recht«, pflichtete Nel ihr zu. Sie hatte inzwischen begonnen, die kärglichen Überreste des Essens zusammenzuräumen, denn sie wollte ihre Gäste loswerden, um nachdenken zu können.
Sie schienen alle gleichzeitig zu reden. Nel klinkte sich aus der Debatte aus, zu niedergeschlagen, um ihre Gefühle im Augenblick benennen zu können.
»Müde, Nel?«, fragte Simon ein Weilchen später.
Viv und Fleur räumten die Spülmaschine ein, und Nel war ins Wohnzimmer gegangen, angeblich, um benutzte Becher und Gläser von dort zu holen, in Wahrheit aber, um ein wenig Ruhe zu finden. Es gefiel ihr gar nicht, dass Simon ihr gefolgt war, aber sie hatte auch nicht die Energie, ihn daran zu hindern, sie in die Arme zu nehmen.
»Ein bisschen«, murmelte sie in sein Jackett. »Ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir.«
Sie versuchte, sich von ihm zu lösen, aber er ließ es nicht zu.
»Lass mich dafür sorgen, dass er ein wenig besser wird«, flüsterte er und machte Anstalten, sie zu küssen.
Sie versteifte sich in seinen Armen und brachte ihren Mund außer Reichweite. Nicht heute; heute konnte sie seine Zärtlichkeiten nicht ertragen. »Tut mir Leid, Simon. Ich bin nicht in Stimmung.«
»Ich dachte nur, wir sollten über unsere Zukunft nachdenken, wo du doch Fleur nicht mehr lang am Hals haben wirst ...«
Sie löste sich von ihm. Es gefiel ihr nicht, wenn er von Fleur sprach, als sei sie ein klebriges Etwas, das man mit einem speziellen Reinigungsprodukt entfernte.
»Tut mir Leid«, fuhr er fort und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Ich wollte dich nicht drängen. Du brauchst mehr Zeit zum Nachdenken. Aber ich möchte, dass du über meine Gefühle für dich Bescheid weißt. Wenn diese ganze Geschichte mit dem Hospiz vorbei ist, bringe ich dich übers Wochenende irgendwohin und erinnere dich daran ...«
»Woran? Woran willst du mich erinnern?«
Er lachte, als wolle er sagen: Ich weiß, dass du mich aufziehst, und es macht mir nichts aus. »Ich werde dich daran erinnern, dass du eine Frau bist«, sagte er laut, »mit weiblichen Bedürfnissen.«
Nel trat einige Schritte zurück und setzte sich auf das Sofa. »Weibliche Bedürfnisse« klang nach Damenbinden oder einem Intimdeodorant. »Tut mir Leid. Ich bin wirklich nicht besonders entgegenkommend. Wahrscheinlich habe ich zu viel mit dem Hospiz und dem Bauernmarkt zu tun, um an irgendetwas anderes zu denken.«
Viv kam herein. »Es sieht da drin jetzt ein bisschen besser aus, also werde ich mal abschwirren und euch Turteltauben allein lassen, damit ihr euch zusammen die Nachrichten ansehen könnt.«
Nel stand hastig auf. »Aber ich habe dir noch gar nicht das Geld für das Balti gegeben!«
»Das geht auf mich. Ehrlich, lass gut sein.«
»Nein, wirklich.« Nel drängte Viv zur Tür. »Ich hole nur meine Handtasche. Da ist noch etwas, worüber ich mir dir reden muss«, fügte sie hinzu, als Simon sie nicht länger hören konnte.
»Was gibt es denn?«, fragte Vivian mit dramatischem Flüsterton.
»Oh, nur etwas, das ich beobachtet habe. Es ist wahrscheinlich nicht wichtig ...«
»Für dich offensichtlich doch. Komm morgen zu mir, und wir reden darüber.«
»Du machst doch nicht irgendetwas mit den Bienen, oder? Ich kann keinen zusätzlichen Stress gebrauchen.«
»Nein! Ich werde einfach zu Hause sein. Ich habe erst nachmittags Termine. Jetzt geh und mach es dir mit Simon auf dem Sofa gemütlich.«
»Früher hast du mich nie ermutigt, das zu tun.«
»Ich weiß jetzt, dass du außer Gefahr bist. Eine Frau, die mit Jake geschlafen hat, würde wohl kaum so tief sinken, dasselbe mit Simon zu tun.«
»Viv! Ich bin so gegen neun bei dir. Ich habe eine ganze Liste von Anrufen, die ich später erledigen muss, aber ich muss vorher mit den Hunden raus.«
Als Nel wieder ins Wohnzimmer kam, hatte Simon sich auf dem Sofa niedergelassen und tat genau das, was Viv vorausgesagt hatte: Er sah die Nachrichten. Jetzt klopfte er auf das Polster neben sich. »Setz dich zu mir. Es ist gemütlich, hier zu sitzen und fernzusehen.«
Nel sah sich nicht gern die Nachrichten an. Sie fand sie bedrückend, und sie konnte nichts daran ändern. Das war auch der Grund, warum ihr Fernsehkonsum sich auf Dinge beschränkte, die andere Leute als Schrott betrachteten, und ihr Leben sich darum drehte, anderen zu helfen.
Sie setzte sich neben Simon, schloss die Augen und ließ es zu, dass er ihr einen Arm um die Schultern legte, obwohl das bedeutete, dass sie nicht mehr bequem sitzen konnte.
»Das ist schön«, sagte Simon. »Ich könnte mich daran gewöhnen. Du und ich zusammen gemütlich vor dem Fernseher. Schließlich sind wir noch nicht zu alt für Leidenschaft, meinst du nicht auch?«
Nel schloss die Augen. Vielleicht war sie zu alt für Leidenschaft. Vielleicht war Leidenschaft ungesund für Menschen über vierzig. Vielleicht sollte sie Simon einfach einziehen lassen und Jake vergessen. Ärgerlicherweise drängte sich eine Träne durch ihre fest geschlossenen Lider. Sie schniefte.