Kapitel 9

Es war Montagmorgen, und Nel betrachtete das Bild eines Schaufelraddampfers, das sie im Geiste in einen Kuchen verwandelte, als das Telefon klingelte.

Sie zuckte zusammen. Nur ein Teil ihrer Gedanken war bei Kuchendosen, Schiffssirenen und Zuckerguss gewesen, der größere Teil hatte sich immer noch mit Jake Demerand und dem beschäftigt, was zwischen ihnen vorgefallen war – nicht mit dem schrecklichen Erwachen, sondern mit den wonnevollen Augenblicken, in denen alles Denken ausgesetzt hatte und nur der Instinkt zählte. Das Schrillen des Telefons, das sie in die wirkliche Welt zurückholte, war alles andere als angenehm.

»Spreche ich mit Nel Innes?«, gurrte Kerry Anne.

»Ja.« Nel erkannte ihre Stimme. Kerry Anne war ein Eimer kalten Wassers in menschlicher, telefonischer Gestalt auf ihre verderbten, aber genussvollen Erinnerungen. Kerry Anne stellte alles dar, wogegen Nel kämpfte.

»Hier spricht Kerry Anne Hunstanton. Ich möchte, dass Sie mich zu dieser Frau bringen, die ihre eigene Kosmetik herstellt.«

»Oh?« Das möchten Sie, ja?, dachte sie. Nun, ich werde das nicht für Sie tun, junge Dame. Nicht ohne mein Pfund Fleisch als Gegenleistung, vielen Dank.

»Ja. Ich kann nicht nach London fahren, und meine Reinigungsmilch ist alle.«

»Nun, ich kann Ihnen natürlich helfen, aber da war doch noch eine Kleinigkeit, die Sie für mich tun wollten?«

»Ich habe mit Pierce über den Markt gesprochen, und er sagt, die Leute dürfen weitermachen, bis die Bauarbeiten anfangen.«

»Wann wird das sein?«

»Das weiß Gott! Wir haben immer noch Schwierigkeiten mit den Plänen. Irgendetwas wegen der Ziegelsteine, die wir benutzen wollen.«

Gut, dachte Nel. Vielleicht würden ihre Pläne ja bis in alle Ewigkeit abgewiesen werden, und sie und Vivian brauchten sich nicht halb umzubringen, um die Wiesen zu retten. Erst heute Morgen hatte sie auf dem Dachboden nach einem der alten Bücher ihrer Kinder gesucht, weil sie sich schwach erinnerte, dass dort ein Schaufelraddampfer abgebildet war. Dabei hatte sie eine Plastikhülle entdeckt, in der einmal eine Matratze verpackt gewesen war. Sie wollte die Plastikhülle gerade wegwerfen, als ihr wieder einfiel, dass sie vielleicht nützlich sein würde, wenn ihr und Vivian tatsächlich nichts anderes übrig blieb, als Simons Vorschlag aufzugreifen und sich vor die Bulldozer zu legen. Feuchtwiesen waren von Natur aus eben feucht.

»Also, wann können Sie mich hinbringen? Werden Sie mich hinbringen?«

Nel antwortete immer noch nicht. Sie hatte furchtbar viel zu tun – die Frage, wie man exotisch geformte Kuchen herstellte, war tatsächlich eins ihrer geringsten Probleme –, und sie wollte Zeit schinden, um Kerry Anne möglichst lange auf die Folter zu spannen. Andererseits würden ein paar Stunden in Kerry Annes und Sachas Gesellschaft sie von finsteren Rechtsanwälten ablenken, die allein durch die Tatsache, dass sie atmeten, magische Kräfte entwickeln konnten. Und eine solche Ablenkung wäre hochwillkommen. Es tat ihr nicht gut, die Höhepunkte der Samstagnacht immer wieder zu durchleben. Sie sollte sich lieber auf die schrecklichen Konsequenzen ihrer Torheit konzentrieren. Nachdem sie nun nach all den Jahren den Sex wiederentdeckt hatte, fühlte sie sich wie beim ersten Stück Schokolade nach einer langen, strengen Diät: Es war absolut köstlich und weckte das Verlangen nach mehr. Gott sei Dank bestand in diesem Fall keine Chance, dass Nel jene schrecklich-schöne Erfahrung wiederholen würde.

»Bitte?« Kerry Annes schmeichelnde, selbstbewusste Stimme nahm etwas Flehentliches an, auf das die Mutter in Nel sofort ansprang, gegen ihr besseres Wissen. Sie seufzte.

»Ich werde einen Termin mit meiner Freundin vereinbaren und mich dann wieder bei Ihnen melden. Sind Sie jederzeit abkömmlich?«

»Im Augenblick ja, mehr oder weniger, obwohl ich Ende der Woche meine Familie in Kalifornien besuchen will.«

»Schön, geben Sie mir Ihre Nummer, und ich rufe Sie dann wieder an.«

»Ich habe Ihnen meine Nummer schon gegeben!«

»Ich habe sie verloren.«

Kerry Anne nannte ihre Nummer.

»Schön, ich werde versuchen, in den nächsten Tagen etwas zu arrangieren.«

»Vielen Dank. Das ist vielleicht genau das, was ich brauche.«

Nel legte nachdenklich den Hörer auf, fest entschlossen, dass Kerry Anne nichts bekommen würde, das nicht in irgendeiner Hinsicht auch anderen zugute kam. Die junge Frau hatte ohnehin schon genug. Dann seufzte Nel abermals, als ihr der Gedanke durch den Kopf schoss, dass sie fast so weit war, Kerry Anne und Pierce mit den Wiesen machen zu lassen, was sie wollten, wenn sie nur Jake für sich behalten konnte.

Sie rief Sacha an, bevor sie es vergaß oder abgelenkt wurde; der Sex schien ihr Gehirn aufgeweicht zu haben.

»Hallo, Nel! Ich habe ja eine Ewigkeit nichts mehr von dir gehört! Wie läuft’s denn so?«

»So lala. Und bei dir?«

Alle Begeisterung wich aus Sachas Stimme. »Frag nicht. Ich bin immer noch auf der Suche nach einem anderen Haus. Die Wohnräume sind nicht das Problem, aber finde mal etwas mit genug Platz.«

»Ich dachte, du hättest schon etwas gefunden.«

»Das ist ins Wasser gefallen.«

»Kannst du nicht irgendwo anders etwas mieten, wo du die Kosmetik herstellst? Du brauchst es doch nicht unbedingt zu Hause zu machen, oder?«

»Ich müsste in viel größerem Umfang produzieren, um zusätzliche Mietkosten rauszuwirtschaften. Vielleicht werde ich Sacha’s Natural Beauty aufgeben müssen.«

»Oh, Sacha, das wäre ja schrecklich. Gerade nachdem die Dinge so gut angelaufen sind und ich in meinem Leben dringend ein Anti-Falten-Serum brauche! Aber mal im Ernst, du musst für die Dinge kämpfen, die dir etwas bedeuten. Du darfst dich nicht einfach hinlegen und alles über dich ergehen lassen.« Sie fragte sich kurz, ob sich in Zukunft all ihre Vergleiche um das Thema »Hinlegen« drehen würden. Auch wenn sie selbst in puncto Hinlegen nicht gerade sonderlich passiv gewesen war. »Das perfekte Haus gibt es wirklich, du hast es nur noch nicht gefunden.«

»Ja, hm. Irgendwann wird man müde.«

»Natürlich. Wenn ich mit dieser Paradise-Fields-Geschichte nicht so viel um die Ohren hätte, würde ich dir bei der Suche helfen. Aber ich werde mich auf jeden Fall mal umhören, wenn ich die Bauernhöfe in der Gegend besuche, die sich für eine Standgenehmigung auf dem Markt bewerben. Vielleicht hat der eine oder andere ja ein Gebäude frei, das er dir umsonst überlassen würde, oder fast umsonst.«

»Das wäre lieb von dir. Und jetzt sag mir, was ich für dich tun kann?«

»Hm, ich habe überlegt, ob ich eine potenziell sehr gute Kundin zu dir rüberbringen darf. Sie möchte gern sehen, was du machst, aber vielleicht ist es dir ja lieber, wenn ich das nicht tue.«

»Oh doch, bring sie ruhig her. Solange ich noch im Geschäft bin, sollte ich so viel verkaufen wie möglich. Wer ist sie denn?«

»Kerry Anne Hunstanton. Du weißt schon? Sie und ihr Mann haben Sir Geralds Besitz geerbt.«

»Oh ja. Ich habe Ihnen geschrieben und angefragt, ob ich Ihre Scheune benutzen könnte. Sie ist in ziemlich gutem Zustand und wäre wie geschaffen für mich.«

»Was ist passiert?«

»Nichts. Ich habe nur einen Brief von dem Anwalt bekommen, in dem ein Nein stand.«

Nel stockte der Atem, obwohl sie sich nicht einmal sicher sein konnte, ob der Brief wirklich von Jake stammte. Er hätte auch von einem Untergebenen geschrieben worden sein können. »Wie schade.«

»Also, woher kennst du Kerry Anne Hunstanton?«

»Ich habe sie in der Kanzlei ihrer Anwälte kennen gelernt, wo ich in Erfahrung bringen wollte, ob Paradise Fields dem Hospiz gehört – was übrigens nicht der Fall ist. Dann bin ich ihr noch einmal in der Drogerie begegnet. Sie hat verzweifelt nach irgendetwas gesucht, und ich habe von deinen Produkten erzählt. Sie war sehr interessiert, und jetzt möchte sie dich besuchen. Bist du einverstanden, wenn ich sie mitbringe? Du musst ihr natürlich für alles, was sie kauft, absolut halsabschneiderische Preise abknöpfen.«

Sacha lachte. »Ihr könnt ruhig kommen, so lange es euch nichts ausmacht, wenn ich dabei ein wenig arbeite. Wie wär’s mit Dienstag?«

»Morgen?« Das war nicht gerade der günstigste Termin für Nel, da sie noch einen Schaufelraddampfer machen musste.

»Ja, am Tag danach fahre ich nach Oxford. Dort gibt es ein Haus mit einem Nebengebäude im Garten, das vielleicht geeignet wäre.«

»Aber das ist ja meilenweit von hier entfernt!«

»Und das Haus ist ziemlich klein. Trotzdem, ich muss allen Möglichkeiten nachgehen.«

Andererseits konnte Nel den eigentlichen Kuchen noch am Nachmittag entwerfen und backen und ihn dann morgen Nachmittag dekorieren. »Kerry Anne und ich werden gegen elf bei dir sein, in Ordnung?«

Nel fand, dass Beschäftigung die beste Methode war, um über Jake Demerand hinwegzukommen; wahrscheinlich hatte sie allen Grund zur Dankbarkeit, dass er ausgerechnet zu einer Zeit in ihr Leben getreten war, in der sie so viel um die Ohren hatte. Unglücklicherweise hatte sowohl die Geschichte mit den Wiesen am Fluss als auch die mit dem Bauernmarkt mit ihm zu tun, sodass sie keine echte Ablenkung darstellten.

Kerry Anne und Pierce hatten ein Cottage auf der anderen Seite der Stadt gemietet. Als Nel sie abholte, sah Kerry Anne entzückend aus. Vor nicht allzu langer Zeit hätte Nel sie einfach um ihre Schönheit beneidet und sich die Sache dann aus dem Kopf geschlagen. Seit ihrer Erfahrung mit Jake dachte
sie jedoch viel häufiger über sich und ihre Schönheitspflege nach. Es gab keinen Zweifel daran: Das Ganze mochte ein One-Night-Stand gewesen sein (tatsächlich war es genau
das gewesen, zwang Nel sich zuzugeben), aber es hatte einen Teil von ihr zum Leben erweckt, der lange Zeit geschlafen hatte. Jake mochte zwar ein One-Night-Stand gewesen sein, aber vielleicht sollte sie sich jemanden suchen, der das nicht war. Irgendwie klammerten diese Überlegungen Simon aus.

»Also, wo fahren wir hin?«, fragte Kerry Anne, als sie ihre eleganten Gliedmaßen in Nels alles andere als elegantem Wagen untergebracht hatte.

»Es ist nicht weit. Nur ein kleines Stück von der Stadt entfernt.«

»Aber das ist ja bloß ein Cottage«, rief Kerry Anne, als Nel vor einem kleinen Haus aus rotem Ziegelstein hielt, das von Feldern umringt war.

»Aber es passt eine Menge hinein.« Nel drückte auf die Klingel.

Sacha war selbst die beste Reklame für ihre Produkte, die man finden konnte. Jünger als Nel, älter als Kerry Anne, stellte ihr strahlender Teint selbst für Kerry Annes jugendliche Taufrische eine echte Konkurrenz dar.

»Kommt doch rein«, sagte sie und hielt die Tür weit offen.

»Sacha, das ist Kerry Anne Hunstanton. Kerry Anne, Sacha Winstone, die Begründerin von Sacha’s Natural Beauty.«

Kerry Anne nickte, reagierte aber weniger überschwänglich, als Nel es gern gesehen hätte.

Sacha gab Kerry Anne die Hand. »Kann ich euch etwas zu trinken anbieten, oder wollt ihr euch gleich ansehen, was hier so passiert?«

»Zeig uns deine Produktion«, sagte Nel, die genau die Therapie brauchte, von der sie wusste, dass man sie in Sachas Arbeitsräumen fand.

»Dann folgt mir, und seid vorsichtig auf der Treppe.«

»Aber das ist ja winzig!«, sagte Kerry Anne, als sie zu dritt zu Sachas Dachboden hinaufstiegen. »Ich hatte eine Fabrik erwartet!«

Am Ende des Bodens stand ein Arbeitstisch aus weißem Melamin. Dahinter standen reihenweise Regale, auf denen Flaschen verschiedener Größen aufgereiht waren, aber sie waren alle recht klein. An den Arbeitstisch schlossen sich im rechten Winkel eine Spüle, ein Bunsenbrenner und Kisten mit größeren Behältern und Wannen an. Gegenüber stapelten sich längs der Wand Plastikboxen bis zur Decke. Jeder Zoll des Dachbodens war genutzt, nichts befand sich dort, was nicht dort hingehörte, nichts war unordentlich, alles sauber und griffbereit. Wann immer Nel Sachas Dachboden sah, wurde ihr klar, was sie mit ihrem eigenen hätte anfangen können, wenn er nicht so voller unnützem Kram gewesen wäre.

»Es ist klein, aber es funktioniert. Und ich stelle alle Dinge nur in sehr kleinem Rahmen her. Auf diese Weise kann ich dafür sorgen, dass die Qualität stets perfekt ist. Ich hätte natürlich gern mehr Platz, aber das ist alles, was ich habe. Also, für welches Produkt interessieren Sie sich denn am meisten?«

»Reinigungsmilch, eindeutig«, sagte Kerry Anne. »Meine Poren sind so verstopft, dass ich noch platzen werde, wenn ich sie nicht bald richtig säubern kann.«

»Nun, die Reinigungsmilch ist mir ausgegangen, aber wir können welche herstellen. Es ist allerdings ziemlich zeitaufwändig, und mein Rezept ergibt immer nur vier Töpfchen, aber da ich heute Hilfe habe, könnten wir die Menge wahrscheinlich verdoppeln.«

»Sagten Sie, vier Töpfchen? Sie machen nur vier Töpfchen auf einmal?«, fragte Kerry Anne, die sich nicht sicher war, ob sie beeindruckt oder entsetzt sein sollte.

Sascha nickte. »Wie ich schon sagte, ich stelle gern sicher, dass jedes Produkt, das mein Haus verlässt, den gleichen hohen Qualitätsanforderungen genügt. Also schön, Mädels, setzt eine Haube auf und zieht bitte Handschuhe an.«

Nel stülpte sich eine Papierhaube aufs Haar und streifte Handschuhe über. »Machst du das wirklich jedes Mal so, selbst wenn du allein bist?«

»Natürlich. Wie würde ich dastehen, wenn jemand in irgendetwas ein Haar fände? Ich behandele die Kosmetika,
als seien sie Nahrungsmittel, und auf diese Weise weiß ich, dass alles rein ist. Also schön, was machen wir? Reinigungsmilch.«

Kerry Anne beobachtete wie gebannt, wie Sacha einen Mixbecher aus Plastik hervorholte und dann ein kleines, schon leicht abgegriffenes Notizbuch.

»Ich bewahre all meine Rezepte hier drin auf. Es hat mich einige Zeit gekostet, diese Reinigungsmilch zu entwickeln. Es ist eine Nachahmung von der, die all die Stars kaufen ...«

Kerry Anne unterbrach sie mit ehrfürchtigem Tonfall und nannte einen Namen.

»Genau die. Aber ich habe die Reinigungsmilch ein wenig verfeinert, sodass sie, glaube ich, besser ist. Was brauchen wir denn? Sheabutter. Hm! Riecht mal! Wenn Sie mir vorlesen, was wir brauchen, Kerry Anne, suche ich die Sachen zusammen.«

Kerry Anne las die Zutatenliste vor, und Sacha suchte sich alles Nötige zusammen. Nel hatte Sacha schon früher bei der Arbeit beobachtet, da sie eine der Frauen war, die Sacha manchmal anrief, wenn sie mit ihren Bestellungen in Verzug war und ein wenig Hilfe brauchte. Nel wusste, wie magisch der Herstellungsprozess war, die winzigen Mengen, die sorgfältig ausgemessen wurden und die sich schließlich in Produkte verwandelten, die ebenso wohltuend wie exklusiv waren.

Kerry Anne geriet von Minute zu Minute mehr aus dem Häuschen, während sie das Buch durchblätterte. »Lippenbalsam! Können wir auch Lippenbalsam machen? Meine Lippen werden immer so trocken, und es gibt nur einen einzigen Balsam ...«

Diesmal war es Sacha, die den Namen ergänzte. »Nur dass in meinem noch ein oder zwei ätherische Öle sind, die in dem anderen Balsam nicht enthalten sind. Und für die Rosaversion benutze ich natürliche Farbe. Den Lippenbalsam können wir machen, wenn wir mit der Reinigungsmilch fertig sind. Nel, würdest du so lieb sein und mir ein paar Töpfchen holen? Sie stehen unter der Bank hinter dir, hinter dem Karton mit den Etiketten. Wunderbar, und die Deckel liegen genau dahinter.«

»Ich kann es nicht glauben«, rief Kerry Anne, die vor Aufregung zitterte. »Das macht ja solchen Spaß!«

»Das stimmt. Es wird mir fehlen, wenn ich das alles hier aufgeben muss. Es ist allerdings auch harte Arbeit.«

»Hm, wenn Sie normalerweise alles allein machen ... Also, was soll ich jetzt tun?«

»Sie brauchen nur gründlich zu rühren, während ich die pulverisierten Walnussschalen abwiege.«

»Warum stellen Sie nicht noch jemanden ein?«, fragte Kerry Anne und roch begeistert an dem Krug. »Das riecht himmlisch!«

»Wie Sie sehen, habe ich keinen Platz, und wenn ich etwas Größeres mieten würde, müsste ich erheblich größere Mengen verkaufen, damit es sich rentiert.«

»Aber Sie könnten doch einfach so weitermachen?« Kerry Anns Zunge lugte zwischen ihren Zähnen hervor, während sie beobachtete, wie Sacha ihren winzigen Messlöffel abstrich.

»Leider nicht. Mein Mietvertrag ist abgelaufen, und mein Vermieter möchte dieses Haus für seine Mutter, damit er ein Auge auf sie haben kann.«

»Das heißt, Sie werden von hier weggehen müssen?«

»Ja. Ende des Monats. Aber ich sehe mir morgen ein Haus in Oxford an. So, das Ganze stellen wir jetzt ins Wasserbad – Sie wissen schon, wie beim Kochen. Und anschließend werden wir es sehr, sehr vorsichtig erhitzen ...

... im Winter wird es ziemlich schnell fest«, sagte Sacha ein paar Sekunden später. »Im Sommer muss ich es in den Kühlschrank stellen.«

»Wow.« Voller Ehrfurcht blickte Kerry Anne in den blauen Glastopf mit der Reinigungsmilch, bei deren Herstellung sie geholfen hatte.

»Wenn die Mischung ganz abgekühlt ist, können wir die Töpfchen etikettieren.«

»Ich weiß ja nicht, wie es mit euch beiden aussieht«, sagte Nel, nachdem zwei Stunden vergangen und mehrere Dutzend kleiner blauer Glastiegel, Plastikflaschen und winzige Fläschchen mit einem rosafarbenen Elixier abgefüllt waren, »aber ich brauche etwas Heißes zu trinken. Soll ich runtergehen und den Teekessel aufsetzen?«

»Das ist eine gute Idee«, sagte Sacha. »Kerry Anne, Sie müssen schon halb verdurstet sein. Ich gehe so in meiner Arbeit auf, dass ich Dinge wie Mahlzeiten und heiße Getränke immer vergesse. Ich vergesse sogar, zur Toilette zu gehen, bis ich es nicht mehr aushalten kann.«

»Das verstehe ich vollkommen«, sagte Kerry Anne. »Es ist ja so faszinierend. Was können wir jetzt machen?«

»Also, ich mache etwas Heißes zu trinken«, sagte Nel, der bewusst war, dass die beiden anderen Frauen sich jetzt in einer anderen Welt befanden. »Was hättet ihr denn gern?«

»Haben Sie Kräutertee?«, fragte Kerry Anne. Sie blickte von der Flasche, die sie gerade mit einer Spritze füllte, auf. Sie war, was die Mengen betraf, noch penibler als Sacha.

Sacha nannte verschiedene Teesorten. »Ich weiß, dass Nel Pfefferminztee trinken wird.«

»Das ist die einzige Sorte, die ich mag, abgesehen von richtigem Tee, und den hast du nicht, wie ich weiß.«

»Sie nehmen auch kein Koffein zu sich?« Kerry Anne war begeistert. »Das macht die Haut kaputt.«

»Da bin ich mir nicht so sicher, Nel führt sich jeden Tag eine hübsche Menge Koffein zu, und ihre Haut ist in Ordnung.«

»Das muss daran liegen, dass sie Ihre Produkte benutzt. Was beweist, wie wunderbar sie sein müssen, wenn sie sogar bei einer älteren Haut eine solche Wirkung zeigen.«

Nel, die sich nicht sicher war, ob sie lachen, weinen oder etwas nach Kerry Anne werfen sollte, blickte stattdessen auf ihre Armbanduhr. »Oh mein Gott! Ich muss los! Ich muss noch einen Kuchen fertig machen!«

»Aber das ist doch ein Kinderspiel für dich«, sagte Sacha. »Du backst dauernd Kuchen!«

»Nicht in der Form eines Schaufelraddampfers, nein. Solche Sachen habe ich nur früher für die Kinder gemacht, als sie noch klein waren. Es macht unheimlich viel Spaß, aber es dauert Stunden. Ich muss mich beeilen! Kerry Anne, wollen Sie mitfahren oder nicht?«

Kerry Anne sah aus wie ein Kind, das man von dem größten Karussell in Alton Towers wegzerren wollte, kurz bevor es an die Spitze der Schlange kam.

»Wenn Sie wollen, bringe ich Sie später nach Hause«, sagte Sacha, die sich darüber freute, wie viel Arbeit sie erledigt bekam. »Kerry Anne macht das wirklich gut. Es wäre nett, wenn sie noch ein Weilchen bleiben könnte. Ich werde Ihnen etwas zu essen machen, und die Tasse Tee, die Nel nicht machen wird.«

»Das wäre wunderbar! Ich habe seit Jahren nicht mehr so viel Spaß gehabt. Ich bin Ihnen ja so dankbar, dass Sie mich hierher gebracht haben, Nel.«

Nel betrachtete Kerry Anne, die mit ihrem weißen Papierhäubchen rührend jung und verletzbar aussah. Sie musste Sacha später eine Warnung zukommen lassen, dass Kerry Anne nicht so unschuldig war, wie es den Anschein hatte. »Keine Ursache. Ich freue mich, dass Sie sich so gut unterhalten.«

Während sie ihren Wagen auf die Straße steuerte, ging Nel auf, dass sie Gefahr lief, Kerry Anne gegenüber weich zu werden. Sie war so liebenswert in ihrer Begeisterung gewesen, viel sanfter als die gletscherkalte Schönheit, die sie in Jakes Büro kennen gelernt hatte. Dennoch war sie offensichtlich entschlossen, das Bauvorhaben durchzubringen: Das durfte Nel nicht vergessen. Das Problem war, dass sie die Menschen unweigerlich lieb gewann, wenn sie sie besser kennen lernte. Alles zu wissen hieß alles zu verzeihen. Aber wie ihre Söhne so oft bemerkten, nicht viele Menschen teilten diese Philosophie, und man wurde dadurch recht verwundbar. Sie brauchte sich nur anzusehen, was in dem Augenblick passiert war, als sie aufhörte, Jake Demerand zu hassen! Oder hatte sie überhaupt aufgehört, ihn zu hassen? Liebe und Hass lagen so dicht beieinander.

Oh, mein Gott! Sie kam fast von der Straße ab, als ihr klar wurde, dass sie es zugelassen hatte, dass dieses Wort mit »L« in ihre Gedanken Einlass fand. Du magst dich vorher schon miserabel gefühlt haben, Mädchen, aber wenn du dieses kleine Wort in dein Bewusstsein gelangen lässt, dann sitzt du wirklich in der Klemme.

Nel musste noch kurz in den Supermarkt, bevor sie nach Hause fuhr. Kuchenskulpturen erfordern eine Menge Zutaten. Sie hatte keine Zeit, wählerisch zu sein; alles, was möglicherweise nützlich sein konnte, flog in den Wagen. Sie raffte große, runde Kekse an sich; jede erdenkliche Art kleiner Süßigkeiten; Schokolinsen, -stäbchen und -tiere; Lebensmittelfarbe; Cocktailspieße; Silberkügelchen zu hunderten und tausenden; Zuckerrosen; genau genommen so ziemlich alles, was die Backabteilung verkaufte, und ein paar Großpackungen Puderzucker. Sie hatte früher immer reichlich von diesen Dingen in ihrer Speisekammer stehen gehabt, aber es war Jahre her, dass sie das letzte Mal einen so komplizierten Kuchen gebacken hatte. Es war ein Hubschrauber gewesen. Die Hunde hatten ihn gefressen, bevor die Geburtstagsparty richtig losging. Fleur hatte sich furchtbar darüber aufgeregt, Nel jedoch war insgeheim erleichtert gewesen; ihre Fähigkeit, Hyperaktivität zu ertragen, hielt sich doch in gewissen Grenzen. Aber jeder Hund, der an diesem Kuchen auch nur schnupperte, würde lebenslänglich vom Sofa verbannt werden.

Der Rücken tat ihr weh, ihre Zähne fühlten sich an, als würden sie ihr gleich aus dem Mund fallen, so oft hatte sie die Glasur probiert, und der Küchenboden war mit einer Zuckerschicht überzogen, aber der Kuchen war ein Meisterwerk, auch wenn sie das nicht von ihrem eigenen Werk hätte denken sollen. Sie ging sogar so weit, ihn zu fotografieren.

Da so viele Leute davon essen sollten und es ein zentraler Teil der Feier werden sollte, musste es ein ziemlich großer Kuchen sein. Nel hatte ihre größte eckige Backform benutzt und den Kuchen dann schiffsförmig zugeschnitten. Aus einem anderen eckigen Kuchen hatte sie die Decksaufbauten gebastelt. Die Schaufelräder bestanden aus riesigen Schokoladenkeksen. Das Ganze war umgeben von einem Meer aus blauem Zuckerguss, und jede einzelne kleine Welle wurde von einem Tupfer Gischt gekrönt. Der Fluss war nicht oft so aufgewühlt, dass weiße Gischt darauf zu sehen war, aber sei’s drum, sie war Künstlerin!

Es tat ihr nur Leid, dass keins ihrer Kinder zu Hause war, um ihre Kreation zu bewundern. Die Jungen waren natürlich an der Universität, und Fleur war bei ihren Freundinnen in der Stadt. Eigentlich hätte sie natürlich zu Hause sein müssen und arbeiten, aber seit dem Fiasko in der Disko war es Nel gelungen, nicht zu nörgeln. Fleur hätte auf die Idee kommen können, ihrer Mutter einige heikle Fragen zu stellen, und Nel war nicht nur ein hoffnungsloser Fall, wenn es ums Lügen ging, sondern errötete für eine erwachsene Frau auch viel zu leicht.

Mit größter Sorgfalt schob sie den Kuchen auf ein hohes Regal in der Speisekammer, nachdem sie zuvor die Decke nach Spinnweben abgesucht hatte. Dann legte sie behutsam Seidenpapier darüber. Sie beschloss, das Putzen des Küchenfußbodens auf morgen zu verschieben, und zog sich nach oben ins Bad zurück. Schließlich würden die Hunde den Fußboden gründlich ablecken.

Am nächsten Morgen wurde Nel klar, dass das Backen des Kuchens noch der einfachste Teil ihrer Aufgabe gewesen war; richtig schwierig würde es werden, ihn zu der Versammlung im Hospiz zu transportieren. Aber glücklicherweise war ihr Wagen praktisch leer. Die Party selbst fand erst am nächsten Tag statt, und dann würde er bis zum Dach voll gepackt sein mit Kisten voller Styroporflocken und den Preisen, die in diese Kisten gesteckt wurden, (die sie noch verpacken musste), Decken für die Partytische, einem Glücksrad, überdimensionalen Würfeln und tausend anderen Dingen, die sie noch gar nicht auf ihrer Liste hatte. Also beschloss sie, den Kuchen vorher hinzubringen.

Sie legte ihn auf die Rückbank, als sei er ein neugeborenes Baby. Nur mit großer Mühe konnte sie sich beherrschen, ihn mit einem Sicherheitsgurt anzuschnallen, und musste sich damit zufrieden geben, ihn mit Pappkartons abzupolstern, damit ihm nichts passieren konnte, falls sie scharf bremsen musste.

Es war ein Jammer, dass es sich um eine formelle Zusammenkunft handelte. Die meisten Veranstaltungen des Hospizes waren zwanglos und unterhaltsam, obwohl der Grund für die Existenz dieses Hauses sehr ernst war. Aber gelegentlich, und dies war eine solche Gelegenheit, wurden sämtliche Schirmherren und hohen Tiere eingeladen, und entsprechend zogen Nel und Vivian ihre besten Kleider an. Möglicherweise würden sie auch Näheres über die neue Leitung des Hospizes erfahren. Nel und Viv hatten sich für eine Frau ausgesprochen, waren sich aber nicht sicher, ob sich überhaupt Frauen um den Posten beworben hatten.

Das Gebäude sah wirklich furchtbar verwahrlost aus, dachte Nel, als sie die Hintertür ihres Wagens öffnete, um ihre hochhackigen Schuhe herauszuholen. Und die Einfahrt war so schlammig und voller Schlaglöcher wie ein Viehweg. Statt Geld dafür zu sammeln, dass Kinder mit Rollstühlen zur Mole und damit zum Boot kamen, hätten sie vielleicht lieber die Einfahrt neu teeren lassen sollen. Aber die Bedürfnisse der Kinder hatten für sie immer Vorrang vor solchen Dingen. Auch jetzt spielte eine Gruppe von ihnen in der Nähe des Basketballkorbs Fußball.

Sehr vorsichtig hob sie den Kuchen von der Rückbank des Wagens und stellte ihn auf die Motorhaube. Wenn die hohen Tiere dieses Kunstwerk nicht zu schätzen wussten, hatten sie Nel nicht verdient. Nur dass sie den Kuchen nicht für die hohen Tiere gebacken hatte, sie hatte es für die Kinder getan.

Sie dachte gerade darüber nach, ob sie den Kuchen hineinbringen und dann noch einmal zum Wagen zurückgehen sollte, um die Schuhe zu wechseln, oder ob sie das Risiko eingehen wollte, auf ihren hohen Absätzen im Matsch auszurutschen, als ihr bewusst wurde, dass die spielenden Kinder langsam näher kamen. Zum ersten Mal fragte sie sich, was sie hier zu suchen hatten. Es war Schulzeit, und keines der Ausschussmitglieder würde seine Kinder zum Fußballspielen herbringen, nicht im Winter. Dann bemerkte sie, dass sie eine Art Fußballtrikot trugen, was bedeutete, dass ihre Anwesenheit hier in irgendeiner Hinsicht offiziell war. Ein Mann war bei ihnen, der sich gerade verabschiedete, aber die Kinder folgten ihm.

»Okay, nimm ihn mit dem Kopf an«, rief er.

Der Ball verfehlte sein Ziel, prallte von einem Stein ab und landete im Kuchen.

»Oh Scheiße!«, sagte jemand.