Kapitel 7
Okay, ich fahre zur Paddington Station rüber«, sagte Nel, als das Taxi vorfuhr. »Kann ich Sie mitnehmen?«
Jake brummte etwas Unverständliches und öffnete die Tür; Nel stieg ein. Dann nannte er dem Fahrer eine Adresse.
»Aber ich will zur Paddington Station! Um einen Zug zu erwischen!«
»Ich kenne den Fahrplan auswendig, und ich kann Ihnen versichern, dass um halb eins am Morgen kein Zug mehr fährt.«
»Nun, dann kann ich dort eben auf den nächsten Zug warten!«
»Nein, können Sie nicht! Wofür halten Sie mich eigentlich?«
Nel holte tief Luft und tat alles in ihren Kräften Stehende, um ihren aufkeimenden Zorn zu unterdrücken. »Hören Sie, Jake, ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar für Ihre Unterstützung heute Abend. Wirklich dankbar«, wiederholte sie und dachte daran, wie wenig hilfsbereit Simon gewesen war. »Aber ich darf Ihnen keinen Augenblick länger zur Last fallen. Ich habe Ihnen schon den Abend ruiniert. Jetzt möchte ich einfach nach Hause fahren. Und wenn ich auf einen Zug warten muss, na wenn schon. Ich komme klar, bestimmt.«
»Haben Sie jemals eine ganze Nacht auf einem Bahnhof verbracht, noch dazu im Winter?«
»Darum geht es gar nicht ...«
»Doch, genau darum geht es. Betrunkene werden Sie belästigen, Bettler werden Sie schikanieren, und man wird Ihnen Ihren Mantel stehlen.« Seine Mundwinkel zuckten, und zu Nels maßlosem Ärger taten es ihre ebenfalls.
»Mein Mantel wird wie ein Zelt sein«, gab sie zurück und kämpfte wie ein Löwe, um nicht auf sein schiefes Lächeln zu reagieren, das ihr plötzlich so unglaublich sexy erschien.
»Das wird er sicher, aber Sie werden nicht darin schlafen. Nicht heute Nacht.«
»Nun, bei Ihnen werde ich nicht übernachten!«
»Hören Sie, Nel, ich verstehe vollkommen, dass Sie mir in keiner Weise Ungelegenheiten bereiten wollen, und ich weiß Ihre Rücksichtnahme zu schätzen. Aber offen gesagt, ich bin müde, ich möchte nicht die ganze Nacht damit verbringen, mit Ihnen zu streiten, und wenn Sie sich weigern, mit mir nach Hause zu kommen, werde ich mich verpflichtet fühlen, Sie selbst aufs Land rauszufahren. Und ich denke, ich bin überm Limit.«
»Oh.«
»Oder ich könnte ein Minitaxi rufen, aber das wird ein Vermögen kosten. Ich bin nicht geizig, aber es widerstrebt mir doch, irgendjemandem mehr als fünfzig Pfund zu zahlen, der Sie vielleicht nicht einmal sicher nach Hause bringen wird.«
»Ich könnte in ein Hotel gehen«, beharrte Nel halsstarrig.
»Oh, hören Sie endlich mit diesem lächerlichen Theater auf. Lehnen Sie sich zurück und genießen Sie die Fahrt. Ich habe ein hervorragendes Couchbett, auf dem Sie schlafen können.«
»Ich habe keine Zahnbürste dabei oder was man sonst noch so braucht.«
Jake seufzte tief und beugte sich dann vor, um mit dem Fahrer zu sprechen. »Könnten Sie wohl anhalten, wenn Sie eine Drogerie sehen, die die ganze Nacht geöffnet ist, bitte? Madam braucht eine Zahnbürste.«
»Also wirklich! Jetzt wird er denken, dass wir miteinander schlafen!«
»Unsinn. Ich habe schließlich nicht gesagt, Sie bräuchten Kondome.«
Nel kuschelte sich in ihren Mantel, zitternd vor Entrüstung. Als an einer Straßenecke eine Nachtdrogerie in Sicht kam, stieg sie aus dem Taxi, ging in den Laden und fragte sich, ob sie sich später vielleicht weigern sollte, wieder in das Taxi einzusteigen. Während sie durch die Gänge stolzierte und nach den Dingen suchte, die sie brauchte, wurde ihr bewusst, dass es etwas unglaublich Zwielichtiges hatte, mitten in der Nacht eine Zahnbürste zu kaufen, ganz gleich, welch unschuldige Absichten man hegte. Sie legte noch einen Topf Feuchtigkeitscreme in ihren Korb, und einen Moment lang schwebte ihre Hand über den Kondomen. Sie wollte sie nicht; sie bezweifelte, ob sie sich überhaupt noch daran erinnerte, wie man sie benutzte; es war so lange her – bevor sie geheiratet hatten –, dass sie und Marc sich mit den schwer zu öffnenden Tütchen herumgeplagt hatten. Aber in einem Anfall von Trotz verspürte sie den Wunsch, sie einfach obendrauf auf ihre harmloseren Erwerbungen fallen zu lassen. Es hatte etwas mit dem Wunsch zu tun, dem Ruf wenigstens gerecht zu werden, den sie mittlerweile gewiss bereits haben musste.
Sie tat es nicht. Wenn Jake sie zu Gesicht bekäme, und sie traute es ihm durchaus zu, dass er in ihre Einkaufstüte sah, würde er denken, sie wolle ihn ins Bett locken, und sie würde sterben, buchstäblich sterben, bevor sie das zuließ.
»Sie haben sich aber Zeit gelassen«, sagte er, als sie sich wieder neben ihn setzte.
»Nun, ich habe nur überlegt, welche Zeitschrift ich kaufen sollte.«
Er blickte in ihre Tüte, gerade so, wie sie es vermutet hatte. »Aber Sie haben keine gekauft!«
»Nein, und ich habe auch nicht herumgetrödelt, um nach einer zu suchen! Es hat einfach eine Weile gedauert, die Zahnpasta zu finden. Der Laden hat nämlich keine eigene Abteilung für die Bedürfnisse loser Frauenzimmer!«
»Sind Sie ein loses Frauenzimmer?«
»Nein, aber in diesem Laden bin ich mir so vorgekommen. Der Verkäufer hat bestimmt gedacht, ich hätte die Absicht, mit meinem vornehmen Freund zu schlafen, und sich gefragt, wer um alles in der Welt den Wunsch haben könnte, mit mir zu schlafen.«
Jake starrte sie an. »Oh, das hat er gewiss nicht gedacht.«
Nel wandte sich ab, um aus dem Fenster zu blicken, wohl wissend, dass sie viel zu viel geredet hatte. Das Zusammensein mit Jake wirkte sich irgendwie auf ihr Identitätsgefühl aus; sie war da nicht mehr Mutter, sondern Frau, und das verunsicherte sie.
Als sie ihren Bestimmungsort erreichten, bestand Nel darauf, das Taxi zu bezahlen, und stieß Jake mit solcher Heftigkeit von dem Fenster weg, dass er beinahe umgefallen wäre.
Seine Wohnung war winzig und beruhigend voll gestopft. Er knipste eine Tischlampe an, die er auf Glühwürmchenhelligkeit herunterdimmte, und schaltete die Deckenlampe aus, aber die Unordnung war immer noch unübersehbar. Auf jedem Stuhl lagen Papierstapel, und der Tisch war unter einem Haufen Aktenordner kaum mehr zu erkennen.
Jake fegte die Zeitungen mehrerer Sonntage vom Sofa auf den Fußboden. »Entschuldigen Sie die Unordnung. Ich bin nicht oft genug hier, um etwas dagegen zu unternehmen.« Das Chaos war ihm sichtlich peinlich, und sie fragte sich, ob sie ihm ähnlich wäre, was Unordnung und andere Menschen betraf.
»Ich fürchte, ich habe nur ein Schlafzimmer«, fuhr er fort. »Ich würde Ihnen ja das Bett anbieten und selbst auf dem Sofa schlafen, aber ich weiß, dass Sie dann einen Mordswirbel machen würden.«
»Ich mache keinen Wirbel. Ich bin ein sehr vernünftiger Mensch.«
»Sie sind ein verrücktes Huhn. Und jetzt geben Sie mir Ihren Mantel.«
Ohne den Mantel fühlte Nel sich plötzlich zu spärlich bekleidet. Sie zupfte an ihrem Top, um das üppige Dekolletee zu verbergen, das sie jetzt zur Schau stellte.
»Lassen Sie das«, sagte Jake und legte ihren Mantel vorsichtig über die Rückenlehne eines Stuhls. »Damit lenken Sie nur die Aufmerksamkeit darauf, und das lenkt ab. Sie haben das schon den ganzen Abend getan.«
»Habe ich das? Tut mir Leid.«
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Es ist die Art Ablenkung, die mir gefällt.«
»Ach ja?«
Einen Augenblick später hatte er die Arme um sie gelegt und küsste sie.
Nel war müde und hatte ziemlich viel getrunken. Außerdem schien ihre Anspannung Fleurs wegen sich aufgelöst zu haben. Ihre Sorgen, sie könne Drogen nehmen, waren wahrscheinlich eine reine Neurose, geschürt durch Simon. Jetzt war ihre Abwehr auf dem Nullpunkt angelangt, und es war nur allzu einfach, sich an Jake zu schmiegen, die Augen zu schließen und seinen Kuss zu erwidern.
Ohne seine Lippen von ihren zu nehmen, manövrierte er sie zum Sofa und zog sie mit sich hinunter. Dann waren sie beide in der Horizontalen, er halb über ihr. Als er endlich innehielt, um Luft zu holen, sagte sie: »Was um alles in der Welt mache ich da?«
»Sie küssen mich«, sagte Jake entschieden. »Und Sie machen es sehr gut, vielen Dank.«
»Aber ich ...« Sie öffnete den Mund, und das war ein gefährlicher Fehler; Jake verschloss ihn im Nu wieder mit einem Kuss.
Das ist so schön, dachte Nel. So wunderschön. Ich hatte ganz vergessen, wie herrlich es ist, neben jemandem zu liegen und zu küssen. Aber ich sollte das nicht tun, wirklich nicht. Sie kämpfte sich los. »Jake, ich ...«
Jake, solchermaßen daran gehindert, ihren Mund zu küssen, presste die Lippen auf das Dekolletee, über dessen stark ablenkenden Charakter er sich beschwert hatte. Es fühlte sich himmlisch an. Nels ganze unterdrückte Sexualität brach sich Bahn. Plötzlich genügte es nicht mehr, seine Lippen dort zu haben, wo ihre Brüste sich trafen, sie wollte ihre Brüste nackt haben, damit er sie liebkosen und die Spitzen ihrer Brüste in den Mund nehmen konnte.
Er zog das kleine schwarze Top hinunter (bei dem es sich tatsächlich um Unterwäsche handelte) und entblößte ihren BH. Oh Gott, dachte Nel, mein BH. Es war einer von der Sorte, die Architekten für eine Fernsehsendung entworfen hatten, und obwohl er ausgesprochen bequem, stützend und praktisch war, war er ungefähr so sexy wie eine Ritterrüstung. Aber – Nel dankte Gott mit mehr Inbrunst, als sie es seit langer Zeit getan hatte – er war schwarz. Ihre weißen BHs blieben ungefähr zwei Wochen lang weiß.
Sie richtete sich auf, versuchte, die Willenskraft heraufzubeschwören, mit dem, was ihr solches Vergnügen bereitete, aufzuhören. Jake nutzte ihre Position, um ihr die Jacke auszuziehen. Dann waren ihre Arme, die niemand je sah, außer im Sommer, mit einem Mal freigelegt, und sie spürte Jakes festen Griff. Sie war sich nicht sicher, ob Arme auf die Liste erogener Zonen gehörten, aber seine Berührung dort ließ sie genauso dahinschmelzen wie alles andere, was er tat.
Nel kam zu dem Schluss, dass sie zu passiv war; ihre Kleider wurden mit Blitzgeschwindigkeit heruntergerissen. Jake hatte seine Krawatte in der Tasche, war ansonsten aber noch vollkommen bekleidet. Sie fingerte an seinen Hemdknöpfen herum und hatte Mühe, den ersten zu öffnen.
»Wie sind die Leute nur klargekommen, als die Männer noch Manschettenknöpfe trugen«, hauchte sie und ließ von dem Knopf ab, während er die Hände auf ihren Rücken legte, um ihren BH zu öffnen.
»Ich nehme an, es war eine Technik, die zu meistern die Leute gelernt haben«, sagte er und offenbarte seine eigene Sachkenntnis auf diesem Gebiet, während er ihr den BH auszog.
Nel schluckte, und ihre Atemzüge gingen unregelmäßig. Seit sehr langer Zeit hatte kein Mann mehr ihre Brüste gesehen, und zuerst war sie furchtbar gehemmt, aber als sie Jakes Reaktion darauf sah, fühlte sie sich einfach sexy und machtvoll.
Sie unternahm einen weiteren Versuch mit seinem Kragen, aber er schob ihre Hände weg und zog einfach die beiden Hälften auseinander, bis der Knopf absprang. Einen Moment lang beschäftigte sie die Frage, wer ihn wohl wieder annähen würde, bis sein Hemd und seine Jacke herunterfielen und sie seinen Oberkörper sah. Wenn sie darüber nachgedacht hätte, hätte sie gewusst, dass er fit war, bei all dem Sport, den er trieb. Aber der Anblick seiner nackten Brust mit den gut ausgebildeten Muskeln unter dem dunklen Haarflaum entlockte ihr ein Ächzen. Sie verspürte das überwältigende Verlangen, seinen Körper auf ihrem zu fühlen, ihre Brustwarzen über seine Muskeln streifen zu lassen.
»Sollen wir ins Bett gehen?«, flüsterte Jake. »Das wäre bequemer.«
Nel schüttelte den Kopf. Leidenschaft hatte sie übermannt, aber sie wusste, wenn sie den Schauplatz wechselten, würde die Vernunft zurückkehren und sie würde aufhören. Sie wollte nicht aufhören. Sie wollte nicht vernünftig sein. Sie wollte, mehr als alles andere auf der ganzen weiten Welt, weiter das tun, was sie tat, wollte mit Jake schlafen. Es war das erste Mal seit zehn Jahren, und sie wollte nicht, dass sich ihr Gehirn, ihr Gewissen oder sonst etwas zwischen sie und diese herrliche Erfahrung drängte.
»Dann warte einen Moment.« Jake beugte sich vor und machte sich an der Armlehne des Sofas zu schaffen. Ein Knirschen folgte, dann ein Ruck, gleich darauf klappte die Rückenlehne zurück und die Sitzfläche glitt nach vorn. »So ist es besser.« Er drückte sie auf das Polster, sodass sie flach auf dem Rücken lag, dann tat er, auf einen Ellbogen gestützt, all die Dinge, die ihre Brüste sich von ihm gewünscht hatten ...
Ein Weilchen später kämpfte er mit dem Reißverschluss ihrer Hose.
»Du musst ihn etwas zusammendrücken, sonst verfängt er sich«, hauchte sie. Einen Augenblick später bedauerte sie diesen Ratschlag, da ihr ihr Slip wieder eingefallen war. Hoffentlich sind Liebestöter gerade in, dachte sie, wohl wissend, dass es nicht so war, wohl wissend, dass man heutzutage einen Tanga trug, wenn man ein heißer Feger sein wollte.
Jake bemerkte nichts dazu, er sah nicht einmal hin, als er ihr Hose, Schlüpfer und Strumpfhose gleichzeitig vom Körper streifte. An ihren Stiefeln kam er nicht mehr weiter.
»Das ist doch lächerlich«, flüsterte Nel und versuchte, sich hinzusetzen.
»Nicht bewegen.« Er drückte sie wieder auf das Polster zurück und hielt sie dort fest, indem er ihren Bauch streichelte, während er sich mit einer Hand an dem Reißverschluss abmühte. Ob er wohl die Abdrücke auf ihrer Haut fühlen konnte, fragte sie sich? Würde er sie abstoßend finden?
Als sie endlich nackt war, seufzte sie, und er tat dasselbe. »Mein Gott, du bist so sexy«, flüsterte er.
Nel hörte auf, sich Gedanken über ihren Slip oder die Abdrücke des Reißverschlusses zu machen, und lachte. Sie fühlte sich sexy. Sie fühlte sich begehrenswert, lüstern und durch und durch weiblich. Sie fingerte an dem Haken an seinem Hosenbund herum. Voller Ungeduld schob er ihre Hände weg und tat es selbst.
»Dann wirst du sie nicht einfach auseinander reißen?«
»So viele Anzüge habe ich auch wieder nicht, und das hier ist nicht schwierig.«
Das Gefühl von Haut auf Haut war Ekstase pur. Es war so lange her, seit Nel diese Elektrizität gespürt hatte. Sie ließ sich auf den Rücken sinken, und er legte sich über sie. Einen Moment lang drückte sein Gewicht sie in das Polster, dann rollte er auf die Seite und zog sie über sich. Sie hielt kurz inne, bevor sie sich aufrichtete und seinem Körper jene Aufmerksamkeit widmete, die er ihrer Meinung nach verdient hatte. Sie wollte seinen Körper mit den Fingern lesen, jede Wölbung untersuchen und jede Vertiefung kennen lernen. Ihr Gedächtnis mochte die Freuden und die Schönheit eines Männerkörpers vergessen haben, aber ihre Sinne hatten es nicht getan. Als sie jeden seidigen Zentimeter seiner Brust erforscht hatte, wiederholte sie die Bewegungen ihrer Finger mit dem Mund. Sie nahm seine Brustwarzen sanft zwischen die Zähne und spürte sofort, wie sie reagierten. Er stöhnte leise, und sie widmete sich seinen Brusthaaren, indem sie mit den Lippen daran zupfte. Er stieß einen tiefen Seufzer aus, richtete sich auf und übernahm.
Nel hatte in ihrem ganzen Leben nur mit einem einzigen Mann geschlafen, aber irgendwie kamen sie und Jake schnell dahinter, wie sie einander glücklich machen konnten. Das lag wahrscheinlich daran, überlegte sie, dass alles, was er mit ihr machte, einfach himmlisch war, und alles, was sie mit ihm machte, ihm zu gefallen schien. Erst nachher, als er von ihr abrückte und sie beide atemlos und erhitzt von ihren Anstrengungen waren, gestattete Nel ihrem Gehirn, wieder die Kontrolle über ihre Gedanken zu übernehmen.
»Das war absolut fantastisch«, sagte Jake, der immer noch schwer atmete. »Du bist die wunderbarste, erotischste Frau, die ich kenne.«
Nels Körper war satt, glücklich von dem Sex, der kein Recht hatte, so ungeheuer befriedigend zu sein. Aber jetzt schlugen die Gefühle über ihr zusammen: Zweifel, Schuldbewusstsein und die grässliche Erkenntnis, dass sie soeben Sex gehabt hatte, zum ersten Mal seit zehn Jahren, und das mit einem Mann, den sie kaum kannte.
»Kann ich dir irgendetwas holen?«, fragte er, beunruhigt von ihrem Schweigen.
Nel richtete sich auf, griff nach allen Kleidungsstücken, die sie finden konnte, und drückte sie an sich, obwohl einige davon Jake gehörten. Der Jubel, den sie noch wenige Sekunden zuvor verspürt hatte, wurde plötzlich von einer ebenso überwältigenden Mutlosigkeit verdrängt. Sie hatte ihr Leben unwiderruflich verändert, und sie hatte es getan, ohne nachzudenken. Es war genauso wahnsinnig gewesen, als hätte sie sich aus einem Impuls heraus von einer Klippe gestürzt. Irgendwie musste sie diesen Anfall von Irrsinn überwinden und zur Vernunft zurückfinden, zu dem, was sie kannte und schätzte und dem sie vertrauen konnte. Wenn sie diese ganze Erfahrung aus ihrem Gedächtnis hätte löschen können, hätte sie es getan.
»Hör mir zu, Jake.« Gott, was sollte sie sagen? Sie versuchte es noch einmal. »Das war sehr schön. Sehr, sehr schön, um genau zu sein, aber es hätte nicht passieren dürfen. Und ich möchte nicht, dass du dich verpflichtet fühlst, mich anzurufen oder sonst irgendwie in Kontakt mit mir zu treten.« Sie hielt inne, denn plötzlich stieg Angst in ihr auf. »Genau genommen darfst du es nicht tun. Wir werden einfach einen Strich unter diese Geschichte ziehen und weitermachen. Und wenn ich jetzt bitte dein Badezimmer benutzen dürfte.«
»Nel – Liebling, ist irgendetwas nicht in Ordnung?«
»Ich denke, du weißt sehr wohl, was nicht in Ordnung ist. Das, was wir soeben getan haben, ist nicht in Ordnung.« Als sie seine maßlose Verwirrung sah, verwandelte Nels Angst sich in heftige Panik. Sie musste nachdenken. »Könntest du mir bitte einfach sagen, wo das Badezimmer ist?«
Jake stand auf, und Nel versuchte, an seinem prachtvollen, squashgestählten Körper vorbeizuschauen, während er eine Tür öffnete. »Hier«, sagte er und nahm etwas aus einem Schrank. »Nimm ein sauberes Handtuch mit. Möchtest du deine Zahnbürste und die anderen Sachen?«
Nel nickte und umklammerte die Kleider mit aller Kraft, obwohl niemand versuchte, sie ihr wegzunehmen.
Als sie ihre Plastiktüte in der Hand hielt und die Badezimmertür sicher geschlossen war, brach sie in Tränen aus. Sie konnte nicht klar denken: Zu viele Gefühle tobten in ihr. Sie drehte die Dusche auf, schon allein, um ihr Schluchzen zu übertönen, und kaltes Wasser spritzte in den Raum, als sie die Kontrolle über den Duschkopf verlor.
Schließlich riss sie sich so weit zusammen, dass sie den Duschkopf wieder aufhängen, die Temperatur einstellen und in die Kabine steigen konnte.
Das heiße Wasser, das über ihren Körper rann, tat ungeheuer gut. Das musste eine Powerdusche sein, dachte sie, während sie willkürlich ein paar Flaschen zur Hand nahm. Sie würde natürlich ihr Haar waschen müssen; sie öffnete eine Flasche Vosene. Das passte zu Jake, dass er Vosene benutzte, dachte sie, so ein abscheulicher Geruch. Dann begann sie wieder zu weinen. Marc hatte das gleiche Shampoo benutzt.
Eine Viertelstunde später trat sie aus dem Bad, ein Handtuch um den Kopf geschlungen und bekleidet mit einem Bademantel, der nach Jake roch. Sie hielt ein Bündel Kleider umklammert, obwohl sie wusste, dass einige davon – die von Jake – sich von ihrer Erfahrung vielleicht nicht wieder erholen würden.
Jake trug jetzt eine Jeans und ein Sweatshirt und brachte es trotzdem fertig, beunruhigend sexy auszusehen. Nel wusste, dass ihr Gesicht rot war, sie trug kein Make-up, und ihre Augen waren wahrscheinlich geschwollen und rot geädert von einer Mischung aus Tränen und Shampoo.
»Hier«, sagte Jake. »Ich habe dir einen Pyjama herausgesucht, in dem du schlafen kannst. Und ich habe Kaba gemacht. Magst du Kaba?«
Nel nickte nur, da sie ihrer Stimme immer noch nicht traute. Jake nahm ihr behutsam die Kleider ab, während sie sich auf die Kante dessen hockte, was jetzt wieder ein Sofa war.
Sie räusperte sich. »Ich fürchte, die Sachen sind ein bisschen nass geworden. Ich musste einen Ringkampf mit der Dusche bestehen, und die erste Runde hat sie gewonnen.«
»Die Dusche ist ein wenig ungebärdig. Warum hast du meine Sachen mitgenommen?«
»Ein Irrtum.« Nel nippte an ihrem Kaba; das tröstliche, eklig süße Getränk tat ihr gut. »Das Ganze war ein schrecklicher Irrtum. Deshalb musst du mir auch versprechen, nie, nie wieder davon zu sprechen. Wir müssen einfach so tun, als sei es nicht passiert.«
Jake sah sie erstaunt an. »Aber es ist passiert. Und es war fantastisch. Wie kannst du so tun, als sei nichts gewesen? Oder möchtest du nicht, dass es wieder passiert? Ich hätte dich nicht für eine Frau gehalten, die auf One-Night-Stands steht.«
Sie rutschte unbehaglich auf dem Sofa hin und her. »Das bin ich auch nicht. Ich habe normalerweise überhaupt keinen Sex. Das hier war einfach ein Anfall von geistiger Umnachtung.«
»Du hast überhaupt keinen Sex? Warum denn nicht, um Himmels willen?«
Nel zuckte die Achseln. »Ich bin Witwe.«
»Ja, aber du bist auch eine Frau! Eine sehr erotische und attraktive. Wie lange ist dein Mann jetzt tot?«
»Zehn Jahre.«
»Zehn Jahre! Und du willst mir erzählen, dass du gerade zum ersten Mal seit zehn Jahren mit einem Mann geschlafen hast?«
Nel nickte. Trotz ihrer Reue, die sie zu überwältigen drohte, fühlte sie sich doch ein klein wenig geschmeichelt, dass er nichts davon bemerkt hatte.
»Nun, du hast jedenfalls nicht vergessen, wie es geht.«
Sie zuckte die Achseln. »Nun ja, ich nehme an, es ist wie Fahrradfahren ...«
»Schätzchen, wenn du glaubst, das wäre wie Fahrradfahren gewesen, bist du mehr als zehn Jahre nicht mehr gefahren!«
Sie gestattete sich ein Lächeln. »Das habe ich zwar durchaus getan, aber ich glaube nicht, dass ich es in absehbarer Zeit wieder tun werde.«
Er setzte sich neben sie und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Komm, lass uns ins Bett gehen, und morgen Früh sehen wir mal, ob du dich immer noch daran erinnern kannst, wie es geht.«
Nel rückte von ihm ab. »Nein! Es war mir ernst mit dem, was ich gesagt habe. Wir müssen so tun, als sei nichts passiert, wir dürfen niemals davon sprechen, wir müssen einen Strich unter diese Sache ziehen. Ich werde hier schlafen.«
»Aber warum? Das mit uns könnte absolut fantastisch sein!«
»Wir könnten fantastischen Sex haben, das gebe ich zu, aber mehr nicht. Und ich bin keine Frau, die einfach nur Sex hat. Das hier war ein einmaliger Ausrutscher. Es hatte nichts zu bedeuten.«
Jake stand stirnrunzelnd auf. »Ich glaube, du bist verrückt.«
»Das weiß ich. Aber ich möchte trotzdem, dass du mir versprichst, mich nicht anzurufen oder zu besuchen oder sonst irgendwas. Es tut mir Leid, dass ich so bin, so ... so ...«
»Neurotisch? Arrogant?« Sie konnte nicht sagen, ob sein Gesichtsausdruck Kränkung oder Zorn verriet.
Sie nickte. »Arroganz trifft es so ziemlich, nachdem du so nett zu mir warst. Aber ich fürchte, genau so wird es laufen.«
»Aber warum? Warum können wir nicht mal miteinander ausgehen? Und feststellen, ob wir abgesehen von fabelhaftem Sex noch mehr gemeinsam haben?« Jetzt sah sie, dass sein Gesichtsausdruck Ungläubigkeit widerspiegelte. Wahrscheinlich konnte er nicht fassen, wie viel Glück er gehabt hatte.
»Weil wir nicht nur in einer Angelegenheit, die mir sehr, sehr wichtig ist, auf gegnerischen Seiten stehen, sondern weil ich außerdem drei erwachsene Kinder habe. Ich kann nicht einfach eine Beziehung mit irgendjemandem eingehen.«
»Kannst du wohl! Außerdem hast du doch diesen Simon.«
Sie war entsetzt. Jetzt würde er nicht nur denken, dass sie leicht ins Bett zu bekommen war, er würde sie auch noch für eine Schlampe halten. »Wieso weißt du das mit Simon?«
»Ich habe dich mit ihm auf dem Bauernmarkt gesehen, und ich habe mich erkundigt.«
»Nach mir?«, quiekte Nel.
»Ja, nach dir.«
»Ich nehme an, du wolltest wissen, mit was für einer Art von Wahnsinnigen du es zu tun hattest.«
»Das könnte man so sagen«, murmelte er mit einem Anflug von Verärgerung.
»Also, ich finde, ich sollte jetzt ins Bett gehen.«
»Schön. Ich suche dir Bettzeug heraus.«
»Ich brauche nicht viel. Ein Schlafsack würde mir genügen.«
»Ach, sei still!« Jetzt war er eindeutig wütend.
Er förderte einige Kissen zu Tage, eine Decke und ein Laken. »Soll ich dir das Bett machen?«
»Rede keinen Unsinn! Geh schlafen!« Ihr Versuch, Autorität zu zeigen, wurde von dem Beben ihrer Stimme stark beeinträchtigt.
»Ich möchte zuerst noch ins Bad, wenn du nichts dagegen hast.«
»In Ordnung! Oh, und Jake ...«
»Was?«
»Danke, dass ich bei dir übernachten darf.«
Er warf ihr einen Blick zu, der ihr bedeutete, dass sie möglicherweise zu weit gegangen war, dass er vielleicht im nächsten Augenblick zu einer Wiederholungsvorstellung dessen ansetzen würde, was zuvor passiert war. Zu ihrer Erleichterung und Enttäuschung tat er es nicht. Er sagte lediglich gepresst: »Nicht der Rede wert. Es war mir ein Vergnügen.«
Während sie in der Dunkelheit lag, sann Nel darüber nach, wie merkwürdig Männer doch waren. Er hätte begeistert sein müssen, dass sie keine Beziehung wollte. Er würde keine Beziehung mit einer Frau wollen, die durchaus ein paar Jahre älter sein konnte als er. Sie. Sie ließ ihn ungeschoren davonkommen. Fantastischer Sex – sie seufzte –, aber keine der damit verbundenen Komplikationen.
Als ihrer Schätzung nach langsam der Morgen graute, stand sie auf. Sie knipste eine Stehlampe an und suchte nach ihren Kleidern. Einige davon waren noch nass, aber sie fand den Pullover, den sie im Restaurant ausgezogen hatte, in ihrer Tasche. Der war Gott sei Dank trocken. Dann zog sie den Mantel an.
Sie hatte gehofft, lautlos die Wohnung verlassen zu können; sie hatte nicht bemerkt, dass Jake am Abend zuvor eine Alarmanlage angestellt hatte. Aber zumindest stand sie bereits sicher im Aufzug, als das durchdringende Schrillen das ganze Haus auf ihren Aufbruch aufmerksam machte.
Draußen war es noch dunkel, und als Nel unter einer Straßenlaterne auf ihre Armbanduhr blickte, sah sie, dass es erst fünf war. Zu früh, als dass sie Jake hätte wecken können. Die Sache mit der Alarmanlage tat ihr Leid, aber daran ließ sich nun nichts mehr ändern, die Menschen in London waren so sicherheitsbewusst. Und sie hatte wirklich gehen müssen. Sie konnte ihm unmöglich wieder gegenübertreten, nicht bevor sie Zeit gehabt hatte, sich zu erholen. Was möglicherweise ziemlich lange dauern würde.
Als sie auf die nächste Ampel zuging, wo die Chancen auf ein Taxi ein wenig größer waren, fragte sie sich, ob sie wohl anders aussah. Würde man ihr ansehen können, dass sie Sex gehabt hatte? Orgasmen? Würden ihre Kinder es bemerken, Vivian, Simon? Oh Gott, hoffentlich nicht! Das würde sie nicht überstehen. Ihr Ruf würde für alle Zeit dahin sein. Statt des guten, tugendhaften Menschen, für den alle sie hielten, würde man sie als die Hure erkennen, die sie tief im Innern offensichtlich war. Sie seufzte. Nun, nicht direkt eine Hure, das ging wohl doch etwas zu weit, auch wenn sie sich, metaphorisch gesprochen, Asche aufs Haupt streute. Aber sie war eindeutig ein loses Frauenzimmer.
Im Augenblick fühlte sie sich jedenfalls so schrecklich, wie man sich nur fühlen konnte, ohne etwas wirklich Furchtbares getan zu haben, wie eine alte Dame auszurauben oder einen Mord zu begehen. Aber sie hatte mit ihm schlafen wollen. Sie hatte es sogar sehr gewollt.
Als sie zu einem Zeitungskiosk kam, der gerade öffnete, kaufte sie sich einen Stadtplan. Dann ging sie mit ihren hochhackigen Stiefeln, die Jake ihr am Abend zuvor so lässig ausgezogen hatte, zur Paddington Station. Sie würde immer noch stundenlang auf einen Zug warten müssen.