KAPITEL 21

Silas fand sie. Naomi hatte gewusst, dass er nach ihr suchen würde. Und da war er.

Es hatte nicht sonderlich lang gedauert, bis er sie gefunden hatte. Es gab ja nicht viele Orte, an denen Naomi Zuflucht suchte, wo keine Menschenmassen waren. Jedenfalls nicht, wenn sie nicht bereit war, sich in Kunstleder, Metall und Sex zu kleiden, in die Masse der Verzweifelten und Einsamen einzutauchen und sich ihren pulsierenden, lebenshungrigen Rhythmen zu ergeben.

Menschen aber wollte Naomi nicht.

Also saß sie auf dem Dach ihres heruntergekommenen Appartementblocks, tief im Herzen der Stadt, die sie so sehr verabscheute, als die Nacht im Gefolge der abziehenden Unwetterfront und als Vorbote der nächsten anbrach.

Hoch droben, wo die Wolken den Blick auf die Wohn- und Bürotürme der Oberstadt nahmen, flackerte und pulsierte golden ein Lichtschein. Ein feuriger Herzschlag in der Dunkelheit.

Hinter Naomis Rücken knirschte Kies unter Stiefelsohlen. »Der Wind hat sich gelegt. Das Feuer wird nicht auf andere Gebäude überspringen.«

Naomi schwieg, statt zu antworten. Was hätte sie auch sagen sollen? Das ist gut schien ihr eine leere Phrase, unaufrichtig. Zu sagen, dass es besser wäre, die ganze Stadt brenne nieder, schien ihr zu … brutal.

»Du hast Agatha und die beiden anderen ausgeschaltet. Wenn es im Zeitlos noch mehr Erlöser gegeben haben sollte, sind sie entweder verbrannt oder untergetaucht.«

Naomi starrte auf die schwarze Wand aus himmelhohen, an den Wolken kratzenden Türmen der Stadt und schwieg immer noch.

Silas in ihrem Rücken seufzte.

Silas Smith war ein Mann von unglaublicher Präsenz. Selbst wenn Naomi ihn, seine Schritte, seine Stimme, nicht gehört hätte, hätte sie ihn allein schon daran erkannt, wie viel Druck sie in ihrem Rücken spürte. Silas war groß und breitschultrig und hatte obendrein eine Ausstrahlung, die ihn mit der Intensität elektrischer Ladung umgab.

Selbst nach Jahren der Trennung vergaß eine Jägerin die Partner nicht, mit denen sie ausgebildet worden war. Naomi hatte Seite an Seite mit Silas gewohnt, hatte Seite an Seite mit ihm gelernt; Tag und Nacht waren sie zusammen gewesen. Es war eine seltsame Mischung aus Gefühlen, die in Naomi hochkochte, wenn sie an Silas dachte: Hass, Vorwürfe, unerschütterliche Freundschaft und Fürsorge.

Familie. Silas, Jonas und Eckhart waren alles, was Naomi an Familie je gekannt hatte. Missionsleiter kamen und gingen, Missionare der eigenen Mission wurden versetzt oder fielen in Ausübung ihrer Pflicht; sogar Silas war irgendwann gegangen, war vierzehn Jahre lang fort gewesen. Und dennoch blieb die Bindung zwischen ihnen. Familie eben.

Als Naomi nun Silas’ Wärme im Rücken spürte, verspannte sie sich.

Große Hände legten sich auf ihre Schultern. »Hey.«

Naomi erschauerte.

»Du kannst nicht mehr zurück«, meinte er rau. Das war seine Version von ruhig und gelassen.

Naomi hätte fast gelacht. »Zurück«, wiederholte sie beißend. »Zurück wohin? An den Ort, der jetzt lichterloh brennt, oder an den, der stattdessen brennen sollte?«

Silas tätschelte ihr die Schulter. Das war seine Art, Trost zu spenden. In all den gemeinsamen Jahren hatte sie oder ein anderer Weggefährte nie mehr von ihm bekommen. Naomi brannte die Kehle, kaum dass Silas sie zu trösten versuchte. Die Gewissheit, so viel verloren zu haben, trieb ihr Tränen in die Augen.

Und alles kaputtgemacht zu haben, was sie vielleicht hätte haben können.

Sie war mehr das Kind ihrer Eltern als ihr lieb sein konnte.

»Nai, es gibt einen Ort, wohin du kannst.«

Ihr Schnauben ging in einem fernen Donner unter. Allmählich klatschten erste dicke Tropfen auf Kies und Beton.

Auf Naomis Scheitel.

So war ihr Leben: angepinkelt vom Himmel, den nichts kümmerte, über einer Stadt, die nichts besseres zu tun hatte, als vorzugeben, alles wäre in bester Ordnung.

»Nichts ist in Ordnung«, sagte Naomi laut. Ihr Blick ging hinunter zu der kalten, brünierten Waffe in ihrem Schulterholster.

Kugelhagel und Blutvergießen. Das war das Leben, das sie kannte.

»Phin Clarke ist in Ordnung«, sagte Silas, immer noch mit der barsch und schroff klingenden Stimme, die zeigen sollte, wie ruhig und gelassen er war.

»Phin Clarke ist ein Idiot.« In plötzlich aufwallendem Ärger schüttelte Naomi Silas’ Hände ab. »Phin Clarke wäre beinahe draufgegangen, nur weil er keinen Bock hatte, darauf zu …«

»Naomi!«

Sie legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen, als Regentropfen auf ihr Gesicht fielen. »Was willst du, Silas?«

Endlich. Ein Quäntchen Normalität.

Bewegung hinter ihr, neben ihr. Silas setzte sich rücklings neben sie auf die Einfassung aus Beton, die das Dach umgab. Breitbeinig saß er da, die Stiefel fest auf dem Kies. Naomi runzelte die Stirn, sah ihn abwartend an.

In seinen grünen, rauchgrau gesprenkelten Augen stand keinerlei Mitleid. Sein Blick war scharf. Herausfordernd. »Ich möchte, dass du aufhörst, Missionarin zu sein.«

Sie lachte. Bis ihr das Lachen in der Kehle stecken blieb.

Sie wandte das Gesicht ab und versuchte, den Kloß in ihrem Hals herunterzuwürgen. Schmerz, Angst, alles, was sie zu überwältigen drohte.

Ohne die Mission war sie verloren.

Und wenn sie bei der Mission bliebe, war sie ebenso verloren.

Silas beugte sich vor, stützte die Ellenbogen auf die Knie und fuhr fort: »Ich möchte, dass du bei uns mitmachst. Schließ dich uns an!«

»Uns.« Das Wort klang tonlos.

Silas nickte. »Jessie und mir. Und Matilda.«

»Tatsächlich.« Mit einem regennassen Arm wischte sich Naomi die Nase ab. Ein Blitz zuckte durch die dunklen Wolken des Abendhimmels, grelles Gold, das sich mit dem roten Herzschlag aus Feuer verband, das langsam die wunderschöne Hülle des Zeitlos verzehrte.

Himmel, das war mal eine Metapher für das Leben, im Allgemeinen und im Besonderen.

»Die Sache ist die«, sagte Silas und verlagerte sein Gewicht. Der Kies knirschte unter den Sohlen seiner schweren Stiefel. Regentropfen spritzten, als sie vom Jeansstoff seiner Kleidung abprallten; Regentropfen fielen aus Silas’ Haaren, als er sich mit den Händen hindurchfuhr. »Alle haben immer geglaubt, die Quelle des Lebens wäre ein magisches Objekt. Jetzt stellt sich heraus, es ist ein Mensch.« Er warf ihr ein Lächeln zu, das alles andere als freundlich war.

Naomi kribbelte es in den Fingern nach der Waffe im Halfter.

»Du hast die Wahl. Du kannst dich jetzt sofort absetzen, untertauchen. Wahrscheinlich wird es dir eine ganze Weile gelingen, zu überleben. Aber zwischen den Fronten von Mission und Zirkel der Erlöser wird das ganz sicher nicht leicht.«

»Willst du mir Angst einjagen? Oder drohst du mir?« Und wenn dem so sein sollte, warum zum Henker hatte sie sich noch nicht in Bewegung gesetzt? Warum saß sie noch hier, die Beine im Nichts, wo Silas sie nur einmal kräftig schubsen musste und sie stürzte vom Dach?

Alles wäre mit einem schmierigen Blutfleck auf dem Straßenpflaster ein für alle Mal vorbei.

»Nein, Nai, ich sag dir nur, wie es ist.« Er legte ihr eine Hand auf den Rücken. Nur ein Schubs. Sie versteifte sich. Ihr Puls raste. Aber Silas tat nichts weiter, als seine Hand dorthin zu legen.

Eine Geste der Fürsorge. Eine Geste männlichen Trostes.

»Ob’s dir passt oder nicht: Du bist jetzt eine Hexe. Aber du musst nicht allein damit fertigwerden. Es gibt da einen Ort für uns«, erklärte er ruhig, »einen sicheren Ort, eine Zuflucht.«

Naomi schluckte. Sie schloss wieder die Augen und schwieg.

Er nahm die Hand von ihrem Rücken; sofort vermisste sie deren Wärme. Sie spürte sein Seufzen, ebenso wie sie es hörte. »Es gibt jede Menge Fragen, die eine Antwort brauchen, Nai. Jede Menge, was einfach nicht aufgehen will. Zum Beispiel wie der vorherige Missionsleiter ein Hexer sein konnte …«

Naomi riss die Augen auf. »Was?«

»… und warum die Kirche eine Missionarin auf einen anderen Missionar ansetzt«, fuhr Silas fort, ohne auf Naomis schockierte Reaktion einzugehen. »Warum dieser Missionar behaupten konnte, die Kirche habe ihn geschickt, jemand aus den oberen Etagen in der Hierarchie.«

»Davon hatte ich dir gar nichts erzählt«, warf Naomi ein, ihre Stimme so ruhig wie seine.

»Das war nicht nötig. Nai, was ich damit sagen will … ach, Mist, ich kann diesen Scheiß einfach nicht besonders gut!« Silas stand auf, wieder knirschte der Kies unter seinen Stiefelsohlen. Er blickte auf Naomi hinunter. »Schau, eigentlich ist alles ganz einfach: Jess und ich, wir könnten jemanden gebrauchen, der uns zur Hand geht. Wenn du uns nicht helfen willst, okay, auch gut. Aber dann wär’s am besten, du setzt deinen Arsch in Bewegung, und zwar jetzt gleich.«

Wieder, ganz sacht, als könnte sie unter dem plötzlichen Gewicht zusammenfahren und in die Tiefe stürzen, legte Silas ihr die Hände auf die Schultern. »Man wird die Sache nie und nimmer ruhen lassen«, sagte er, seine Worte ein düsteres Versprechen.

Naomi kaute auf ihrer Unterlippe herum. Silas wandte sich ab, Schritte, die auf Kies knirschten. Regen tropfte von Naomis Nasenspitze. Mit einer raschen und entschiedenen Bewegung wischte sie sich mit dem Ärmel übers Gesicht. Seufzte. »Silas!«

Er blieb stehen. »Ja?«

Sie wollte nicht verloren sein. Sie schloss die Augen, verschränkte die Finger. Sie saß auf der Betonumrandung des Daches. Sie könnte allem ein Ende setzen, das sie so verabscheute. Der dumpfe Schmerz in ihrem Herzen würde aufhören, schlagartig. Aber bewusster als das war ihr, dass sie nicht verloren sein wollte. Dass sie es leid war, verloren zu sein.

Wäre das der Weg, es zu ändern, vielleicht gar für immer?

Sie leckte sich über die Unterlippe. Dann holte sie tief Luft, ein halbes Schluchzen, und öffnete die Augen. »Ich will nicht mehr töten.«

»Ja.« Aus dem Augenwinkel sah sie eine Hand, die ihr sanft die Schulter tätschelte. »Dacht ich mir.«

Lachen schlug die Tränen in die Flucht, die den Damm schon zu brechen drohten. Naomi lachte hysterisch und erleichtert. Sie streckte die Hand aus, suchte seine, verwebte ihre Finger mit seinen. »Du kriegst auch jeden rum.«