KAPITEL 9

»Entschuldigen Sie bitte, Mr. Clarke?«

Phin blickte von seinem Computer-Bildschirm auf. Langsam gewöhnten sich seine Augen um, und er sah auch in der Ferne wieder scharf. Cally Simmons hatte den Kopf durch seine offene Bürotür gesteckt. Phin wechselte den Gesichtsausdruck von nachdenklich-prüfend zu einem einladenden Lächeln. Verstohlen überprüfte er noch rasch, ob etwas von dem hastig geschlürften Tee auf seine Krawatte getropft war.

Phin war noch vor dem Küchenpersonal auf den Beinen gewesen – jedenfalls vor den meisten. Beim Frühstück musste jeder für sich selbst sorgen.

Das Lächeln auf Callys Gesicht war etwas schief, als sie seiner Einladung folgte und hereinkam. »Ist gerade kein guter Zeitpunkt, oder?«

»Doch, sicher«, erwiderte Phin. »Kommen Sie ruhig herein und setzen Sie sich. Wie geht es Ihnen? Alles in Ordnung?«

Außer, dass sie müde und erschöpft war. Das konnte er leicht erkennen: Die dunklen Ringe unter Callys satt grünen Augen verrieten es. Ob sie in der Nacht überhaupt geschlafen hatte? Wenn ja, dann offensichtlich schlecht.

»Alles bestens, danke«, antwortete sie und ließ sich in den angebotenen Sessel fallen. »Ich habe mich nur gefragt, ob ich möglicherweise mit Ihnen sprechen könnte … nur ganz kurz.«

Tonfall und Wortwahl ließen nichts Gutes ahnen. Phin streckte den Rücken durch und schenkte Cally Simmons sorgenvoller Miene seine ganze Aufmerksamkeit. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ich will es nicht schwieriger machen, als es ist«, setzte Cally an, und Phin lächelte ihr beruhigend zu.

»Kein Wort von dem, was Sie mir zu sagen haben, verlässt dieses Büro, in Ordnung?«

Cally strich sich den Pony aus der Stirn. »Es ist nur, dass ich sehr zu schätzen weiß, was Sie für mich tun, und ich möchte wirklich nicht unnötig Probleme machen. Agatha war der Meinung, Sie sollten nicht damit behelligt werden.«

»Ach, meint Agatha das?« Phin lehnte sich in seinen Schreibtischstuhl zurück. Rasch taxierte er seine Besucherin. Sie erwiderte seinen Blick mit einer Aufrichtigkeit, die ihn beeindruckte.

Cally arbeitete hart. Sie war intelligent und außerordentlich zuverlässig; sie machte jedem die Zusammenarbeit leicht. Phin hatte sie noch nie zu Ausreden greifen hören. Er mochte Cally. Er vertraute ihr, soweit er dies bei den Zeitweiligen zulassen konnte.

Derzeit hatte er nur noch vier Zeitweilige auf der Lohnliste.

Phin rieb sich das Kinn. »Worum geht’s, Cally?«

Sie zögerte, fragte dann: »Sie kennen Mark?«

»Aus dem Stegreif kenne ich sogar drei«, antwortete Phin mit einem ironischen Lächeln, das Cally beruhigen sollte. »Welcher Stock?«

»Haustechnik.«

»Mark Vaughn, ja.«

Cally verschränkte die Hände ineinander, schob sie zwischen die Knie. »Er ist nicht mehr da, Sir.«

»Was meinen Sie damit?«

»Na, er ist weg, verschwunden. Zur letzten Schicht ist er nicht aufgetaucht«, erklärte sie. »Ich weiß das nur, weil ich gerade oben in der Restaurant-Etage war, als Agatha mit ein paar anderen vom Personal darüber gesprochen hat. Ich habe sie sagen hören, dass Mark sonst nie zu spät käme.«

Phin kannte den älteren Mann nicht sonderlich gut. Aber er wusste genug über ihn, um dieser Einschätzung von Marks Pünktlichkeit zustimmen zu können. Mark Vaughn hatte erst vor kurzem bei ihnen angefangen. Aber seitdem er vor drei Wochen seinen Dienst angetreten hatte, hatte er nicht eine Minute Arbeitszeit versäumt. Er hatte die besten Referenzen; der Hintergrundcheck war unauffällig gewesen, keine Haken, keine Ösen. Der Mann redete nicht viel. Aber er war gut darin, alles zu reparieren, was man ihm auftrug.

Agatha hatte ihn empfohlen, nachdem er den Boiler in ihrem Appartement repariert hatte. Und jetzt war er verschwunden? Phin widerstand dem Drang, sich über den Nasenrücken zu reiben.

»Mr. Clarke, ich weiß, das ist nicht normal, aber …« Weiß blitzten Callys Zähne auf, als sie sie in ihre Unterlippe versenkte. Mit einer Geste, die Phin Callys Besorgnis verriet, wischte sie sich eine Strähne roten Haars aus den Augen.

Cally war nervös.

Phin streckte die Hand aus und legte sie auf die Schreibtischplatte unmittelbar vor die junge Frau, ganz, als wolle er die Hand einem misstrauischen Streuner zum Beschnüffeln hinhalten. »Cally«, meinte er freundlich, »ist schon gut. Sie können mir alles sagen, was Sie auf dem Herzen haben.«

Über ihr Gesicht huschte ein Lächeln, das wieder ein wenig schief geriet. »Wahrscheinlich hat es nichts zu bedeuten. Aber ich dachte, ich sollte Ihnen erzählen, dass ich mich in letzter Zeit ein bisschen unwohl gefühlt habe.«

»Unwohl?«

»Nur so eine Ahnung, Sie verstehen«, erklärte sie lahm. »Ich kann nur so viel sagen: Gleich, als ich gehört habe, dass Mark vermisst wird, hatte ich das unbestimmte Gefühl, ich sollte zu Ihnen gehen und es Ihnen erzählen.«

Eine Ahnung. Sorgen. Verdammt! »Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür«, sagte Phin und behielt ganz bewusst den freundlichen, sanften Tonfall bei, den er zuvor schon angeschlagen hatte. »Ich werde auf jeden Fall bei ihm zu Hause vorbeischauen lassen. Aber was momentan viel wichtiger ist: Fühlen Sie sich gut?«

»Ich wünschte, ich wüsste es.« Jetzt rang sie die Hände. »Ich habe das Gefühl, da draußen lauert etwas, verstehen Sie? Etwas beobachtet uns.«

Phin runzelte die Stirn. »Sie haben das Gefühl, Sie werden beobachtet?«

»Nein«, wehrte Cally ab und schnitt ein Gesicht. »Nein, ich meine, nicht ich allein, sondern … alles. Etwas belauert uns alle.«

Phin tippte mit einem Finger auf die Schreibtischplatte. »Wir haben überall Kameras«, erläuterte er. Der Blick, mit dem Cally ihn strafte, sagte alles: Er hatte ihre Intelligenz beleidigt, und das gefiel ihr gar nicht. Entschuldigend lächelte er. »Das ist es also nicht?«

»Nein.« Rasch zuckte sie mit den Schultern. »Ich weiß, die Sache sieht nicht gut für Sie aus – für uns«, berichtigte sie sich, »aber ich wollte, dass Sie Folgendes wissen: Ich bin mir sicher, dass der Vorfall in der Sauna kein Unfall war. Ich glaube, dass Mr. Barker mit seiner Vermutung recht hat: Es gibt da jemanden, der nicht ins Zeitlos gehört, einen Eindringling. Und …«, fügte sie rasch hinzu, »vielleicht kann ich ja helfen? Irgendwie, vielleicht?«

»Können Sie durch Wände schauen?«, fragte Phin nur halb im Scherz, während er sich mit beiden Händen durchs Haar fuhr.

Cally blinzelte. Gedankenschnell. »Wäre das hilfreich?«

»Nein, wahrscheinlich nicht.« Phin lächelte betont beruhigend. Sorgfältig achtete er darauf, dass nichts von seiner eigenen Besorgnis Callys Sorge noch verstärkte. Die junge Frau war müde. Es war nur zu offensichtlich, dass sie sich wegen der Ereignisse mehr Sorgen machte, als ihre Aufgabe war. »Überlassen Sie die Sache mir, und Sie, Cally, bleiben immer schön in Deckung, okay? Schon in ein paar Tagen sind Sie weit weg.«

Cally richtete sich auf und riss die Augen auf vor Überraschung. »Weit weg? Ich dachte, ich bleibe hier noch mindestens drei Wochen.«

»Wir müssen das Ganze schneller erledigen, als wir ursprünglich dachten«, erwiderte Phin. »Jede Aufmerksamkeit, die wir außer der Reihe erregen, wird zu einem Problem für uns alle.«

»Meinen Sie, die schicken jemanden?« Callys Hände verkrampften sich. »Offizielle Vertreter der Kirche?«, fragte sie mit gesenkter Stimme, und tonlos fügte sie hinzu: »Missionare?«

»Nicht, wenn ich es verhindern kann«, sagte Phin entschieden.

»Sie gehen ein hohes Risiko ein. Das wissen Sie.«

Sie musterte ihn, ihr Blick war klar und ruhig wie ihre Stimme bei den beiden letzten Sätzen. Phin schüttelte den Kopf. »Die Alternative kommt für mich nicht infrage.«

Callys Lächeln erreichte ihre Augen und zauberte Lachfältchen in die Augenwinkel. »Sie sind einer von den Guten.«

Vielleicht. Phin stand auf, umrundete den Schreibtisch, um ihre von der Arbeit rauen Hände in die seinen zu nehmen. »Danke schön. Und Sie, Cally, halten sich großartig. Jetzt heißt es lediglich, noch ein paar Tage länger durchzuhalten.«

Sie lachte leise auf, ihre grünen Augen schmal und dunkel vor ironischer Heiterkeit. »Ganz ehrlich, Sir, ich kann mit Recht behaupten, das hier bei Ihnen war nicht die seltsamste Arbeitsstelle, die ich je angenommen habe. Machen Sie sich um mich keine Sorgen! Ich lasse Sie wissen, wenn aus dem Gefühl von Unwohlsein etwas Greifbares wird.«

»Etwas Greifbares?« Phin zögerte. »Durch … eine Vision etwa?«

»Glauben Sie das ruhig, dann schlafen Sie besser«, antwortete sie erneut mit diesem irritierend ironischen Lächeln.

»Nun, das ist …«, Phin dachte einen Moment über ihre Worte nach, »entweder beruhigend oder aber sehr beängstigend.«

»Keine Sorge, bei mir ist alles in Ordnung.« Cally erhob sich jetzt ebenfalls. Sie verschränkte die Arme über dem Kopf und dehnte und streckte die steife Rückenmuskulatur. »Jetzt aber brauche ich schnell noch etwas zu essen, ehe ich mich an die Arbeit oben im Restaurant machen kann. Brauchen Sie noch etwas? Darf ich Ihnen irgendetwas bringen?«

»Ruhen Sie sich ein bisschen aus«, forderte er sie mit fester Stimme auf. »Sie haben schon mehr als genug getan.«

Cally grinste. »Bedeutet das, ich bekomme eine Gehaltserhöhung?«

»Klar, und ein Pony noch dazu!«, entgegnete er in demselben flapsigen Ton. Ihr Lachen und ein Daumen-hoch brachten Phins steifen Nacken tatsächlich dazu, sich ein klein wenig zu entspannen.

Die Hände auf den Schreibtisch gestützt, blickte er ihr nach, als sie sein Büro verließ. Einen Moment noch hing er seinen Gedanken nach. Das Lächeln, das Cally ihm aufs Gesicht gezaubert hatte, verschwand. Er angelte nach dem Com und wählte die Kurzwahl des Sicherheitsdienstes.

»Sicherheitsdienst. Hallo, Mr. Clarke, wie kann ich Ihnen helfen?« Eric Barkers Stimme klang so müde, wie Cally Simmons’ elfenhafte Gesichtszüge gewirkt hatten.

Mitfühlend verzog Phin das Gesicht. Er gab sich besondere Mühe, seinen Ton neutral zu halten. Knapp, professionell. »Ich rufe an, um nachzufragen, was bei der hausinternen Überprüfung herausgekommen ist.«

»Ja, Sir. Was die Gäste angeht: keine Auffälligkeiten, das haben wir geklärt; die sind alle sauber. Beim Personal sind wir noch dabei, letzte Lücken in Dienstplänen und Aufenthaltsorten zu klären. Aber …«

»Aber Sie vermuten, jemand hat sich ins Zeitlos eingeschlichen«, unterbrach Phin den Sicherheitschef mit immer noch neutraler Stimme. »Das wurde mir zugetragen.«

Überraschtes Schweigen am anderen Ende der Leitung. »Ich vermute einen Eindringling, richtig, Sir.«

Phin seufzte. »Wem gegenüber haben Sie diesen Verdacht geäußert?«

»Nur meinem Team gegenüber.« Es folgte betretenes Schweigen. Dann setzte Barker hinzu: »Offenbar habe ich nicht richtig aufgepasst. Es tut mir leid, Mr. Clarke, in Zukunft werde ich noch vorsichtiger sein, wo und wann ich Sicherheitsrelevantes bespreche.«

»Danke. In der Zwischenzeit möchte ich, dass Sie etwas für mich tun.«

»Alles, was nötig ist, Sir, schießen Sie los!«

»Ich möchte, dass Sie gleich jetzt als Erstes bei Mark Vaughn zu Hause anrufen.« Phins Finger tanzten über die Computertastatur, die in das blank polierte Holz der Schreibtischplatte eingelassen war. Er ratterte die Nummer für Barker herunter.

»Habe ich notiert«, antwortete der Sicherheitschef. »Worauf soll ich achten?«

»Finden Sie heraus, wo Vaughn sich aufhält. Er ist heute nicht zu seiner Schicht erschienen. Ich möchte sichergehen, dass alles in Ordnung ist. Und«, fügte Phin hinzu, während er das Foto in der digitalen Personalakte anstarrte, das ihm den grauhaarigen Haustechniker zeigte, »klären Sie, warum er heute nicht hier ist.«

»Ich melde mich so schnell wie möglich bei Ihnen.«

»Ich erwarte Ihren Anruf.« Phin unterbrach die Verbindung und starrte hinauf auf die Stuckverzierungen der Decke.

Es war nicht so, dass er Eric Barker misstraute. Oder jemandem vom Personal. Bis zu diesem Moment hätte Phin ohne zu zögern behauptet, er vertraue jedem im Zeitlos. Jeder, der hier arbeitete, hatte ein pedantisches und genau auf die Bedürfnisse des Resorts abgestimmtes Einstellungsverfahren durchlaufen. Jeder war durchleuchtet worden, das gesamte Umfeld eines jeden Bewerbers. Alle hatten ein ausführliches Vorstellungsgespräch hinter sich. Das Zeitlos stand für absolute Diskretion. Phin brauchte Personal, das diese Diskretion garantieren konnte. Und genau das hatte er auch.

Die einzige Ausnahme waren die Zeitweiligen. Aber sie hatten nur eingeschränkten Zugang zu den einzelnen Flügeln. Unter angenommenen Namen – für die neuen Identitäten sorgte das Zeitlos – arbeiteten sie hauptsächlich im Spa-Bereich. Zu einem Termin innerhalb eines ausgeklügelten Zeitplans wurden sie aus der Stadt geschleust und zu einer der Handvoll Siedlungen gebracht, die über das ganze Land verteilt waren.

Was hätte einer von ihnen davon, einen Gast umzubringen?

Außer dieser Gast war zufällig die Großmutter des Ordensmeisters des Ordens des Heiligen Dominikus.

Phin strich sich das Haar aus der Stirn. Langsam verarbeitete sein müdes Gehirn diesen Gedanken. Dann stöhnte er laut auf.

Aber ja: Jeder Zeitweilige hatte die Mittel. Jeder hatte die Gelegenheit, weil er in das Resort und eben auch ins Spa gelangen konnte.

Und, verflucht noch mal, jeder von ihnen hatte ein Motiv!

Aber welcher der vier Zeitweiligen könnte es getan haben? Cally vielleicht?

Unmöglich! Phin war ein Mensch, der seinen Instinkten vertraute. Und alles in ihm sagte ihm, dass Cally Simmons genau das war, was sie jedem zeigte, der es wissen durfte: eine Hexe, die verzweifelt um ihre Sicherheit besorgt war. Ein guter Mensch.

Was war mit Mario Gonzalez? Mit Greg Swenson? Beide Männer arbeiteten seit zwei Wochen für Phin. Er wusste nicht, ob die beiden Hexer waren. Aber die Befragungen, die sein Sicherheitsteam durchgeführt hatte, hatten ihn davon überzeugt, dass sie keine Mörder, Totschläger, Vergewaltiger oder Diebe waren. Beide Männer arbeiteten hart, der eine beim Reinigungs- und Wartungsdienst für die Schwimmbecken und als Bademeister, der andere in einer der Küchen. Nie war Phin auch nur die leiseste Beschwerde zugetragen worden.

Die beiden taten, was Phins Meinung nach das Beste war, das ein der Hexerei Verdächtigter oder deswegen Verfolgter tun konnte: Sie hielten sich immer schön bedeckt und sorgten dafür, dass sie nicht in die Schusslinie gerieten.

Dann war da noch Liz. Was war mit ihr? Eine der besten aushilfsweise angestellten Masseurinnen, der er je einen sicheren Hafen hatte geben dürfen. Joel trug sie auf Händen. Vor allem, so ging es Phin durch den Kopf, trug Joel sie auf Händen, weil er die Behandlung der schwierigeren Patienten auf sie abwälzen konnte.

Bliebe Hep. Von ihm war nicht einmal ein Nachname bekannt. Der Junge mit der olivbraunen Haut, der, als er im Zeitlos ankam, im Wäschekeller genächtigt hatte, aus Angst, die Missionare, die seine Familie abgeholt hatten, könnten ihn finden.

Phin schloss fest die Augen, kniff sie zusammen. Der Junge war gerade einmal zwölf Jahre alt. Vielleicht auch dreizehn. Wenn er versucht hätte, die Großmutter des Ordensmeisters umzubringen, dann sicher nicht mit einem ausgetüftelten Sabotageakt.

Phins Instinkt trog ihn nur äußerst selten. Und dennoch 

Und dennoch: Die Zeitweiligen hatten das stärkste Motiv, Alexandra Applegate tot sehen zu wollen.

Das Com vibrierte in seiner Hand, und er fuhr zusammen. Er zog ein Gesicht, weil eine Lappalie wie diese genügte, sein Herz vor Schreck einen Schlag auszusetzen zu lassen. Phin nahm das Gespräch an. »Sprechen Sie.«

»Barker hier, Sir«, meldete sich der Sicherheitschef so knapp wie möglich. »Mark Vaughn ist nicht zu Hause. Zumindest nimmt er das Telefon nicht ab. Soll ich jemanden hinschicken?«

»Ja. Ich möchte, dass Sie den Mann auftreiben.« Kaum dass Barker das bestätigt hatte, legte Phin auf. Sein Magen verkrampfte sich. Er wählte Lillians Nummer.

Sie ging sofort ran. »Ja?«

»Mutter, mir ist da ein Gedanke gekommen.«

Obwohl er sich bemüht hatte, sachlich und unaufgeregt zu klingen, wurde Lillians Tonfall sofort schärfer. »Was ist los, Phinneas? Stimmt was nicht? Ist mit dir alles in Ordnung?«

Das war typisch seine Mutter. Immer gleich auf den Punkt.

Mit der freien Hand fuhr Phin sich durchs Gesicht. Blicklos starrte er auf die ordentlich aufgestapelten Archivkisten vor der gegenüberliegenden Bürowand. Er las die rechteckigen, sauber beschrifteten Etiketten darauf. »Mir geht’s gut«, sagte er. »Mark Vaughn ist heute Morgen nicht zur Arbeit erschienen. Entweder, so glaube ich, ist er oder einer der anderen Zeitweiligen der Saboteur, nach dem wir Ausschau halten.«

Ein Moment lang herrschte Schweigen. »Wie kommst du darauf?«

»Von Vaughn weiß ich nur, dass er verschwunden ist. Deshalb glaube ich auch eher, es war einer der Zeitweiligen.« Die Worte wollten Phin in der Kehle stecken bleiben. Jedes einzelne Wort ein Verrat. Sorge. Phin räusperte sich. »Sie alle haben ein Motiv, Mutter«, seufzte er. »Wie könnte man sich besser an der Kirche und der Mission rächen, als jemanden aus der Familie des Ordensmeisters umzubringen?«

»Alles, was du hast, mein Schatz, sind ein Haufen Vermutungen, nicht mehr.«

»Eine andere Erklärung, die passen könnte, will mir nicht einfallen. Alle Zeitweiligen …« Phin ertappte sich bei einem ganz bestimmten Gedanken, runzelte die Stirn. »Sie alle sind nur kurz hier. Es fällt mir schwer, den Verdacht gegen sie abzuschütteln.«

»Nun gut. Wir überprüfen all ihre Angaben und wo immer sie sich aufgehalten haben«, versicherte Lillian ihrem Sohn. Ihre Stimme war so klar und klang so unbeteiligt, als redeten sie über Qualitätskontrollen in der Wäscherei. Als ob nicht Lillian selbst Phin immer wieder vor den Risiken im Umgang mit den Zeitweiligen gewarnt hatte. »Ich gehe davon aus, du hast Maßnahmen ergriffen, um Mr. Vaughn aufzutreiben?«

»Ja. Barker schickt jemanden zu seiner Privatadresse.«

»Gut. Und wenn Vaughn es nicht war, wer dann?«

»Das ist der Haken an der Sache. Ich habe keine Ahnung, wie einer von den Zeitweiligen das angestoßen haben soll.«

Nachdenklich schnalzte Lillian mit der Zunge. »Und was«, fragte sie dann gedehnt, »ist mit denen, die gerade erst weg sind?«

Der Gedanke lag dermaßen auf der Hand, dass Phin im Schreibtischstuhl zusammensackte und seine Stirn auf die Kante der Schreibtischplatte legte. »Jeder von denen hätte es tun können«, stöhnte er. »Absolut jeder! Sie wussten, dass wir sie bald ausschleusen würden. Und ich habe denen auch noch zur Flucht verholfen! Was habe ich mir nur dabei gedacht?«

»Immer schön langsam, Liebling«, sagte Lillian sanft. »Du weißt doch überhaupt nicht, ob es wirklich so war. Während wir unsere Ermittlungen in dieser Sache weiterführen, wird im Zeitlos alles weitergehen wie gehabt. Nur möchte ich, dass du mir bis zum Abschluss der Untersuchung einen Gefallen tust.«

Misstrauisch setzte sich Phin auf. »Welchen?«

»Wag ja nicht, mein Sohn«, drohte Lillian mit einem halben Lachen; plötzlich klang sie heiter und unbeschwert, »in diesem Ton mit mir, deiner Mutter, zu reden! Ich weiß ganz genau, wo dein Bett steht.«

Phin schnaubte.

»Gestern Abend habe ich mir die Kontrollbögen angesehen«, fuhr Lillian fort. »Naomi Ishikawa hat offenbar etwas gegen ihren Behandlungsplan. Sie hält ihn nämlich nicht ein.«

»Ja, das weiß ich.« Phin blickte auf seine Uhr, sah, dass es schon kurz nach zwölf war. »Darüber wollte ich auch schon mit dir sprechen.«

»Weißt du, was sie an den eigens auf sie zugeschnittenen Behandlungen auszusetzen hat?«

»Nein«, räumte Phin ein, »eigentlich nicht. Aber dafür weiß ich, dass sie großen Spaß im Fitnessstudio hat.« Und wie. Die Erinnerung an Naomi Ishikawas Körper, der sich an seinem rieb, jagte Hitzewellen über seine Haut und raubte ihm jeden klaren Gedanken. Ein süßes Andenken daran, dass er die Gunst der Stunde nicht genutzt hatte. Noch nicht.

»Dann ist sie dir heute schon über den Weg gelaufen?«

»Nein, heute noch nicht.« Phin runzelte die Stirn. »Wieso?«

Lillian zögerte. »Es ist nur … so ein Verdacht.«

»Mutter …«

»Tu mir einen Gefallen«, unterbrach sie ihn sanft, »klär ab, ob sich Miss Ishikawas Behandlungsplan irgendwo mit Abigail Montgomerys Terminen überschneidet, ja?«

»Ach, sie ist also schon hier?«, rutschte es Phin heraus, und um seinen Mund zuckte es verräterisch. »Wann hat Ihre Königliche Hoheit denn anzukommen beliebt?«

»Bitte, nenn sie nicht so. Sie kam gestern Abend relativ spät, volle vierzehn Stunden vor der vereinbarten Zeit. Stilvoll selbstverständlich«, fügte Lillian trocken an, »wie immer.«

»Na, prächtig! Wie haben wir sie dieses Mal anzusprechen?«

»Sie ist immer noch mit James Montgomery verheiratet, zumindest im Augenblick noch«, erwiderte Lillian mit einem Seufzer. »Mrs. Montgomery wird für den Moment also genügen.«

»Ich werd’s mir merken. Auf was für Termin-Überschneidungen soll ich achten?«

Mit einem Mal klang Lillians Stimme hell und freundlich. »Guten Morgen, Mr. Rook. – Ich erklär’s später«, sagte sie wieder zu Phin ins Com. »Fürs Erste wird reichen, zu überprüfen, dass sie nicht gemeinsam zu Behandlungen eingetragen sind, und wir sollten versuchen, Kontakte zwischen ihnen auf ein Minimum zu beschränken, in Ordnung?«

»Wie du meinst.« Phin setzte sich wieder vor den Bildschirm. Buchstabe für Buchstabe gab er über die Tastatur erste Befehle ein. »Ich melde mich wieder bei dir.«

»Danke, Liebling. Oh, und halte Miss Ishikawa auch von der Restaurant-Etage fern. Danke!« Lillian hatte aufgelegt, ehe Phin auch nur eine der Fragen stellen konnte, die ihm auf der Zunge lagen. Gerade eben noch hatte er mitbekommen, dass sie einen weiteren Gast begrüßte. Gut gelaunt wie immer. Wie immer würde sie jetzt mit diesem Gast plaudern und Konversation machen.

Lillian machte es Freude, auch während der Mittagspause für alle und jeden erreichbar zu sein. Sie liebte es, sich mit den Gästen zu unterhalten, mit ihnen darüber nachzudenken, was für den einen oder anderen das richtige Programm im Zeitlos wäre. Sie verlieh allem gern eine persönliche Note und hatte ein besonderes Gespür für Menschen. Daher hatte sie sicher ihre Gründe, die beiden Frauen voneinander fernzuhalten.

Phin wünschte nur, er wüsste, was zum Henker eigentlich vorging. So generell.

»Und«, murmelte er, während er die Behandlungspläne beider Frauen verglich, »hier ist alles bestens.« Nicht, dass das eine Rolle gespielt hätte. Abgesehen von ihrem Verwöhnprogramm am Vormittag hatte Naomi alles geschwänzt. Yoga, Entspannungsübungen, Massage – nirgends war sie aufgetaucht.

Was zum Geier machte die Frau eigentlich den ganzen Tag?

Mit Blick auf den Bildschirm trommelte Phin mit den Fingern auf den Rand der eingelassenen Tastatur. Geistesabwesend wiederholte er damit eine typische Geste seiner Mutter. Er war nervös.

Halte Miss Ishikawa von der Restaurant-Etage fern. Abigail zelebrierte die Mahlzeiten wie gesellschaftliche Ereignisse. Phin war davon überzeugt, dass Abigail nur im Zeitlos abstieg, weil sie hier ausreichend Publikum hatte, das ihr nicht entkommen konnte. Das bedeutete, sie würde sie wieder als Geiseln nehmen. Ihre Königliche Hoheit, die ungekrönte Scheidungskönigin unter den Reichen und Schönen der Stadt.

Eigentlich war also gemeint: Halte Naomi von Abigail fern.

Aber warum?

Im Vorbeigehen griff sich Phin sein Jackett vom Garderobenständer, zog die Tür hinter sich zu und aktivierte die Türverriegelung. Er behielt den Daumen auf dem unauffällig kleinen Display des Scanners, bis die typischen Geräusche von Riegeln, die an ihren Platz glitten und einrasteten, ihn davon überzeugten, dass die Tür so sicher verschlossen war wie nur möglich.

Er ertappte sich dabei, dass er vor sich hin pfiff, als er in Richtung Aufzug davonging.

Es hatte viel zu lange gedauert, das Badezimmer der Suite zu säubern. Aber jetzt ginge es bei jeder zufälligen Inspektion als zumindest auf den ersten Blick sauber durch. Im Zeitlos standen Putzmittel nicht gerade überall herum, wo die elitäre Klientel des Wellness-Tempels über sie hätte stolpern können.

Mit Wasser und hübsch schäumendem Duschgel bekam man es allerdings nicht sauberer hin als so.

Die ganze Nacht hindurch hatte Naomi den Vollidioten verwünscht, dem sie den Schädel an der Toilettenschüssel aus Porzellan eingeschlagen hatte. Auf dem gekachelten Badezimmerboden war der Kerl dann verblutet.

Die lästerlichsten aller Flüche hatte Naomi ausgestoßen, als sie die Leiche durchsucht und nur ein Duplikat ihrer eigenen Schlüsselkarte gefunden hatte. Kein Ausweis. Alles, was Naomi hatte, war eine Zeitlos-Uniform und die beschissene Schlüsselkarte.

Es hatte sie einiges an Anstrengung gekostet. Aber Naomi hatte die Leiche samt der zu Wischtüchern umfunktionierten blutigen Handtücher fürs Erste in ihrem Schrank im Schlafzimmer verstaut. Dann hatte sie die Klimaanlage dort so weit aufgedreht, wie es möglich war. Trotzdem würde die Leiche bei diesen Temperaturen nicht lange in gutem Zustand bleiben. Naomi würde Carson aufstöbern müssen, ehe der tote Hexer zu stinken begann.

Was als miese Laune angefangen hatte, wuchs sich innerhalb der nächsten vier Stunden zu veritablen Kopfschmerzen aus. Nicht einmal Gemmas herrlich betäubende Creme vermochte da noch etwas ausrichten.

Dieser Laden war ein verdammtes Labyrinth. Lediglich zwei Stockwerke hatte Naomi systematisch durchkämmen können. Entsprechend frustriert war sie. Müde obendrein. Und was viel schlimmer war: Sie stand mit leeren Händen da. Dieser Scheißkasten von Resort war riesig. Riesiger als ein einzelnes Gebäude überhaupt sein durfte. Da gab es Korridore und Gänge, die sich in alle Richtungen verzweigten, und Treppenauf- und -abgänge, zu denen Naomis Schlüsselkarte ihr keinen Zugang gewährte.

Sie benutzte ihr Com, um alle Gänge und Korridore, Vestibüle und Gangkreuzungen zu dokumentieren, die sie abgesucht hatte. Aber als sie auf einen blauäugigen Mann mit Spülschürze traf, fiel ihr keine gute Ausrede ein. Daraufhin führte der Schürzenträger sie zurück in den Bereich, der der Öffentlichkeit zugänglich war.

Auf der Habenseite konnte Naomi nur verbuchen, dass ihr während der Gebäudedurchsuchung Sicherheitsvorkehrungen aufgefallen waren, wo sie bisher keine vermutet hatte. Möglicherweise war Phin schlauer als sie gedacht hatte. Was sie jetzt also brauchte, war Zugriff auf das Sicherheitssystem, mehr nicht.

Wieder im Fahrstuhl drückte sie die Taste für das nächste Stockwerk. Während der Aufzug sich in Bewegung setzte, wanderte ihr Blick hinauf zu der Kamera in der Kabinenecke.

Wie sollte sie es anstellen?

Am besten wäre es, Jonas Zugang zum geschlossenen internen Netzwerk zu verschaffen. Aber wie? Vielleicht könnte Jonas etwas entdecken, was der hauseigene Sicherheitsdienst übersehen hatte. Und das ganz ohne lästige neugierige Fragen.

Die Aufzugtüren glitten auf, das übliche leise Flüstern von hydraulisch entweichender Luft und gut geschmierter Mechanik. Naomi trat aus der Fahrstuhlkabine. Dieser eine Schritt genügte: Sie musste eine Art Schallgrenze übertreten haben. Mit einem Mal nämlich war sie in einen Kokon aus Stille gehüllt. Nicht einmal gegen den instinktgesteuerten Impuls, zur Lärmvermeidung nur auf Zehenspitzen herumzuschleichen, ließ sich etwas tun. Grabesstille allüberall.

Schwülwarm wie in einer Sauna, nur ohne den ganzen Dampf.

Das Interieur glich dem des Spas ein Stockwerk höher wie ein Spiegelbild. Ein weitläufiges Areal und diverse Türen, die optisch nahezu mit den Wänden verschmolzen. Allerdings gab es auf dieser Etage keine Fenster. Keine Wannen, keine Becken, keine Jacuzzis. Hier war das Licht weitaus gedämpfter als oben, die Atmosphäre versprach Abgeschiedenheit. Sand und behauener Stein statt Pflanzen, und auf dem Boden lag Marmor, schwarz wie Gewitterwolken, den glitzernde Adern in Violett und Gold durchzogen.

Die Türen waren alle geschlossen. Dunkles Massivholz, in das eine bemerkenswerte Sammlung von Mineralien, Steinen, Muscheln und Metall eingelegt war.

Es roch auch anders hier als oben im überdimensionalen Schönheitssalon. Der Duft lag schwer auf der Zunge; er hatte etwas von Weihrauch. Moschusartig war er, würzig, nicht blumig. Beruhigend. Warm, ohne dabei schwül zu werden.

Eine Handvoll Menschen hatte sich auf dem schwarzen Marmor ausgestreckt, Handtücher unter dem Kopf und so mancher mit einem digitalen Buch in der Hand. Alle wirkten zufrieden. Entspannt. Durch die Sohlen ihrer Schuhe hindurch spürte Naomi die Wärme des Bodens; ihre Füße wurden trotz hoher Absätze bis zu den Knöcheln hinauf, hinauf bis zu den Waden, warm.

Naomi runzelte die Stirn. In schwarzen, ausgewaschenen Jeans und himmelblauer Seidenbluse fühlte sie sich overdressed. Schleunigst legte sie den Rückwärtsgang ein. Sonst käme noch jemand auf die Idee, sie wieder in einen Bademantel zu stecken.

Schmale, kleine Hände in ihrem Rücken bremsten ihren Rückzug: Fast wäre sie rücklings in eine Brünette gelaufen, die im typischen Pastellgrün des Spa-Bereichs steckte. »Verzeihung, bitte, tut mir leid«, entschuldigte sich die kleine Person mit gedämpfter Stimme – der Tonfall angenehm ruhig –, als Naomi zu ihr herumwirbelte. Die Frau hob einen Finger an die Lippen. »Mein Name ist Liz. Sind Sie hier wegen eines Massagetermins?«

Naomi warf einen Blick über die Schulter zu den Gästen hinüber, die sich auf dem Boden ausgestreckt hatten. Sie konnte es gerade noch verhindern, spöttisch die Lippen zu kräuseln. »Nein«, flüsterte sie. »Falsches Stockwerk. ’tschuldigung.«

»Kein Problem.« Liz machte eine einladende Handbewegung, deutete über Naomis Schulter hinweg in den Raum mit dem schwarzen Marmorboden hinein. »Wenn Sie mal vorbeikommen wollen, dann wenden Sie sich gleich nach dem Eintreten nach links und verstauen dort Ihre Kleidung, okay?«

»Ja. Vielen Dank.«

Eher fröre die Hölle zu, als dass Naomi sich freiwillig in die Stille dieser Gruft einsperren ließe! Naomi wandte sich ab und wollte schon die Aufzugtaste drücken. Als die Fahrstuhltüren ohne ihr Zutun aufglitten, vibrierte augenblicklich jeder Muskel in ihrem Körper vor Spannung. Sprungbereit. Ganz kurz nur griff die Angst wie mit Tentakeln nach ihr, ehe sie sie niederkämpfen konnte.

Sie hatte jedes Recht, hier zu sein.

Naomi Ishikawa zumindest hatte dieses Recht.

In der Fahrstuhlkabine lehnte Phin sich lässig gegen die umlaufende Reling. Bewusst leger war er in nichtsdestotrotz akkurat gebügelte graue Stoffhosen und ein Button-down-Hemd in Grasgrün gekleidet. Heute trug er eine Krawatte; sie hatte irgendein abstraktes Muster in Olive, Gold und Bronze.

In seinen dunklen Augen blitzte kurz Vorsicht auf. Naomis kühl-distanziertes Lächeln gefror ihr im Gesicht. Gleich würde es, spröde geworden, zerspringen wie Glas.

»Genau die Person, die ich gesucht habe. Wollen wir?« Der Ton, den er anschlug, enthielt eine unterschwellige Warnung. Er machte eine Geste, dass Naomi ihn zurück in die Stille der Etage hinter ihr begleiten solle, aber Naomi beachtete sie nicht.

Ihre Hand schoss vor, gegen den Rand der Aufzugstür, und blockierte den Sensor, der sie sonst geschlossen hätte. Wie eine Schockwelle schoss leichter Schmerz vom Handgelenk hinauf bis in ihre Schulter. Sie ignorierte den Schmerz. Aber ihr Mund wurde staubtrocken, als die Frau neben Phin in ihre Richtung blickte. Blaue Augen unterzogen sie einer stillen eingehenden Musterung.

Die Frau war eine Schönheit.

Immer noch eine Schönheit, musste es wohl heißen. Selbst nach all diesen Jahren, die sie jedes für sich mit plastischer Chirurgie und Stärkungsmitteln aller Art bekämpft hatte. Ihr kinnlanges, gewelltes Haar hatte dasselbe kühle Platinblond, an das Naomi sich erinnerte. Kein graues Haar fand sich darin, das den sorgfältig kultivierten Eindruck von Alterslosigkeit und ewiger Jugend zerstört hätte. Ihre Augen waren meisterhaft geschminkt, die Wimpern stark getuscht, und ihr Make-up vollendet geschmackvoll.

Aber hinter den Ohren der kühlen Blonden entdeckte Naomi die winzigen Narben der Schönheitsoperationen. Die eben doch nicht ganz verschwundenen Fältchen, die die Perfektion von Unterlidstraffung und Augenlifting schmälerten. Dort, um die Augen und um den Mund, dessen Lippen immer noch so voll waren wie Naomis, weil man hier ebenfalls nachgeholfen hatte.

Als die aufwendig alterslos gehaltene Frau nichts sagte, erkannte Naomi die Gleichgültigkeit in ihrer Reaktion. Es gab keinen Anflug von Wiedererkennen. Stattdessen Ablehnung, die eine Nanosekunde lang aus ihrem Blick sprach, ehe ein aufgesetztes, floskelhaftes Lächeln die aufgespritzten Lippen von Naomi Ishikawas Mutter umspielte. »Wir fahren nach unten«, sagte sie mit klarer Stimme und wandte den Blick aus zeitlos schönen Augen wieder Phin zu. »Das ungehörige Benehmen mancher Leute ist wirklich …«

Phin löste sich von der Fahrstuhlreling. Als ob er aus einem Zauberbann erwacht sei, war er mit ein, zwei schnellen Schritten aus dem Aufzug heraus. Mit einer Hand umfasste er Naomis linken Oberarm und sagte leichthin: »Entschuldigen Sie mich bitte, Mrs. Montgomery!«

Naomis Auflachen ging in einen Fluch über, als Phin sie herumwirbelte, nur weg vom Fahrstuhl, und sie an seiner Brust barg. Die andere Hand auf Hinterkopf und Nacken, drückte er Naomis Gesicht gegen seine breite Schulter, und nah an ihrem Ohr flüsterte er: »Still. Ganz ruhig.«

Naomi roch den körperwarmen Geruch von Seife und Männlichkeit, als sie Luft holte, um etwas, irgendetwas, zu sagen. Dieser Geruch lag ihr auf der Zunge, während sie gegen die lautlose Litanei aus Wut, die ihr in den Ohren rauschte, um zusammenhängende Worte kämpfte.

Vor Abigails erstauntem Gesicht schlossen sich die Fahrstuhltüren.

Adrenalin raste durch Naomis Adern. Aus ihrer Brust schoss es in ihr Blut und pochte in ihrem Schädel. Ihr Körper bebte. Wut, bitteres Lachen schüttelte sie und – verflucht noch mal! – Enttäuschung. Sie stemmte sich gegen Phins Brust. »Loslassen, verdammt!«, spie Naomi wutentbrannt.

Entschlossenheit stand in Phins Gesicht zu lesen, die Züge hart, als er über Naomis Kopf hinweg rasch den Raum in ihrem Rücken mit einem Blick erfasste. Naomi jedoch waren die neugierigen Blicke egal, die sie und Phin jetzt wahrscheinlich erregten. Sie hoffte, dem ganzen Pack würden die beschissenen Augäpfel aus dem Kopf fallen!

Ehe sie Gelegenheit hatte, ihrem Herzen Luft zu machen, packte Phin sie an den Handgelenken und schleifte sie hinter sich her in Richtung einer der Türen. Naomis Stiefel schrammten über blanken Marmor, als sie über die äußere Begrenzung des beheizten Bodens stolperte.

Angetrieben von einer Wut, die keinen Raum für einen klaren Gedanken ließ, holte sie schon Schwung, um Phin mit aller Macht in den Rücken zu springen.

Er musste es geahnt haben, irgendwie.

Er fuhr zu ihr herum, die Kiefermuskeln hart wie Stahl. Ein nicht minder stahlharter Griff um Naomis Handgelenke, ein wohlkalkulierter Ruck, in dem Phins ganze Kraft lag, und es riss Naomi auch durch den eigenen Schwung von den Füßen. Sie fluchte. Ein allgemeines Aufkeuchen, digitale Lesegeräte landeten achtlos auf dem Boden, aber Phin gab nicht auf. Er hob Naomi einfach hoch, trug sie auf seinen Armen, deren Muskeln auch gleich Stahlbänder hätten sein können, in einen kleinen Raum, der in goldenes Licht getaucht war.

Phin beachtete das allgemeine Gemurmel nicht, das sich in seinem Rücken erhob. Entschlossen, aber ganz ohne unnötige Gewalt, behutsam geradezu, schloss er die Tür hinter ihnen.

Schäumend vor Wut befreite sich Naomi aus seinen Armen. Die Worte, die sie ihm gern entgegengespuckt hätte, blieben ihr im Hals stecken. Stattdessen trat sie gegen die im Boden verschraubte Massageliege, die die Raummitte beherrschte. Die sonst so toughe Jägerin keuchte auf und hielt den Atem an, als Schmerz ihren Verstand in tausend Stücke splittern ließ. Dann trat sie erneut zu, fester noch. Krachend splitterte der Rahmen der Liege; die Kerzen im Raum, die das warme Gold zur Atmosphäre des Raums beisteuerten, flackerten.

»Nur zu!«, meinte Phin und blieb bei diesem Angebot völlig gelassen. Keuchend wirbelte sie zu ihm herum, die Hände auf Oberschenkelhöhe zu Fäusten geballt. Er, im Gegensatz zu ihr, war beherrscht. Er stand da, die Hände in den Hosentaschen, die Frisur perfekt, jedes Härchen an seinem Platz. Kein Aufruhr in ihm, der ganze Mann unerschütterlich und unaufgeregt. Die Goldfäden, die in seiner Krawatte verwebt waren, schimmerten im Kerzenlicht.

Unbewegt, bis auf das Funkeln in seinen Augen.

»Mach nur weiter so, wenn du möchtest!« Mit einer Schulter lehnte Phin sich betont lässig gegen die Tür. Dann fuhr er fort: »Der Raum ist schalldicht. Das sind sie alle. Die Kunden sind hier, weil sie Ruhe und Frieden suchen. Du kannst also hier drin tun und lassen, was du willst. Schrei und tob ruhig, wenn dir danach ist!«

»Wag das ja nicht!«, stieß Naomi endlich einen zusammenhängenden Satz hervor. Jedes Wort eine unter zu großer Spannung stehende Sprungfeder: Sie katapultierten sich schmerzhaft aus der Enge ihrer Brust heraus. Jedes Wort war zu scharf, zu beißend. »Behandle mich ja nicht so verflucht von oben herab!«

»Das tue ich nicht.« Phins Blick blieb fest. Mit einer Kopfbewegung deutete er auf die Massageliege hinter Naomi. »Mach ruhig weiter! Tritt dagegen, bis irgendwas kaputtgeht.« Er schwieg und ließ seine Worte wirken. Dann sagte er: »Oder du erzählst mir, was nicht stimmt.«

Was nicht stimmt. Ja, was stimmte denn nicht mit Naomi West?

Sie wollte lachen. Aber sie wusste im selben Moment, dass es ein verräterisch raues Lachen wäre. Es wäre einem Schluchzen viel zu ähnlich, um es zu riskieren.

Zu riskieren, dass er, Phin Clarke, der große, gut aussehende Phin Clarke, Mitleid mit ihr hätte.

Zum Teufel, gab es denn irgendetwas, das stimmte?

Sie ballte die Hände so fest zusammen, dass Schmerz in ihre Arme hinaufschoss. Fest biss sie die Zähne zusammen, bis ihre Kiefer schmerzten. Bis zu dem Punkt, wo sie gegen Wut und Schmerz Atem holen konnte – und, zur Hölle damit, gegen die Erinnerung, die sie von innen verbrannte. Die sich sengend und brennend bis hinunter in ihre Knochen fraß.

Phin seufzte. »Ich will mich nicht einmischen, Naomi. Es ist allein dein Leben.«

Bitteres Lachen brach sich Bahn. Endlich. »Was weißt du schon!«

Lange, sehr lange musterte Phin Naomi schweigend. Er taxierte sie. In seinem Gesicht stand nichts zu lesen, aus dem sie hätte etwas schließen können. Seine Augen verrieten nichts, das sie gegen ihn verwenden könnte wie eine Waffe. Er gab ihr nichts – verflucht noch mal nichts! –, um ihre Wut zu schüren.

Als einziges ein Geschenk, unerschütterlich und geduldig: Aufmerksamkeit.

Zu Naomis maßlosem Entsetzen brannten ihr Tränen in den Augen. Sie versteifte sich noch mehr. Mit schierer Willensanstrengung würgte sie den Kloß in ihrem Hals zurück. Verzweifelt wilde Erleichterung folgte. Sie würde nicht losheulen.

Das wäre ein Sieg, den ihre Mutter nicht noch einmal davontrüge!

»Okay, dann.« Phin richtete sich auf. »Leg dich hin!«

Naomi schüttelte den Kopf. »Was?«

Rasch und geschickt entfernte Phin den ersten silbernen Manschettenknopf und legte ihn in eine kleine Glasschale, klink.

Zum zweiten Mal an diesem Tag wurde Naomis Mund staubtrocken.

Mit geübten Fingern löste Phin den zweiten Manschettenknopf, der klirrend seinem Zwilling in der Glasschale Gesellschaft leistete. »Leg dich hin«, wiederholte Phin langsam. »Auf den Tisch, und zieh vorher deine Bluse aus.«

»Nicht einmal, wenn du …«

»Sieh mal«, unterbrach Phin sie mitten in ihrem Ausbruch. Ungezwungener Plauderton, als klärten sie miteinander gerade die Regenwahrscheinlichkeit an einem Herbsttag. »Du bist so verspannt, dass ich förmlich sehen kann, wie sich das Raum-Zeit-Kontinuum um dich herum zusammenzieht.« Energisch krempelte er den ersten Hemdsärmel auf. Ein nackter, muskulöser Unterarm kam zum Vorschein; goldbraune Härchen kräuselten sich darauf.

Naomis Blick blieb an Phins Händen hängen. Lange Finger. Große Handflächen. Ihr Verstand meldete sich ab.

Während Phin den zweiten Ärmel hochkrempelte, deutete er mit einer Kinnbewegung auf die Massageliege. »Also zieh die Bluse aus, und leg dich hin, okay? Ich bin noch nie jemandem begegnet, der eine Massage dringender nötig gehabt hätte als du.«

Naomi zuckte vor Überraschung zusammen. Aufgestaute Wut. Doch erschrocken musste sie feststellen, dass ihre Finger bereits am Saum ihrer Bluse nestelten. Die Seide raschelte unter der Berührung.

Für einen kurzen Moment – soeben hatte sich Naomi die Bluse über den Kopf gestreift – sahen sie und Phin sich direkt in die Augen. Sein Blick streifte ihre Lippen, ihre Schultern.

Blieb an blutroter Spitze hängen, die ihre Brüste umschloss.

Schlagartig wandelte sich Naomis Wut in ein Gefühl, das ebenso geeignet war, sie zu verbrennen. Die Wut wurde von einer Erregung verschluckt, so heftig, dass diese ihr Blut wie Wein berauschte und ihre Reaktion verlangsamte, als Phin das angespannte Schweigen zwischen ihnen brach.

»Und den BH«, krächzte er. Seine Stimme war rau. So unter Spannung wie der Ständer, der sich deutlich unter dem Stoff seiner Hose abzeichnete. Er räusperte sich. Wieder deutete er mit einer Kopfbewegung auf die Massageliege. Naomi ließ die Spitzenträger über die Schultern gleiten. »Leg dich auf den Bauch.«

Naomi bekam Gänsehaut, jeder Nerv war hellwach und vibrierte. Aber sie schlüpfte aus dem BH und ließ Seide und Spitze dort fallen, wo sie stand. Sie kletterte auf die Liege, legte sich in Position. Ihr Atem ging stoßweise, so erwartungsvoll war sie. So ungeduldig. Eine Ungeduld, die sich nur schwer in Zaum halten ließ.

Das gepolsterte Kopfteil unter ihrer Stirn war herrlich weich, die Liege selbst sehr bequem, Luxus pur, der Wechselbezug angenehm auf der übersensiblen Haut von Brust und Bauch. Das Kopfteil umschmiegte Naomis Gesicht, nahm ihr die Sicht auf alles außer dem Bodenausschnitt genau unter ihr. Naomi beobachtete, wie das Kerzenlicht mit jeder Bewegung, die Phin machte, flackerte; es hüpfte und tanzte über den Boden. Sie hörte Phin eine Schublade aufziehen, hörte ihn mit einer Flüssigkeit hantieren, die einen sofort in die Nase stechenden, würzigen Geruch hatte, hörte ihn sich die Handflächen einreiben.

Als Phins Hände Naomi berührten, glaubte sie einen Moment, sie müsse aus ihrer Haut springen, so stark war das Verlangen nach ihm. Er hatte Kraft in den Händen; mit beherzten, ausholenden Bewegungen massierte er ihr Rückgrat entlang; Haut strich über Haut. Phins Daumen bohrten sich in verspannte Muskeln entlang von Naomis ganzem Rücken, um sie zu dehnen. Jeder seiner Massagegriffe ließ sie aufkeuchen; sie konnte nichts dagegen tun.

Wo Phin stand, sah sie nicht. Sie hörte ihn nicht und spürte ihn nicht – abgesehen von der herrlichen Folter, die seine Massage für sie bedeutete. Seine kräftigen Hände kneteten jeden einzelnen protestierenden Muskel. Phins Finger fanden jede Muskelverhärtung, jede noch so kleine Verspannung, jeden verfluchten Schmerzauslöser im Nacken und an den Schultern.

Phin arbeitete, ohne zu sprechen. In endlos langem, unerträglichem Schweigen.

Naomi wusste nicht mehr zu sagen, wie lange es ihr gelungen war, sich zu beherrschen. Aber dann konnte sie den Seufzer der Erleichterung nicht mehr zurückhalten. Schmerz mischte sich darunter und das Gefühl, endlich zu bekommen, was sie am meisten brauchte, als Phins magische eingeölte Hände sich ihres vor Anspannung steifen Nackens annahmen. Mit den Daumen strich er über den harten Muskelstrang von den Ohren hinunter zur Halsbeuge. Vor Lust und Schmerz krümmte Naomi die Zehen, schloss die Augen.

Aber als Phin das Piercing im Nacken berührte, von dem sie sich eigensinnig nicht hatte trennen wollen, riss sie die Augen auf.

»Weißt du«, raunte er ihr zu, und sie keuchte auf, als sein warmer Atem ihr Ohr traf, »als ich das Piercing das erste Mal gesehen habe, hat es mich voll umgehauen.«

Sie erschauerte. Dennoch haspelte sie heraus: »Warum?«

»Es sagt viel über dich, oder nicht?« Sie spürte seine Hände an ihrem Hinterkopf, spürte, wie er ihr das Haar im Nacken zusammennahm, um an die Akupressurpunkte gleich unterhalb des Ohrs zu gelangen. Seine Fingerspitzen fanden die empfindliche Stelle sofort. Naomi seufzte auf. »In aller Augen bist du ein wohlerzogenes Mädchen. Bist gekleidet wie ein wohlerzogenes Mädchen. Lächelst wie ein wohlerzogenes Mädchen.«

Ihr ungläubiges Lachen ging in einen kehligen, heiseren Laut über, halb Stöhnen, halb Seufzer. Phin war es, der ihrer Brust, ihrer Kehle diese Laute entlockte, mit jeder Handbreit Muskel, den er fingerfertig zu bändigen verstand. Naomis Haut brannte unter seinen kundigen Händen, beruhigt allein noch vom Massageöl.

Brannte unter Phins Berührung.

»Aber dann, eines Tages, bindest du die Haare zum Pferdeschwanz hoch, und …«, Naomis Muskeln erbebten unter der Berührung seiner Lippen. Phin liebkoste ihren Nacken; seine Zunge spielte mit dem kleinen Piercing aus Silber, leckten die Haut, die zwischen den beiden Perlen gefangen war.

Es schlug in Naomis Bauch ein wie ein Blitz. In ihrem ganzen Körper entlud sich dessen elektrische Spannung. Eine Elektroschockbehandlung hätte ihr nicht schneller den Atem nehmen können. »Herr im Himmel!«, keuchte sie. »Phin …«

»Nein.« Er legte ihr die Hand auf den Rücken und hielt sie so davon ab, sich zu ihm umzudrehen. Naomi krallte die Finger in den flauschig-weichen Schutzbezug der Massageliege. »Ich bin noch nicht fertig!«

»Verflucht noch eins!«, presste Naomi zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus. Gleich darauf kam das nächste kehlige Seufzen über ihre Lippen, ein heiserer Laut der Lust: Phins Lippen hatten ihre Schulter gestreift. »Phin, oh Gott, bitte, Phin!«

Sein Lachen geisterte über ihren Rücken. Überall auf ihrer Haut sträubten sich die feinen Härchen. »Und was bekomme ich dafür?«

»Was?« Naomi kämpfte um Selbstkontrolle, Kontrolle über ihren Körper, ihre Muskeln, wollte ihren Gliedern, sich, befehlen, von der Liege zu steigen. Aber Phin brauchte nur die Daumen in die schmalen Senken neben ihren Wirbeln zu setzen. Er brauchte sie nur mit diesem Druck ihr ganzes Rückgrat entlang bis hinunter auf Hüfthöhe zu ziehen, dort, wo der Muskelkater von Naomis Workouts saß, die die Frustration ihr diktiert hatte, und es war um sie geschehen. »Oh«, hauchte sie, »bitte mach das noch mal.«

Er gehorchte, erntete ein weiteres Stöhnen, einen weiteren kehligen Seufzer.

»Ein Date.«

»Was auch immer«, murmelte Naomi, ganz mit dem lustvollen Gefühl der Entspannung beschäftigt. »Geht klar.«

»Heute Abend.«

Die Augen halb geschlossen, die Arme locker neben ihrem Körper, kostete es sie einige Mühe, den Kopf zu heben und zu drehen. Im selben Augenblick legte Phin die Hand auf das herrliche Muskelspiel zwischen ihren Schulterblättern. Engelsflügel, so schön. »Hab nichts anzuziehen«, seufzte Naomi. »Für das Spa.«

Sie konnte sein Grinsen förmlich hören, als er entgegnete: »Wir treffen uns um vier an der Rezeption in der Lobby.«

Alarmsirenen schrillten in Naomis Kopf los. Ohne die übliche Agilität. Geradezu unwillig. »Moment, was?«

»Und, Naomi?« Eine ölige Hand schob sich in ihren Haarschopf, umfasste ihren Hinterkopf und verhinderte, dass Naomi sich bewegte, als Phin ihr ins Ohr biss. Zärtlich. Bedächtig.

Lust durchbohrte ihr ganzes Ich. Naomi keuchte auf.

»Trag dein Haar hochgesteckt.«

Als Naomi sich endlich wieder daran erinnerte, wie man atmete, war Phin fort. Fast lautlos fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Naomis Haut brannte vor Erregung, stand wie unter Strom. Spürbar floss dieser Strom an ihren Muskeln entlang. Ein Teil davon war das Massageöl, das ihr warm über die Haut kitzelte.

Das meiste aber war er.

Naomi rollte sich vom Rücken auf den Bauch und starrte blicklos auf das farbenfrohe Mosaik, das in die Decke eingebettet war – Strand, Meer und Himmel. Doch alles, was Naomi sah, war Phin. Sein Gesicht, das dieselbe Begierde verriet, die an Naomi riss und zerrte. Seine Augen, die dieselbe Lust herausschrien. Er wollte sie.

Aber er hatte sie nicht genommen. Nicht hier und jetzt.

Er hatte Pläne. »In Ordnung, Schlitzohr«, murmelte sie. Ihr Herzschlag fand sein Echo in der Lust, die die Hitze zwischen ihren Schenkeln zum Pulsieren brachte. Sie würde sein Spiel mitspielen.

Zeitlupenlangsam, mit einem genussvollen Erschauern, legte sie die Hände auf ihre Brüste und spreizte die Finger, umfasste die Brüste, hielt und wiegte sie. Sensibilisierte Haut, erregtes Fleisch, eine Handvoll. Naomi stellte sich vor, wie es wäre, wenn es Phins Hände wären, nicht ihre. Seine Lippen an ihren harten, aufgerichteten Nippeln.

Ja, sie würde sein Spiel mitspielen. Aber sie würde nicht fair spielen.