KAPITEL 3

Naomi schüttelte den Kopf und drehte sich um. Dann aber erstarrte sie mitten in der Bewegung. Die Tür auf der gegenüberliegenden Seite des weitläufigen Badebereichs schloss sich gerade wie in Zeitlupe.

Ihr Blick huschte zu den beiden Putzmäusen hinüber. Misstrauen füllte das Vakuum, das das abflauende Adrenalin in Naomi hinterlassen hatte. Eines der Zimmermädchen, sicher nicht älter als achtzehn, neunzehn, war angelegentlich dabei, zusammengekehrte Glasscherben in einen Abfalleimer zu füllen. Die andere, dunkelhäutig und mit kurz geschorenem braunem Haar, summte etwas vor sich hin. Besonders musikalisch konnte die Frau nicht sein, so falsch wie die Melodie herauskam. Mit einem Besen in der Hand verschwand Zimmermädchen Nummer zwei in der Sauna.

Niemand sonst hatte die Umkleidekabinen betreten, die als solche für weibliche Gäste deutlich gekennzeichnet waren. Jedenfalls hatte Naomi niemanden gesehen, und vorher war auch niemand dort gewesen.

Als wäre ein Pfeil von der Sehne geschnellt, warnten ihre Instinkte sie. Naomi setzte sich in Bewegung, rannte auf die Schwingtür zu den Kabinen zu. Genau da aber kam ihr der Teenie mit einem weiteren vollen Kehrblech in der Hand in die Quere.

«Weg da!”, fauchte Naomi missmutig. Aber es war schon zu spät.

Glassplitter flogen im hohen Bogen durch die Luft, als sie zusammenprallten. Wie in einem seltsamen Tanz wirbelte Naomi den Teenie herum, fing das Kehrblech im Flug auf und warf das unschuldige Putzutensil reflexartig der Kleinen gegen die Brust. Die ruderte wild mit den Armen, Plastik schlug auf Stein auf, und das Zimmermädchen stieß einen Schreckenslaut aus.

Naomi blieb nicht stehen, um sich die Bescherung anzusehen. Sie rannte zwischen bunt gekachelten Becken hindurch und stieß die Schwingtür zu den Umkleiden auf. Geschickt wich sie den Türflügeln aus, als diese in ihren gut geölten Angeln zurückschwangen und Naomi in den Rücken zu fallen drohten.

Automatisch schaute sie hinter den Türen nach versteckten Angreifern. Sie trat in den luxuriösen Umkleideraum und war bereit. Ein Angreifer, ein Kampf auf Leben und Tod, was auch immer.

Sie erhaschte einen Blick auf ihr eigenes Spiegelbild. Ihre eigenen misstrauisch zusammengekniffenen Augen musterten sie aus einem der reihum angebrachten Wandspiegel. Naomi bemerkte, dass sie einen hochroten Kopf hatte, und warf sich selbst einen bitterbösen Blick zu. Als ein Scharren und Rascheln, typische Bewegungsgeräusche, aus dem angrenzenden Raum an ihr Ohr drangen, riss sie ihren Blick von den Spiegeln los.

Sie hechtete durch den Türbogen, der den Ankleidebereich von den Duschen trennte. Das kurze Aufblitzen nahm sie gerade noch rechtzeitig wahr. Mit einem Fluch auf den Lippen ließ sie sich zu Boden fallen und rollte sich ab. Wie ein goldener Blitz schwirrte etwas unmittelbar über ihren Kopf hinweg – Sekundenbruchteile zuvor war genau dort noch ihre Stirn gewesen. Metall traf auf Widerstand und schlug an wie ein Gong. Eine der bauchigen Bronzeurnen, die als stilgerechte Vasen, gefüllt mit Blumen, an den Wänden verteilt waren, hatte es aus ihrer Nische gefegt – ein Geschoss der besonderen Art. Die Vase schepperte zu Boden und kullerte träge weiter, bis die vergoldete Einfassung einer edlen Glasduschwand sie stoppte.

Das Echo der Rollbewegung von Metall auf Stein erstarb. Es folgte Stille, scharf wie eine Rasierklinge.

Naomis Puls raste. Spürbar hing Gefahr in der Luft und brachte Naomis Herz dazu, wie wild in der Brust zu hämmern.

Zum Teufel, ja! Fast besser als Sex.

Genau so und nicht anders sollte eine Operation ablaufen.

Naomi stemmte sich hoch auf die Füße. Mit einem großen Schritt stieg sie über die Bronzevase, die sich noch träge wie ein langsam werdender Kreisel mit kaum wahrnehmbarem Geräusch um sich selbst drehte. »Los, zeig dich, du Weichei, mach schon!«, verlangte sie in spöttischem Ton. Ihre Stimme hallte von den gekachelten Wänden wider, traf ihr Ohr wie ein fernes Echo. Der Raum war nicht sonderlich groß; aber deckenhoch geflieste Wände trennten die verschiedenen Duschkabinen voneinander. Es gab unzählige Möglichkeiten, sich zu verstecken. Zu viele.

Spiegel schmückten die Wand hinter Naomi und reflektierten das Farbspiel, das offenkundig den Spa-Bereich des Nobel-Resorts wie ein Leitmotiv durchzog: hellgrün und lavendelblau.

Nichts um Naomi herum bewegte sich.

Aber wenn sie jetzt die Duschkabinen durchsuchte, würde sie die Tür ungedeckt lassen. Oder gab es vielleicht noch einen zweiten Ausgang aus dem Raum?

Naomis Finger zuckten in dem sehnsüchtigen Verlangen, das beruhigend zuverlässige Gewicht einer Waffe zu spüren.

Vorsichtig durchquerte die Jägerin den Raum. Der spitzen Absätze wegen klackten ihre Schritte besonders laut auf dem Steinboden. Jeder Schritt, der von den Wänden widerhallte, klingelte in den Ohren, als Naomi die Duschkabinen abschritt, um sie zu durchsuchen. Dann alle Ecken. Sie stieg über ein Häufchen Blumen hinweg und bemerkte, wie schnell der Rotschiefer das Blumenwasser aufsaugte.

Naomi war jetzt nah daran. Die Bronzevase war ja eben erst aus ihrer Nische geflogen gekommen. Wo zum Henker war der Scheißkerl also hin?

Jetzt hatte sie den Raum einmal umrundet und durchsucht. Wut bohrte sich wie Pfeilspitzen in ihre Brust. Es war niemand da. Keine Schritte waren zu hören, kein Atmen. Scheiße, verflucht noch mal, nichts war da als leise, sehr diskrete Hintergrundgeräusche: das konstante elektrische Flüstern der Versorgungsleitungen im Poolbereich. Es gab keinen anderen Ausgang.

Nur für den Fall der Fälle überprüfte Naomi die Gitter der Versorgungsschächte, die oben in jede Wand eingelassen waren.

Alle festgeschraubt.

Was zum Geier war ihr, der erfahrenen Jägerin, nur entgangen?

Auf dem Absatz machte Naomi kehrt und verließ den Raum durch den einzigen Aus- und Eingang. Jetzt durchsuchte sie systematisch den vorderen Ankleideraum. Sie fand nichts außer Reihen von Spinden, Ablagen und Spiegeln. Naomi drückte einen der Schwingtürflügel auf und beäugte misstrauisch die beiden Putzmäuse. Sie waren immer noch damit beschäftigt, im Poolbereich für Ordnung und Sauberkeit zu sorgen. Mit demselben vorsichtigen Argwohn, mit dem Naomi sie bedachte, erwiderte der Teenie ihren Blick.

»Ist irgendjemand hier rein oder raus?«, verlangte Naomi zu wissen. »Sagen wir: in den letzten fünf Minuten?«

»Nein, Ma’am«, beantwortete die ältere der beiden Naomis Frage. »Nur die Haustechnik.« Das Zimmermädchen deutete mit einer lässigen Handbewegung in Richtung Saunatür, wo Naomi ihre Antwort finden würde: Die Sauna war jetzt hell erleuchtet; ihr entströmte noch immer Dampf. Von drinnen waren Männerstimmen zu hören.

Naomi klappte den Mund zu und presste die Lippen aufeinander, ehe sie dem Drang, vor Frust loszubrüllen, nachgeben konnte. »Danke«, gelang es ihr herauszuwürgen.

»Ist alles in Ordnung? Geht es Ihnen gut?«

Nein, es ging ihr nicht gut, und nichts war in Ordnung, verdammt! Sie war so weit davon entfernt, sich in Ordnung zu fühlen, dass sie dem ersten Idioten, der ihr in die Quere käme, die Fresse polieren würde. Naomi setzte ein Lächeln auf. Sie musste sich derart dazu zwingen, dass ihr die Kiefer schmerzten. »Oh, mir geht’s prima. Übrigens: Die ganze Unordnung da tut mir leid.«

Die beiden wiegelten ab, sagten irgendetwas versöhnlich Klingendes. Naomi kümmerte das nicht weiter. Sie drehte sich um und ging. Sie wandte sich nach links. Mit raumgreifenden Schritten durchmaß sie die Schwimmhalle und suchte die weitläufige Anlage mit Blicken ab.

Zehn verschiedene Becken, ein Haupteingang.

Zwei Angriffe an ein und demselben Tag. Vielleicht steckte ein und derselbe Angreifer dahinter, vielleicht aber auch nicht. Ein Hexer. Ein Geist in Gestalt eines abtrünnigen Agenten.

Zum Teufel noch mal!

Viel mehr konnte nicht schiefgehen.

In der Privatsphäre des Familienflügels konnte Phin sich erlauben, die Maske fallen zu lassen. Die Hände, mit denen er sich durchs Haar fuhr, zitterten. Übelkeit krampfte seinen Magen zusammen, der mit Verspätung den durchlebten Aufruhr verarbeitete. Phin ging auf und ab, tigerte in der hübschen, elegant eingerichteten Suite ziellos von Zimmer zu Zimmer, während er das, was eben geschehen war, immer und immer wieder in Gedanken durchging.

Welche Ursache konnte die Fehlfunktion der automatischen Saunaverriegelung haben? Aus Sicherheitsgründen versiegelten sich die Türen doch immer erst nach Betriebsschluss. Niemals, absolut nie, geschah das während der Zeiten, in denen Gäste Zugang zum Wellnessbereich hatten! Warum hatten die Regler für die Dampfzufuhr verrückt gespielt? Vor drei Wochen, bei der monatlichen Inspektion der Anlage, war alles in einwandfreiem Zustand gewesen.

Und, o Gott, warum meldete sich keine von seinen beiden Müttern bei ihm? Beide waren gleich nach seinem Anruf in die Klinik geeilt. Seitdem hatte er nichts von ihnen gehört. Ging es Alexandra wieder besser? War sie in Ordnung?

Die Aufzugtür glitt auf, als er gerade zu seinem Com greifen wollte. Er fuhr herum. Lillians Gesichtsausdruck ließ Hoffnung, Angst und einen Überschuss an Energie in seinen Kopf steigen. Daher brachte er keinen Ton heraus und konnte nur wortlos in einer verzweifelt fragenden Geste die Hände heben.

Lillian Clarke hatte wunderschöne grüne Augen, durchsetzt von Gold. Jetzt blickten diese Augen müde drein. Aber ihr beruhigendes Lächeln war Antwort genug auf die unausgesprochene Frage. Die Angst, die Phin wie ein Stahlband die Brust zugeschnürt hatte, löste sich. »Alexandra geht es schon bald wieder gut«, versicherte Lillian ihrem Sohn mit fester Stimme. »Sie ist sehr erschöpft, aber sie erholt sich bereits.«

Phins verspannte Schultern sackten vor Erleichterung herab, und er ließ sich in den großen Ohrensessel fallen. »Herr im Himmel«, stieß er hervor, seine Stimme ein heiseres Flüstern.

»Das kannst du laut sagen. Grund genug, sich darauf einen zu genehmigen.«

Phin konnte nur nicken.

Lillian war groß für eine Frau, eine elegante Erscheinung. In ihrem Haar fand sich noch keine graue Strähne; es war immer noch honigblond und glänzte, als finge sich die Sommersonne darin. Meistens, wie auch jetzt, trug sie es zu einem strengen, aber dennoch aparten Bananenknoten aufgesteckt. Dazu benutzte sie nie etwas anderes als ganz normale Haarnadeln, keinen modischen überladenen Schnickschnack. Bis auf ihr Kinn, das ein kleines bisschen zu eckig war, besaß Lillian feine Gesichtszüge, die ihr Alter durchaus verrieten. Gesichtszüge, die energisch waren und etwas Aristokratisches an sich hatten.

Jetzt strahlte ihr hübsches Gesicht Gelassenheit und Ruhe aus. Sie goss zwei Fingerbreit einer rötlich-braunen Flüssigkeit in zwei Kristallgläser. »Hier«, sagte sie und drückte Phin ein Glas in die Hand.

Seine Finger reagierten instinktiv und nahmen das Glas. Aber mit einem Stirnrunzeln blickte Phin zu den Aufzugstüren hinüber. »Kommt Mutter denn nicht auch noch?«

»Sie wird wohl noch eine Weile bei Alexandra bleiben.« Lillian setzte sich auf die breite Lehne des Ohrensessels. Ihr graues, maßgeschneidertes Kostüm wirkte, als habe sie einen Tag am Schreibtisch verbracht, ohne das geringste Erschütternde erlebt zu haben. Phin nahm einen kleinen Schluck von seinem Brandy.

Der Weinbrand wärmte ihm alles von der Zunge bis zum Magen. Ein weiteres stählernes Band aus Angst, eines, das ihm den Magen zugebunden hatte, löste sich in Wohlgefallen auf.

Phin blickte auf die gerahmte Fotografie seiner beiden Mütter. Der Rahmen stand gleich neben ihm, auf dem Beistelltisch neben dem Sessel. Er hatte einen guten Blick auf die beiden so unterschiedlichen Frauen. Wo Lillian Kultiviertheit und grazile Anmut verströmte, entsprach Gemma Clarke mit ihren haselnussbraunen Locken, ihrem runden Gesicht und vollen Wangen, ihren warmen, braunen Augen ganz dem Bild der fröhlichen Hausfrau aus der Mittelschicht.

Es war einer von vielen Unterschieden, die Phin an seinen beiden Müttern bewunderte. Sein ganzes Leben über hatte er immer wieder die heimlichen, einander hastig zugeworfenen Blicke aufgefangen, die die beiden gern, genau wie hier auf diesem Foto, miteinander tauschten. Es war diese Vertrautheit, die Phin spürte und die ihm das Herz aufgehen ließ.

Seine Mütter waren seine ganze Welt. Die beiden hatten das Zeitlos aufgebaut. Sie hatten die Firma, die dahinterstand, gegründet, als die Stadt gerade einmal zwei Jahrzehnte des Wiederaufbaus hinter sich hatte. Als er zum Mann heranreifte, übertrugen sie ihm die Leitung des noblen Hauses. Nichts hatte ihn je so erschüttert, wie der beinahe tödliche Unfall eines ihrer Gäste heute.

»Ich gehe die Sache wieder und wieder durch«, gestand er plötzlich. Mit den Fingern umklammerte er das Glas. »Gleich als Erstes habe ich mir die Überwachungsprotokolle angeschaut.«

Die Hand, mit der Lillian ihm eine Locke aus der Stirn strich, zitterte kein bisschen. »Erzähl mir, wie es passiert ist, Liebling.«

Er seufzte, schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, ehrlich. Wir hörten Barbara schreien …«

»Wir?«

»Unser frisch eingecheckter Gast, Naomi Ishikawa. Sie war gerade bei mir, als wir den ersten Schrei hörten.« Phin nahm einen weiteren Schluck Brandy. Vor seinem geistigen Auge ließ er die Ereignisse noch einmal Revue passieren. Die asiatisch angehauchte Schönheit, deren Lächeln stets kühl und distanziert wirkte, hatte das Saunafenster mit einer Selbstverständlichkeit eingeschlagen, als sei es aus Papier. Als wüsste sie exakt, was zu tun sei. Wie es zu tun sei.

Die Szene war Phin noch so präsent, dass er bei dieser Erinnerung zusammenzuckte. Es musste schmerzhaft gewesen sein. Schmerzhafter, als Miss Ishikawa bereit gewesen war, sich anmerken zu lassen.

»Sie war bei dir, sagtest du gerade?«

Phin fing Lillians Blick auf, der ihn maß. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht; er hatte es nicht verhindern können. »Wie üblich habe ich mich einem neuen Gast vorgestellt, Mutter.« Und wie. »Da ich nicht abkömmlich war, als Miss Ishikawa eingecheckt hat, habe ich ihr nachträglich eine sehr verkürzte Einweisung in die Örtlichkeiten und Angebote unseres Hauses gegeben.« Sein Lächeln verschwand. »Als Barbara in der Not um ihre Großmutter zu schreien begann, ist Miss Ishikawa wie ein geölter Blitz losgerannt. Ich weiß nicht, wie der Unfall passiert ist …«, Phin seufzte, »ich weiß nur, dass die Saunatür sich nicht öffnen ließ und sämtliche Kontrollanzeigen zur Hitze- und Dampfregulierung bereits im roten Bereich waren.«

Lillian erhob sich und stellte ihr halb leeres Glas auf dem kleinen Beistelltisch neben dem Sessel ab. Mit steifen Fingern massierte sie sich den Nacken. »Hast du die Haustechnik gerufen?«

»Die sind schon informiert.« Auch Phin erhob sich und streckte und reckte sich. Sein erschöpfter Körper protestierte. »Aber ich gehe gleich wieder runter zu den Technikern, jetzt, wo ich weiß, dass Alexandra wieder auf die Beine kommt. Und was ist mit dir? Ist mit dir alles in Ordnung? Oder soll ich vielleicht noch hier bleiben?«

»Phinneas, du bist langsam wirklich zu groß, um noch in unserem Bett zu schlafen.«

Lillians trockener Humor brachte Phin dazu, ihr ein jungenhaftes Grinsen zu schenken. »Wenn du etwas brauchst …«

»Du bist nur einen Stock tiefer, ich weiß.« Lillian lächelte ihn an, und ihr Lächeln wärmte ihn wie die Sonne. »Du bist wirklich ein guter Junge.«

»Ich habe ja auch wunderbare Eltern.« Er beugte sich hinunter, um ihr einen Kuss auf die perfekt gepuderte Wange zu hauchen. Dabei atmete er Lillians Duft ein und fühlte sich sogleich getröstet: Rosenblüten und Mandelöl. Gemma hatte ihrer Frau unter anderem aus diesen Zutaten eine Salbe gegen ihre Arthritis gemischt. Der Duft war so vertraut, dass Bewunderung und Zuneigung für beide Frauen Phin das Herz wärmten. Sofort fühlte er sich geborgen, beruhigt. Seine Frustration und Sorge sank auf ein Niveau, das zu kontrollieren er zweifellos in der Lage war. »Sag Mutter, dass ich sie lieb habe.«

»Mach ich. Aber du solltest versuchen, dir ein bisschen Ruhe zu gönnen, ja?«

Die Antwort, die er gab, war so unverbindlich wie irgend möglich. Dass Lillians Blick ihm folgte, während er ihr den Rücken zukehrte, um zum Fahrstuhl hinüberzugehen, wusste er. Er spürte förmlich, wie dieser Blick an Schärfe gewann, als er den Fahrstuhl kommen ließ und einstieg, kaum dass sich die Türen öffneten.

Phin blieb gar keine andere Wahl. Er musste weit mehr tun, als nur die Ursache für die Fehlfunktion der Sauna herausfinden. Er musste vor allem eine Möglichkeit finden, das Versagen der Sicherheitsvorkehrungen einer Frau zu erklären, die wohl die Klientin mit den besten Verbindungen zu den Schaltzentralen der Macht war, die je im Zeitlos abgestiegen war.

Alexandra Applegate war weit mehr als Lillians beste Freundin. Sie war auch die Großmutter des gegenwärtigen Ordensmeisters des Dominikanerordens und eine der hingebungsvollsten Dienerinnen und Mäzeninnen der Einzigen Heiligen Kirche. Ihre ausgezeichneten Verbindungen hielten Phin die Behörden vom Hals.

Größtenteils zumindest.

Da war immer noch der bedauerliche Umstand, dass die Kirche so manchem Lebensentwurf ablehnend gegenüberstand. Dass zwei Frauen im Herzen der zivilisierten Teile der Stadt gemeinsam ein Kind großzogen, als seien sie ein ganz normales Elternpaar, traf auf wenig Gegenliebe bei den Kirchenoberen. Teilweise war es Alexandras tiefe Verbundenheit zu Lillian und damit auch zu Gemma geschuldet, dass die Behörden das Zeitlos nicht ins Visier nahmen. Jedenfalls nicht ständig.

Sicherlich war die richtige Menge Steueraufkommen, das sich aus dem Zeitlos vereinnahmen ließ, ebenso hilfreich.

Phin massierte sich die Schläfen, als der Fahrstuhl am Ziel angekommen war. Die Türen glitten auf. Er trat hinaus in eines der vielen im Stil unaufdringlichen Foyers, zu denen nur die Belegschaft Zugang hatte. Einen Augenblick später gab das stumm geschaltete Com an seinem Gürtel Vibrationsalarm.

»Phin Clarke«, meldete er sich, kaum dass er es am Ohr hatte.

»Mr. Clarke, der Sicherheitsdienst hier.« Durch die Leitung drang blechern Eric Barkers Stimme. Zugleich klang Barker ungewohnt ernst. »Ich gehe gerade die Sicherheitsaufzeichnungen durch. Wir haben noch ein weiteres Problem, Sir.«

Phin verdrehte die Augen gen Himmel. »Selbstverständlich, Barker, was auch sonst. Worum geht’s?«

»Eigentlich sollte morgen ein neues Paket geliefert werden. Aber die Auslieferung wurde gestoppt.«

Phin verlangsamte seinen Schritt, blieb schließlich stehen. »Bitte sagen Sie mir, dass Sie einen zu viel gehoben haben und mich nur auf den Arm nehmen.«

Barker arbeitete bereits lang genug für Phin, um zu wissen, wie er diesen Satz einzuordnen hatte: Phin war es absolut ernst damit. »Wenn ich während der Arbeitszeit trinken würde, Sir«, erwiderte er ruhig, »hätte ich Sie eingeladen, sich mit mir zusammen einen zu genehmigen. Es tut mir leid, aber an der Sache gibt es nichts zu deuteln. Wir haben einen unserer Kontrollpunkte verloren.«

»Welchen?«

»Nummer zwei.«

Verdammt! Phin blickte auf die Uhr. »Es ist zu spät für Alternativen. Nummer zwei kontrolliert den längsten Abschnitt der Route.«

»Ersatz ist bereits avisiert. Aber es dauert natürlich eine Weile. Zuerst muss er lokalisiert werden.«

»Haben Sie es schon im Pussycat Perch versucht?«

Einen Herzschlag lang herrschte Stille. »Auf welcher Ebene, Sir?«

»Untere Mittelebenen«, antwortete Phin. Dann fügte er in ironischem Ton hinzu: »Allerdings mehr unten als mittig. Peter mag das Gedränge dort in den Spelunken.«

Während Phin wartete, hörte er eine Tastatur klappern. Dann sagte Barker, hörbar erleichtert: »Ich schicke jemanden hin. Sollen wir den Transport beschleunigen, Sir?«

»Angesichts dieser Lage?« Phin rieb sich das Gesicht. »Wir haben keine andere Wahl.«

»Dürfen wir das einfach so entscheiden, Sir?«

Phins Antwort klang genauso ironisch wie eben: »Wir sind die Operation, Mr. Barker, schon vergessen? Wir können tun und entscheiden, was uns beliebt.«

»Jawohl, Sir. Ich bringe über die üblichen Kanäle die Nachricht in Umlauf, wir würden eine Lieferung früher als üblich erwarten.«

Verflucht. Zur Hölle damit, verdammt! Diese Sorte spät herausgegebener Nachricht könnte die Hälfte seiner Kontakte im Untergrund in Panik versetzen. Aber dagegen ließ sich nichts mehr machen. »Sammeln Sie Maia und ihre Familie ein!«, gab Phin dem Sicherheitsmann Anweisung. »Ich möchte außerdem, dass Diegos Familie zur Ladung gehört, und falls noch Platz sein sollte, quetschen Sie Mary Beth auch noch rein!«

»Das ist …«

»… ein ziemliches Risiko, ja, ich weiß.« Himmel noch mal, hatten sie überhaupt noch eine Wahl? Mit der Aufmerksamkeit, die das Zeitlos nur allzu bald auf sich zöge, mussten sie so viele der Flüchtlinge, die unter seinem Schutz standen, wie möglich in Sicherheit bringen. »Mary Beth ist seit drei Monaten von ihrem Vater getrennt. Ich möchte, dass die beiden wieder zusammen sein können, Mr. Barker.«

»Was ist mit Diego? Seine Familie haben wir erst zur Hälfte auftreiben können.«

»Wen haben wir bereits?«

»So wie’s aussieht, haben wir seine Tante und Nichte in der Wäscherei. Sein Neffe arbeitet als Gärtner. Uns fehlen immer noch seine Mutter und sein Bruder, aber leider …« Barkers Stimme verlor sich.

Phin stützte die Stirn in die Hand. »Raus damit, Barker.«

»Niemand hat seinen Bruder gesehen, seit die Missionare in der Umgebung von Diegos alter Wohnung herumgeschnüffelt haben.«

»Verflucht noch mal!« Phin ballte die Faust, ließ die Hand aber sinken, ehe er sich dazu hinreißen ließe, etwas Dummes zu tun. Wie etwa die Faust in die Wand genau vor ihm zu versenken. »Wir können es uns nicht leisten, noch mehr Zeit zu verschwenden. Suchen Sie zusammen, wen Sie haben, und schicken Sie sie los! Diego wird …« Was? Sich damit abfinden, dass die Kirche seinen Bruder aufgespürt und wahrscheinlich umgebracht hatte?

Wohl kaum. Phin schloss die Augen. »Legen Sie los, Mr. Barker.«

»Jawohl, Sir.«

Phin beendete die Verbindung. Mit einer geübten Bewegung klippte er das Com zurück an den Gürtel. Währenddessen blickte er auf eine der vielen nur dem aufmerksamen Beobachter auffallenden Tapetentüren, die sich überall im Labyrinth aus Vestibülen und Empfangshallen auf den Etagen des Zeitlos verteilten. Ein winziger, unsichtbar platzierter Schalter gewährte mit seiner genialen Elektronik Zugang zu einem geheimen Tunnel, der zu einem ganzen Netz gehörte, das die Wände des Nobel-Resorts durchzog.

Wenn alles gut gegangen wäre, hätten sie in knapp dreizehn Stunden eine kleine Gruppe von Menschen durch diese Tunnel geschleust.

Geschmuggelt wie illegale Ware. Oder Sklaven.

Wenn es nach der Kirche ginge, waren sie gewissermaßen beides.

Stattdessen würden in etwa zehn Minuten elf Menschen durch das Netz aus Geheimtunneln geführt: das schmutzige kleine Geheimnis des Zeitlos. Wenn die Kirche, nein, wenn irgendjemand – außer der sorgfältig ausgewählten Kontaktpersonen – je von Phins illegaler Untergrund-Transportlinie erführe, so wäre dies das Aus für das Luxus-Resort.

Mitsamt seiner Familie.

Sie alle kannten das Risiko. Es war allemal wert, es einzugehen.

Nur nicht, wenn sie jemanden verloren. Herr im Himmel! Schon vor fast sechs Wochen hatte man Diego herausgeschmuggelt. Die Kirche war ihm bereits dicht auf den Fersen gewesen. Phin selbst hatte ihm in die Hand versprochen, seine Familie zu ihm zu bringen.

Jeder Verlust an Menschenleben riss eine tiefe Wunde.

Mit einem Seufzer wandte sich Phin ab und ging auf die elegante Tür zu, die ihn zurück in das zentrale Atrium des Zeitlos bringen würde. Als Erstes nämlich musste er sich jetzt um die Wartungsarbeiten in der Sauna kümmern. Er musste herausfinden, was zur Hölle schiefgegangen war. Er brauchte etwas, irgendetwas von Substanz, das er den Gästen erzählen könnte.

Nicht zu vergessen: der Kirche.

Er stieß die Tür zum Innenhof auf und blieb gleich unter dem Türsturz stehen. Seine Augen mussten sich erst an das gedämpfte Licht gewöhnen, das im Park herrschte. Wie immer legte sich das besänftigende Raunen fließenden Wassers auf seine Seele und seinen unruhigen Geist wie eine leichte, wohltuende Ruhe versprechende Bettdecke zur Nacht.

Der sorgsam gepflegte Park, so klein er auch war, entlockte Phin ein Lächeln.

Hoch hinauf zu der Lichtkuppel über ihnen streckten die Bäume ihre breiten Kronen. Die altmodischen Laternen, die sanfte Lichtkegel auf die Gehwege warfen, hüllten die grünen Riesen in geheimnisvolle, der Fantasie Flügel verleihende Schatten. Eichen mit roten, goldenen und welken braunen Blättern teilten sich ihr Gartenquartier mit Kirschbäumen, deren Zweige und Äste längst nackt waren, und mit immergrünen Kiefern und kahlen Ahornbäumen. Eine Trauerweide mit knorrigen Ästen wie verkrüppelten Armen kauerte am Ufer des künstlichen Sees und labte sich gierig an der Feuchtigkeit der Erde dort.

Der Atrium-Park hatte mehr als nur einen von der Stadt ausgelobten Preis gewonnen. Die ruhigen Plätzchen im Schatten, die sich überall entlang der gewundenen Pfade fanden, hatten so manches Liebespaar vor allzu neugierigen Blicken verborgen. Vor Zeiten hatte das Gartenparadies auch einem kleinen Jungen reichlich Gelegenheit geboten, überschüssige Energie in seinen Bergen aus herabgefallenem Laub loszuwerden. Hier fühlte sich dieser Junge, längst erwachsen, genauso zu Hause wie in den Gebäuden, die den Park umgaben.

Es machte Phin wütend, dass nichts als eine dumme Panne im technischen Ablauf das alles hier gefährden sollte. Ein entschlossener Zug legte sich um seinen Mund. Dann aber, einen Sekundenbruchteil später, erstarrte Phin. Im Schatten unter den tief hängenden Zweigen der Trauerweide bewegte sich etwas. Jemand.

Schwarzes Haar. Lange, schlanke Beine.

Phin zögerte. Ihn fröstelte ganz plötzlich. Seine Nerven spielten verrückt, als er Naomi Ishikawas schlanke Gestalt durch den Lichtfleck, den eine Laterne in den Schatten warf, hindurchgleiten sah. Sie hockte sich an das Ufer des künstlichen Sees und tauchte die Finger in das klare Wasser. Im Dämmerlicht war ihre Jeans kaum zu erkennen. Aber Phin brauchte nicht viel Licht. Selbst bei diesen Lichtverhältnissen ließ sich bemerken, wie fest die Muskeln von Miss Ishikawas Oberschenkeln waren – vor allem, wenn man bereits Hand daran gelegt hatte. Gut ausmodulierte Muskeln traten deutlich hervor, als Miss Ishikawa ebenso grazil wie gewandt auf den hohen Pfennigabsätzen ihrer Stiefel am Seeufer entlangbalancierte.

Von sich selbst überrascht musste Phin feststellen, dass er die Treppen in Richtung See hinunterging und dem gepflasterten Weg folgte, der sich durch den Miniatur-Wald wand. Miss Ishikawa neigte leicht den Kopf in seine Richtung, als hätte sie ihn kommen hören. Aber sie wandte sich nicht um.

»Was denn? Nicht dabei, sich Pressemitteilungen aus den Fingern zu saugen?« Ihr Ton war kühl, kalt wie das Wasser, das ihre Fingerspitzen umspielte. Phin verdrehte die Augen, hob den Blick hinauf zur Glaskuppel, ehe er dem plötzlichen Drang nachgab, ihr eine kurze, im Ton harsche Antwort an den Kopf zu werfen. Die Worte dafür ballten sich in seiner Kehle bereits zusammen.

Naomi Ishikawa hatte einer Frau das Leben gerettet, die er sehr mochte. Er schuldete der millionenschweren Erbin etwas anderes, als eine schnippische Reaktion.

»Wenn Sie meinen, dass ich mich ungebührlich betragen habe, tut mir das leid«, erwiderte er stattdessen. Das Wasser raunte, umspülte mit leisem Plätschern Laub, das von den Bäumen gefallen war, und Naomi Ishikawas Finger.

Naomi lachte leise. Der raue Laut ließ Phins Blick ihren Rücken entlangwandern, die blassen, nackten Schultern entlang, die im Dämmerlicht unter der Weide das wenige Licht einfingen und reflektierten. Die Schultern bewegten sich, rasch und nur einmal. Eine Art Schulterzucken. »Ich bin bereit, das als Entschuldigung zu akzeptieren, Mr. Clarke.«

»Phin«, verbesserte er sie.

Mit einer fließenden Bewegung, deren Eleganz und Selbstverständlichkeit ihn schlucken ließen, erhob sich seine Gesprächspartnerin und wandte ihm das Gesicht zu. Von der Wut, die noch vorhin darin zu lesen gewesen war, war nichts mehr zu spüren. Ihr Blick war distanziert, kühl, verhalten, aber verbarg ansonsten ihre Gefühle. »Der alten Dame geht es also wieder gut, ja? Ich nehme an, Sie wären nicht hier, wenn dem nicht so wäre.«

»Es geht ihr gut, ja. Sie braucht nur Ruhe, um sich ganz zu erholen, Miss Ishi…«

»Naomi.« Es kam zu forsch heraus. Sie verzog den Mund, als hätte sie es selbst bemerkt. Es war nur die Andeutung eines Lächelns. »Einfach nur Naomi.«

Anspannung zog sich nach und nach durch Phins ganzen Körper. »Naomi«, wiederholte er. »Übrigens: danke. Wenn Sie nicht gewesen wären …« Er wusste nicht, wie er ausdrücken sollte, was ihm auf der Zunge lag. Wie ein Kloß im Hals verdammte ihn die aufsteigende Angst zur Wortlosigkeit. Seine Stimme verlor sich in der Stille, die zwischen seinem Gegenüber und ihm herrschte.

Naomi schüttelte den Kopf. »Dankbarkeit ist nicht nötig.« Geschmeidig wie eine Raubkatze trat sie genau hinter Phin auf den schmalen Pfad. Mit derselben Leichtigkeit, mit der sie seinen Dank abgewehrt hatte, schüttelte sie sich das Wasser von den Fingern. Ein Regen aus winzigen Tröpfchen verteilte sich in der Dunkelheit um Phin und die dunkelhaarige Schöne.

Ohne nachzudenken, ja, ohne selbst zu begreifen, weshalb er es tat, schnellte seine Hand vor und packte Naomi am Arm. Sie sollte sich nicht einfach wie ein Geist an ihm vorbei in die Dunkelheit schleichen.

Naomi erstarrte mitten in der Bewegung. Sie neigte den Kopf; ihre veilchenblauen Augen blickten überrascht auf seine Hand hinab. Nachdenklich.

Entschieden zu unbekümmert, verdammt!

Phin wünschte sich, sie würde Unruhe zeigen, nervös werden. Er war sich nicht einmal sicher, warum er diesen Wunsch hatte. Vielleicht war es der Ärger darüber, was mit Diegos Bruder passiert war. Vielleicht war es das aufgestaute Adrenalin, das seit den Ereignissen des Abends leise in seinem Blut vor sich hin schlummerte.

Vielleicht war es wegen ihr, Naomi Ishikawa.

Phin zögerte nicht, wollte nicht über die Hintergründe nachdenken, über die Folgen. Seine Finger schlossen sich noch fester um ihren Arm. »Naomi.«

»Kurze Ansage, Freundchen: Ich bin keine Ihrer bezahlten Escortladys«, sagte sie. Ihre Stimme war rau, leise, gelassen. Ihr Blick zuckte hinauf zu seinen Augen, brannte sich in sie hinein. »Grob umgehen können Sie mit anderen, nicht mit mir. Daher schlage ich vor, Sie lassen los.«

Ihr spöttischer Unterton zerstörte problemlos seine fragile Selbstkontrolle. Wut hätte die sexuelle Anziehungskraft, die diese Frau auf ihn ausübte, zerreißen sollen. Aber zu Phins eigener Überraschung stachelte ihr Trotz ihn weiter an, reizte seine Männlichkeit schmerzhaft wie ein Dorn im Fuß. Sein Blick gewann an Schärfe.

Ihr Blick hingegen bedachte ihn mit noch mehr Spott, forderte ihn heraus.

Scheiß drauf. »Auf Anhieb«, antwortete Phin sanft, »fallen mir ein halbes Dutzend Möglichkeiten ein, mit Ihnen … umzugehen.«

Er wartete nicht auf ihre nächste Herausforderung. Er wartete nicht darauf, ob Naomi Ishikawa das Angebot ablehnte, das er nicht klar ausgesprochen hatte. Dennoch klang es unüberhörbar als Unterton im Gesagten mit. Langsam dämmerte ihr, was er gemeint hatte, welche unausgesprochenen Absichten er hegte. Man konnte es in ihren Augen lesen, dass sie begriff. Die Erkenntnis sickerte in die dunklen Tiefen hinter ihren Augen wie Sirup in Wasser. Naomi verstand es, genau einen Herzschlag bevor Phin ihren Arm losließ und ihr die Hand unters Kinn legte.

Langsam wandte sie sich ihm zu, Stück für Stück, ein Grad nach dem anderen. Jedes winzige Stück machte Phin atemloser.

Irgendwo in einer verborgenen Region seines Gehirns – in einer Region, die sich nicht zur Behauptung männlicher Ansprüche auf die Brust trommelte wie ein Silberrücken – befand Phin, dass er Naomis Stiefel mochte. Die Absätze machten ihre Trägerin vier Zoll größer und brachten sie auf Augenhöhe mit ihm. Er brauchte nur ein klein wenig den Kopf zu neigen, ganz ohne jede Mühe, und schon konnte er mit seinen Lippen Naomis Mund berühren.

Sie wehrte sich nicht dagegen. Halb rechnete Phin damit, sich gleich einen rechten Haken einzufangen. Er bereitete sich darauf vor, sich unter dem Schlag wegzuducken, ja, er ließ Naomi sogar genug Bewegungsfreiheit, um dafür auszuholen. Sanft berührten seine Finger mehr ihr Kinn, als dass sie es hielten. Es war nur der Hauch einer Berührung, mehr nicht.

Und Naomi wich ihm nicht aus, sie blieb stehen. Schockiert von dem, was er tat, ließ sie ihn in der Dunkelheit, die sie beide umfing, einfach gewähren. Nach und nach, willentlich. Mit seinen Lippen liebkoste er ihre, drang aber nicht tiefer in ihren Mund ein. Er wollte sich ihr nicht aufdrängen. Aber dann öffneten sich ihre Lippen, gerade in dem Augenblick, in dem seine Oberlippe ihre volle Unterlippe streifte. Irgendwo tief in ihrer Brust löste sich ein unterdrückter, gedämpfter Laut, stieg mit dem Atem ihre Kehle hinauf.

Ungestüm war dieser Laut. Weiblich. Musik in Phins Ohren.

Er war nicht der Einzige, der sich hier auf dünnem Eis bewegte.

Naomis Finger glitten am Kragen seines Hemdes entlang und krallten sich hinein. Phin neigte den Kopf ein wenig mehr zur Seite und eroberte ihre Lippen in einem neuen Kuss. Diese Lippen schmeckten fantastisch gut, perfekt, überließen nichts dem Zufall, nichts der Fantasie. Phin kostete von ihnen und ließ seine Zunge in die Wärme vorstoßen, die ihn dahinter willkommen hieß. Er forderte ein, wozu Naomi ihn verlockte. Er wusste, dass sie sich von ihm angezogen fühlte, es bloß hinter einer Fassade aus kühler Distanz verborgen hatte.

Naomi erwiderte den Kuss, ihre Zunge spielte mit seiner. Dabei entschlüpfte ihr wieder dieser kehlige, ungebändigte Laut. Er schlug direkt in Phins Magen ein, an der Stelle gleich oberhalb seiner Männlichkeit, die sich vor Erregung aufrichtete. Sie hätte ebenso gut direkt danach greifen können. Phin verfing sich in Naomis Hingabe wie in einer Schlinge, die sich zuzog, bis er blind vor Verlangen war.

Er zog Naomi nicht näher an sich, wahrte das wenige an Distanz zwischen ihnen. Ihre weiblichen Kurven an seinem Körper zu spüren wäre Folter pur, würde ihn erschüttern – und diesen Schock wollte er nicht riskieren. Er genoss den Kuss, ihre Lippen waren ein Fest für ihn. Mit ungekannter Sicherheit wusste er, dass ihn dieser Kuss allein für verdammt lange Zeit bis in seine Träume hinein verfolgen würde.

Damit musste er sich begnügen. Weiter zu gehen wagte er nicht.

Naomi Ishikawa war zerbrechlicher, als sie ihre Außenwelt normalerweise spüren ließ. Auch das wusste Phin mit nie gekannter Sicherheit. Er wusste es in dem Augenblick, in dem sie die Lippen geöffnet und sich auf ihn, das Spiel seiner Zunge, eingelassen hatte. Für ihn war es leicht zu erkennen: an der Art, wie ihr der Atem stockte, wie sich ihre Augen unter den geschlossenen Lidern bewegten, während er sie erkundete, so wissend, so lustvoll.

Phin löste sich aus dem Kuss und entfernte sich, um ihr in die Augen zu sehen, die sie langsam öffnete. Bis hinunter in die Zehenspitzen erregte es ihn, zu sehen, wie, als dunkle Woge in ihren Augen sichtbar, ihre Lust erwacht war.

Er ließ Naomis Kinn los. Seine Hände glitten ihre bloßen Arme entlang und genossen, dass seine Berührung Naomi schaudern ließ. Seine Finger umschlossen ihre Handgelenke und lösten dann ihre Finger sanft von seinem Hemdkragen.

Ganz langsam leckte sie sich über die perfekt geschwungene, volle Unterlippe und hinterließ dort eine feuchte Spur. Phins Blut pulsierte heiß durch seine Adern.

»Oooh…kay«, murmelte Naomi. Allmählich fand sie in die Wirklichkeit zurück. Ihr Blick wurde wach, lauernd. Die Vorsicht und das Misstrauen kehrten zurück und kämpften gegen die Lust an, die Naomi hatte erröten lassen.

Phins Grinsen wurde breiter. »Ich wollte das nur klarstellen«, sagte er und gestand sich endlich ein, wie sehr ihn Naomi Ishikawa vom Augenblick ihrer ersten Begegnung an gereizt hatte. Versuchung pur. Mit dem Daumen strich er über ihre Unterlippe.

Er spürte Naomis Anspannung. Sie trat einen Schritt zurück, fragte leise: »Was denn klarstellen?«

»Ich brauche kein Geld, wenn ich eine Frau will.«

Er erwartete, dass sie verärgert reagieren würde, vielleicht sogar empört. Doch Naomi überraschte ihn. Ihr Lachen perlte über ihre Lippen, wärmte ihre exotischen Gesichtszüge wie Sonnenschein. Ganz plötzlich wünschte sich Phin, sie würde ihn noch einmal überraschen.

Wieder und wieder, am liebsten möglichst oft.

»Gute Nacht, Phin«, sagte sie belustigt und entfernte sich von ihm.

Einmal mehr entlassen. Ein schiefes Lächeln huschte über Phins Gesicht, während er beobachtete, wie sie sich umdrehte und davonging. Seine Augen hingen an dem kleinen, in engen Jeans verpackten festen Hintern und den schmalen Hüften, die sie schwang. Jeder federnde Schritt war genau bemessen, entschlossen, sicher. Keine unnütze Energieverschwendung, kein Zögern.

Phin beobachtete Naomi, wie sie drei Stufen auf einmal nahm, um zügig vom Atriumniveau hinauf zum Treppenabsatz zu steigen. Außerdem fehlte ihrem Gang die Kultiviertheit, die grazile Geziertheit, die er bei einer Erbin erwartete, der man in einer Schule für Höhere Töchter den letzten Schliff verpasst hatte.

Phin stieß mit dem nächsten Atemzug ein raues Lachen aus. Mit den Fingern fuhr er in den Kragen, der ihm plötzlich zu eng zu werden schien und unter dem sich die Hitze staute. Er spürte, wie ihm diese Hitze hinauf in die Wangen stieg, und konnte es nicht verhindern. Entschlossen wandte er sich ab und ging in Richtung Wellnessbereich davon. Fehlfunktionen, die zu Beinahe-Todesfällen führten, Erbinnen, die absolut umwerfend waren, und die drohende Verletzung eigener unverbrüchlicher Lebensregeln.

Das Leben konnte sich nicht noch weiter von dem entfernen, was normalerweise Phins Alltag war.

Bis Naomi sich noch einmal zu ihm umdrehte, die Schlüsselkarte lässig zwischen Zeige- und Mittelfinger geklemmt. »Nur so nebenbei«, rief sie ihm über die Distanz hinweg zu, »Sie sollten die Aufzeichnungen der Überwachungskameras überprüfen. Ich wette einen Dollar, dass Sie dort eine Erklärung dafür finden werden, was schiefgegangen ist.«

Phin maß sie lange und aufmerksam mit Blicken. Eine seiner Augenbrauen wanderte langsam in die Höhe. »Wollen Sie mich damit fragen, ob wir Sicherheitskameras haben, Naomi, oder hoffen Sie zu erfahren, dass wir keine haben?«

Sie neigte den Kopf zur Seite. »Das kommt darauf an. Wenn ich mich, sagen wir mal, in einer der Örtlichkeiten hier, in Gegenwart eines bestimmten besonders wortgewandten Managers alles andere als schicklich benehmen wollte, würden wir dann …«, ihr Grinsen gewann an Intensität und Sinnlichkeit, »also: würden dieser selbstredend hypothetische Mann und ich dann gesehen werden, egal wohin wir uns verziehen?«

Begierde schoss in Phins Leistengegend. Das Blut, das soeben noch sein Gehirn versorgt hatte, ging denselben Weg. »Nicht«, brachte er etwas mühsam heraus, »… überall.« Nah genug an der Wahrheit. Er kannte ein oder zwei tote Winkel.

Oder drei oder vier oder … Herr im Himmel, steh mir bei!

In Naomis Augen blitzte es, reinstes, sinnliches Veilchenblau. Da glitten hinter ihr die Fahrstuhltüren auf. »War nur so eine Frage«, sagte sie leichthin.

Phin fuhr sich mit den Händen über das Gesicht, als sich die Fahrstuhltüren schlossen und ihr Lächeln verschluckten.