KAPITEL 8

Bzzzzt!

Blut verwandelte sich in milchiges Mondlicht, Traumwelt bei weit aufgerissenen Augen in waches Bewusstsein, als das Com-Gerät in Naomis schlaffer Hand eine Warnung summte. Sie stützte sich hoch auf einen Ellenbogen und war schon dabei, den Ohrstecker an seinen Platz zu fummeln, ehe ihr Verstand voll wieder da war.

»Was?«, knurrte sie, ihre Stimme belegt und verschlafen. »Zum Teufel, wie spät ist es?«

In der Leitung herrschte Schweigen. Dann ein leises Hüsteln. »Erst zehn.«

»Scheiße.« Naomi ließ sich Gesicht voran ins Kissen fallen. Sie inhalierte Lavendel- und Waschmittelduft. Gleich darauf rollte sie sich von der Matratze. Zwar landete sie auf ihren Füßen, musste sich aber am Nachttisch abstützen. Das Tischchen wackelte bedenklich, besonders die einsame Lampe darauf. »Scheiße, was ist los? Worum geht’s, verdammt?«

»Ah, mies drauf?«

»Jonas«, fauchte Naomi und griff mit der freien Hand nach der teuer aussehenden Lampe. »Ich reiß dir den Kopf ab! Hast du mich gehört?! Ich brech dir deinen dürren Hals wie ein Streich…« Naomi runzelte die Stirn. »Wo ist Eckhart?«

»Geht ein paar Hinweisen nach.«

»Hinweisen, die meinen Auftrag betreffen?«

»Nee, hat nichts mit deinem Ding zu tun. Ganz anderer Fall. Oder er hat gelogen und ist bei einem Mädel«, legte Jonas nach; kurz wurde seine Erheiterung spürbar. Bei Jonas Stone waren selbst über Com sämtliche Zwischentöne hörbar. Nur Jonas hatte eine derart klare Tenorstimme.

Niemand außer Jonas konnte bei der routinemäßigen Kontaktaufnahme so unbeschwert klingen.

Naomi rieb sich den letzten Rest Schlaf aus den Augen. Die rauen Körnchen Schlafsand wegzureiben half kein bisschen, die Albträume aus ihrem Bewusstsein zu löschen. »Na, großartig«, murmelte sie und wusste, dass sie sich zickig anhörte und war dabei voll in ihrem Element. »Warum rufst du mich an?«

»Warum schläfst du schon?«

Weil sie ein gottverfluchter Feigling war, deshalb. Naomi schürzte die Lippen. »Weil ich den ganzen gottverdammten Tag damit verbracht habe, hübsch zu sein!«

»Ähm, tja.« In der Leitung summte es, ansonsten herrschte Schweigen. Dann ein: »Das heißt?«

»Vergiss es.« Naomi drehte sich um und musterte das in gedämpftem Licht liegende Schlafzimmer mit zusammengekniffenen brennenden Augen. »Ich bin hoch aufs Zimmer, um mich umzuziehen. Es hat mich wohl einfach umgehauen. Ich war ziemlich geschafft.«

»Du?« Es war eine sehr vorsichtig gestellte Frage. Sehr einfühlsam und sanft. »Geht’s dir denn gut?«

Verdammter Scheiß!

Von allen in der Mission, unter all den Missionaren, die eher gingen als kamen, war Jonas Stone derjenige, der mehr sah als nötig. Der mehr wusste, als er sollte.

Es kotzte sie dermaßen an. Bei Jonas hatte sie irgendwie immer das Gefühl, als habe er sie … im Griff. Der Kerl ging auf Krücken und hatte trotzdem Naomi West im Griff!

»Mir geht’s gut«, versicherte sie kurz angebunden. »Ich war nur müde. Aber jetzt, wo du mich eh geweckt hast, kann ich auch wieder an die Arbeit gehen.«

»Wie wär’s dann, wenn du mit dem Bericht rüberkämst?«

Naomi bekämpfte den Drang, sich wieder in das nächstbeste Kissen zu werfen und sich nicht mehr zu rühren. Eine Woche so liegen bleiben – das wäre was. »Fantastisch«, murmelte sie und berichtete Jonas dann von Alexandra Applegate.

Jonas’ Finger, die eben noch, am Klackern leicht zu identifizieren, über die Tastatur geflogen waren, hielten mitten in der Bewegung inne. Er stieß einen überraschten Pfiff aus. »Na, das habe ich nicht erwartet!«

»Magst du mir vielleicht erklären, warum mir niemand gesagt hat, was des Ordensmeisters Großmütterchen hier macht?«, grollte Naomi. »Wäre eine verschissen sachdienliche Info gewesen, oder nicht?«

Während Naomi sprach, reckte sie sich und ging zum Fenster hinüber. Aus alter Gewohnheit näherte sie sich ihm lautlos und vorsichtig, obwohl sie genau wusste, dass sie ein paar hundert Meter über allem war, das durch das reflektierende Glas der Fensterscheiben hindurchsehen könnte.

»’tschuldigung, mein Fehler.« Dass seine Stimme so reuevoll klang, nahm ihr den Wind aus den Segeln. Sie verzog das Gesicht. »Aber ich schwöre zu Gott, Nai, ich habe nicht gewusst, dass sie im Zeitlos abgestiegen ist. Ich komm nicht an die Gästedaten ran.«

»Warum nicht?«

Jonas seufzte. »Der ganze Block sitzt auf einer eigenen geschlossenen Datenschleife. Nichts geht rein, nichts geht raus. Das Zeitlos greift auch nicht auf das Netz städtischer Datenautobahnen zu.«

»Scheiße, echt?« Naomi presste den Daumen aufs linke Auge, bis der Schmerz in ihrem Kopf nachließ und nur noch ein dumpfes Pochen blieb. »Diese Operation ist die verschissenste …« Sie unterbrach sich. Aus dem Augenwinkel hatte sie ein kurzes Flackern wahrgenommen. »Warte mal!«

»Was ist denn los?«

»Klappe!« Sie zog sich ein Stück vom Fenster zurück, langsam und vorsichtig, um dann, die Wand im Rücken, aus dem Fenster siebzehn Stockwerke in die Tiefe zu spähen.

Sie kniff die Augen zusammen, um besser zu sehen. »Da tut sich was am Aufzug.«

Am verräterischen Klackern erkannte Naomi, dass Jonas’ Finger wieder eilig über die Tastatur flogen. »Welcher von den Aufzügen?«

»Der zentrale Zugangsaufzug. Das protzige Ding, mit dem man von hier aus zum Straßenniveau kommt.« Naomi rückte näher an die Scheibe heran und stieß mit der Atemluft einen lästerlichen Fluch aus.

»Was ist?«

»Von hier oben seh ich Null. Jonas, verflucht, sag mir, die haben mir ein Fernglas unter den unnützen Schickimicki-Kram gepackt!«

»Ich kann dir sogar was Besseres bieten.« Stolz prickelte durch die Leitung wie Sektperlen. »Schau in der Patchwork-Tasche nach.«

»Wo?«

»Deine Tasche, Nai! Such die mehrfarbige Tasche heraus, die sich bei deinem Gepäck befindet, mach schon!«

»Die in allen Regenbogenfarben, was?«, grummelte sie und schnitt eine Fratze, als Jonas eine Bestätigung brummte.

Rasch und unauffällig zog sich Naomi vom Fenster zurück, stolperte über Kleidungsstücke und Schuhe, die beim Umziehen achtlos auf dem Boden gelandet waren. Naomi hatte bisher einfach keine Zeit gefunden, anständig auszupacken und aufzuräumen. Auch niemand anderes hatte ihr diese Aufgabe abgenommen. Abgesehen von einem übereifrigen Hexer, respektierten im Zeitlos alle penibel die Privatsphäre der Gäste.

Auf irgendeinem Teil aus schlüpfriger Seide rutschte Naomi aus und fing den Sturz gerade eben noch mit einer Hand und beiden Knien ab, statt auf der Nase zu landen. Der Kehle der Hexenjägerin entschlüpfte ein unwilliges Grunzen.

»Was ist jetzt wieder los?«

»Nichts!« Sie durchwühlte den Stapel von nutzlosem Zeug, der ihr Gepäck war, nach der relativ großen, klobigen Tasche, die sie geschworen hatte, niemals mit sich herumzutragen. Das Ding funkelte praktisch wie ein Weihnachtsbaum, denn es bestand aus mehrfarbigen metallisch glänzenden Stoffflicken. Leicht im Dunkeln zu finden. Naomi zog die Tasche aus dem gedankenlos im Zimmer aufgetürmten Stapel Gepäck, öffnete sie und durchsuchte ihr Innenleben.

Eine Brieftasche oder etwas in der Art, ein Seidenschal, Sonnenbrillen – Herrgott noch mal, wie viele Sonnenbrillen brauchte ein einziges weibliches Wesen? Unter all dem Zeugs, endlich ein kleines, stabiles Etui. »Was denn? Meinst du das?«

Der Tonfall von Jonas’ Antwort sprach dafür, dass er die Frage lustig fand. »Auch wenn mir nicht gegeben ist, jetzt bei dir in deiner Suite zu weilen, Nai, wage ich dennoch zu behaupten, dass du weißt, was ein Fernglas ist.«

Naomi öffnete das Etui und runzelte die Stirn. »Das Ding ist ja winzig.«

»Man kann es auf Tag- oder Nachtsicht einstellen«, gab Jonas zurück, »und es passt trotzdem noch in jede Clutch.«

»Klatsch? Was soll das denn wieder sein?«

»Herrgott, Nai, probier’s einfach aus!«

Naomi hastete zum Fenster zurück und betete darum, nicht schon zu spät zu sein. Als sie das kleine Fernglas vor die Augen hob, veränderte sich die Welt schlagartig: Alles war glasklar und messerscharf zu sehen. »Meine Fresse!«

»Großartig, nicht wahr?«

Naomi konnte es nicht verhindern: Sie grinste über das ganze Gesicht, als sie jedes noch so ferne Detail tief unter sich auszumachen vermochte. Eine Überfülle an optischen Signalen, die aufflammten; scharf umrissene Konturen in Grün, die jedes identifizierbare Objekt umgaben, während Naomi von einem zum anderen Zielobjekt wechselte und in Augenschein nahm. Am unteren Rand des Sichtfelds lief ein Textband entlang. Jedes anvisierte Ziel wurde von der Elektronik des Fernglases fein säuberlich katalogisiert.

»Die Signalverarbeitung ist natürlich sehr eingeschränkt, aber der eingebaute Chip wird die meisten erfassten Objekte identifizieren können«, erklärte Jonas selbstgefällig. »Na, Zuckerschnute, wer hat dich zum Knuddeln gern?«

»Jeder.«

Jonas schnaubte, dass es in Naomis Ohrstecker überlaut widerhallte. Währenddessen peilte sie mit dem praktischen kleinen Ding von Fernglas das Eingangsniveau unter sich an. Die Aufzugtüren öffneten sich, gaben die gesamte Eingangsbreite der Kabine frei, als sie zurückglitten.

»Was siehst du?«

Naomis breites Grinsen verschwand augenblicklich. Eine schlanke Gestalt trat aus dem Aufzug, über jeder Schulter eine schwere, große Tasche.

»Naomi?«

»Den Liftboy«, sagte sie gedehnt. »Netter Junge. Er hat Gepäck dabei.«

Jonas schnalzte mit der Zunge. »Klingt nach einem spät anreisenden Gast.«

»Sieht ganz danach aus, ja.« Naomi beobachtete weiter, hielt das Fernglas mit einer Hand, mit dem Zeigefinger der anderen korrigierte sie, wie der Ohrstecker saß. »Hör zu, diese ganze Scheißoperation ist viel vertrackter, als wir dachten.«

»Wirklich? Warum? Was ist passiert?«

Wut prickelte über ihre Haut, und alle feinen Härchen an den Armen stellten sich auf, als Naomi leise sagte: »Magiebesessene, das ist passiert.«

Unten auf Eingangsniveau verließ eine weitere Gestalt den Aufzug. Eine Frau, wie Naomi dank des Fernglases feststellen konnte. Der Neuankömmling hatte ein Tuch um den Kopf geschlungen und trug trotz der späten Abendstunde eine Sonnenbrille auf der Nase, so groß, dass sie vom Gesicht verdeckte, was irgend möglich war. Die Frau rauschte den Gehweg entlang, und Naomi verzog das Gesicht, als sie die Sorte selbstverliebten, betont weiblich zierlichen Gang wiedererkannte, den sie schon mehr als einmal aus unmittelbarer Nähe hatte bewundern dürfen.

Also ein Gast, okay. Eine der Super-Wichtigen aus der Crème de la Crème der Gesellschaft.

»Moment mal«, hörte sie Jonas durch den Ohrstecker sagen, »Magiebesessene? Ist das dein Ernst?«

»Ja.« Kaum mehr als ein angewidertes Grunzen. »Man hat mich bereits erwartet, kaum dass ich eingecheckt hatte. Ein Hexer hat sich an mich rangeschlichen und mich mit seiner Magie belegt, da war ich noch gar nicht richtig hier oben angekommen.«

»Carson?«

»Nein. Jemand anderes.« Naomi hob wieder das Fernglas an die Augen. »Hätte er mich doch gleich kalt gemacht.«

»Mensch, sag’ so was nicht!«

»Mhhm.« Naomi kniff die Augen zusammen und folgte mit dem Blick der Frau und ihrer Begleitung. Vier weitere Männer kamen aus dem Aufzug, drei von ihnen mühten sich mit noch mehr Koffern und Taschen ab. Himmel, und die lieben Kollegen hatten geglaubt, sie hätten Naomi mit Gepäck satt ausstaffiert.

»Du hast den Kerl erwischt, oder?«, bohrte Jonas nach.

»Nein«, antwortete Naomi. »Ich hatte ihn schon festgenagelt, tja, aber er hat echt alles gegeben. Und während ich mich wieder vom Boden aufgerappelt habe, hat er einen sauberen Abgang hingelegt.«

Jonas sog hörbar die Luft ein.

Naomi ließ ein Lächeln aufblitzen, richtete das Fernglas auf den gepflasterten Weg. Der Weg endete vor den einladend breiten Türflügeln der Lobby. Sie öffneten sich, und das Licht aus dem hell erleuchteten Gebäude drang als breiter Kranz vom Eingang aus in die Dunkelheit. Dennoch erkannte Naomi auf der Schwelle eine wartende Gestalt. Vielleicht war es der Empfangschef. Halt, Empfangsdame, der Silhouette nach.

»Wie geht denn das Zoomen bei dem Ding?«, fragte sie. Geflissentlich hatte sie die unterdrückte Ungeduld in Jonas’ Tonfall überhört. »Ich muss sehen, wer da vor der Lobby steht.«

»Heiliger Strohsack, Naomi!«, entfuhr es Jonas, die Anspannung in seiner Stimme war überdeutlich. »Da greift dich in dem Nobelschuppen ein Hexer an, und du lässt ihn auch noch entwischen?«

Naomi zögerte einen Herzschlag lang, ehe sie einräumte: »Na ja, zumindest vorerst. Er hat mich kalt erwischt und die Chance genutzt. Aber sehr viel länger kann er das Versteckspiel nicht mehr treiben. Was ist nun mit dem Zoom?«

»Da ist eine Schiebetaste oben auf dem Glas. Aber jetzt mal ernsthaft«, bedrängte Jonas sie, »und verarsch mich ja nicht: Bist du okay?«

»Ja.« Der Zeigefinger, mit dem sie das Glas absuchte, fand sein Ziel: Naomi bewegte den Metallschieber. Das Gerät surrte beinahe lautlos, und keinen Lidschlag später füllte das Gesicht des Empfangskomitees die Linsen. Naomi speicherte die Frau in ihrem Gedächtnis ab. Blondes Haar, groß, elegant gekleidet und mit einem Lächeln auf den Lippen.

Naomi ließ ihre Schultern kreisen, aber die Verspannung in ihrem Nacken blieb. »Der Andreas-Schild hat gut funktioniert. Trotzdem ist der Hexer nah genug an mich rangekommen, um mich fast außer Gefecht zu setzen. Hab nur ’ne Beule am Hinterkopf. Verdammt schlampige Arbeit. Also: Hat Eckhart dir gesagt, was nun mit meiner Waffe ist?«

Am anderen Ende klackte Jonas hörbar die Zähne aufeinander. Es war ein vertrauter Laut. »Naomi …«

Ihr Blick zuckte zu dem Com hinüber, das sie auf dem Bett hatte liegen lassen. »Ich bin immer noch Missionarin, Stone«, sagte sie kurz angebunden.

In ihrem Ohrstecker hörte sie Jonas tief Luft holen. Dann, mit einem Seufzer, gab er nach. »Ja, Eckhart hat mir gesagt, dass das mit der Waffe in Ordnung geht. Ich werde sehen, was sich machen lässt. Wir können nicht zu dir rein, also musst du zu uns raus, um sie in Empfang zu nehmen.«

»Wär aber kein Problem, einen von euch hier reinzukriegen.«

»Geht nicht. Wir haben unsere Befehle.«

»Verfluchte Affenscheiße,« grummelte Naomi. Politik! »Okay, ich lass mir was einfallen.« Unten trat die Frau in den Lichtkranz, der sich von der erleuchteten Lobby in die Dunkelheit hineinfraß. Naomi beobachtete, wie die Empfangsdame den ankommenden Gast willkommen hieß. Sie nahm die Frau mit der lächerlichen Sonnenbrille bei beiden Händen und hauchte rechts und links neben ihren Wangen Küsse in die Luft.

Wie Naomi dieses affektierte Getue hasste! Das war die erste Lektion, die sie von ihrer Mutter gelernt hatte: Ihre Mutter fürchtete kaum etwas mehr, als dass ihr schmutziges Kind ihr das Make-up verschmieren könnte.

»Na, damenhaft wie immer«, meinte Jonas gedehnt. »Hast du in dem Schuppen sonst noch was mitbekommen?«

»Nein.« Naomi hatte nicht vor, sich über den Geist in der Umkleide zu unterhalten. Keine Details, ehe sie nicht echte Details zu bieten hatte. Abgelenkt betrachtete sie die neongrüne Lichtspur um jede der Gestalten, die unten vor der Lobby stand: Concierge, Gast, Kofferträger. Wie bei einem sich ständig ändernden Computerdisplay verschmolzen die neogrünen Identifizierungsränder ineinander und nahmen ihr die Sicht. Als Naomi das Glas senkte, schaltete es sich automatisch ab.

Gleich darauf aber hob sie es wieder an die Augen. In ihrem Sichtfeld hatte der Prozessor etwas identifiziert. »Was Besseres als ›Lebensform‹ ist nicht drin?«

»Wieso? Das ist korrekt.«

»Herr im Himmel, was bist du nur für ein Nerd, Jonas! Warum zum Teufel bin ich …. Scheiße!« Gerade eben war sie noch belustigt gewesen. Aber jetzt schoss eine Faust aus reinem Adrenalin vor und traf Naomi mitten in die Brust. »Wo zum Henker ist er hin?«

»Wer?«

»Drei Kofferträger.« Naomi streckte den Rücken durch, als sie, das Glas nur in einer Hand, mit den Okularen den Gehweg absuchte. »Drei, zum Teufel! Aber wo ist der vierte?«

»Naomi? Was ist los? Wovon redest du?«

In der Nordost-Ecke der schwer einsehbaren künstlichen Landschaft des Atrium-Parks bewegte sich etwas. Naomi fluchte. Eine Tür, die Naomi nie zuvor bemerkt hatte, schloss sich sacht und schnitt dabei den Streifen Licht ab, der die Tür gerade eben noch verraten hatte. »Dieser Wellness-Tempel, dieser ganze Schickimicki-Klotz«, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen mühsam hervor. »Ich hasse dieses Ding, verflucht! Hier gibt es Geheimtüren in den Scheißwänden.«

»Hat ein Gast gerade eine benutzt?«

»Nein.« Sie schwenkte das Fernglas zurück auf die Frau und den Hofstaat aus Zeitlos-Personal, der sie begleitete. »Wahrscheinlich hat der neue Gast noch nicht einmal was davon mitbekommen, dass eines der zahlreichen Helferlein die Fliege gemacht hat. Ich zieh dann mal los und versuche, den schlüpfrigen kleinen Kerl aufzustöbern. Mal sehen, was der so alles zu berichten weiß.«

»Klar, mach das«, bestätigte Jonas. »Aber sei vorsichtig.«

Siebzehn Stockwerke unterhalb von Naomis Suite nahm der neue Gast die Sonnenbrille ab und ließ diese in ihrer Handtasche verschwinden. Dann wandte die Frau sich mit einem Megawatt-Lächeln an die Empfangsdame.

»Besorg mir bloß diese Baupläne, bevor … o mein Gott!« Naomi versagte die Stimme.

Das Licht aus der Lobby fing sich in dem weißen Schal der Frau, wurde von ihm reflektiert und gab dem Gesicht des späten Gastes liebevoll Kontur. Naomi verriss das Fernglas. Nur weg damit von diesem Gesicht!

»Naomi?« Jonas’ Stimme in ihrem Ohr, der Tonfall war angespannt. »Naomi, was ist los? Was geht da vor?«

»Ich …« Die Lungen wollten ihr den Dienst versagen. Als presse ein Schraubstock ihren Brustkorb zusammen.

»Naomi!«

Scheiße! Verfluchte Scheiße, sie bekam keine Luft! »Ich melde mich wegen der Waffe«, presste sie hervor. Sie legte auf, schnitt Jonas mitten in der Frage das Wort ab. Gleichzeitig versuchte sie verzweifelt, Luft in ihre Lungen zu pumpen. Zitternd hob sie die Hand mit dem Fernglas.

Das warme Licht aus der Lobby, pures Gold, schrumpfte zu einem schmalen Lichtstreifen, als sich die Flügeltüren hinter dem letzten Mann aus Abigail Ishikawas Gefolge schlossen.

Auf der Matratze hinter Naomi vibrierte das Com-Gerät, als wolle es vom Bett springen. Sie ignorierte Jonas’ Versuch, sie zu erreichen. Sie riss sich den Ohrstecker aus dem Ohr und schleuderte ihn auf die Tagesdecke, die zerwühlt am Fußende des Bettes lag. Zitternd, jeden Muskel bis zum Zerreißen gespannt, rutschte Naomi an der Wand unterhalb des Schlafzimmerfensters zu Boden und rang nach Luft. Da hockte sie, zusammengesunken, und zog die Knie an die Brust.

Sie war hier. Abigail Ishikawa, leibhaftig, in Fleisch und Blut. Vierundzwanzig Jahre nichts anderes als eine fest unter Verschluss gehaltene Erinnerung, und jetzt war Naomis Mutter ins Zeitlos gekommen. Wo sie, Naomi, war.

Aber diese Mutter kam nicht zu ihr, ihrer Tochter.

Sie war nie zu ihr gekommen. Niemals.

Gott allein wusste, welchen Namen diese Frau momentan benutzte.

Die Lichter der nächtlichen Stadt sickerten durch die Scheiben des Schlafzimmerfensters – Lichtfinger, die nach den unordentlichen Falten der Tagesdecke griffen, nach der Unordnung aus Kleidungsstücken und modischem Schnickschnack auf dem Boden.

Naomi war blind für all das. Für all das hier, jetzt, wo ihre Augen brannten vor blindem Zorn, vor Erinnerungen, die sie nie hatte behalten wollen.

Ein Feuer, das lustig in einem mit blank poliertem Mahagoni eingefassten Kamin prasselte. Ein Sims, den nicht ein einziges Foto zierte. Daran erinnerte sich Naomi genau. Es gab keine Fotos einer glücklichen Kindheit. Keine Beweise dafür, dass die Familie, in die sie geboren worden war, je existiert hatte.

Der rote Feuerschein erhellte jede Handbreit des gemütlichen, von Bücherwänden gesäumten Arbeitszimmers. Katsu Ishikawa war kein belesener Mann, aber die Bücher umgaben ihn mit der Aura von Kultiviertheit. Es machte ihm Freude, das Alter der Worte zu spüren, die in diesen Büchern standen. Er wusste, dass diese Bücher die Kunde von Zivilisationen bewahrten, die längst untergegangen waren.

In den Augen einer Fünfjährigen war Katsu Ishikawa der klügste Mensch auf der ganzen Welt. Der einzige Mensch, der sie wahrhaftig liebte. Der sie verstand.

Der einzige von zwei Elternteilen, der sie gewollt hatte.

Und die Frau, die Naomi Ishikawa nicht gewollt hatte, hatte gerade die Lobby von New Seattles nobelstem Spa und Schönheitstempel betreten, dem führenden Haus am Platz.

Naomi presste die Faust gegen den Mund, um die aufsteigende Welle aus schierer Panik niederzukämpfen. Mühsam sog sie Luft durch die Nase, starrte in die Dunkelheit des Schlafzimmers, das so gar nicht mit dem Penthouse von ehedem vergleichbar war.

Es spielte keinerlei Rolle.

Naomi atmete aus; ganz langsam ließ sie die Luft aus ihren Lungen entweichen. Dann atmete sie ein. Tief. Tiefer. Dann atmete sie aus.

Es spielte keinerlei Rolle. Ein. Aus.

Ihre Haut prickelte, als stächen Myriaden von Nadeln auf sie ein. Das Prickeln tanzte über Naomis Gesicht, ihre Hände. Sie atmete ein und aus, bemühte sich, Luft zu bekommen, kämpfte darum.

Naomi ließ den Kopf rücklings gegen die Wand knallen. Die Wand erbebte, die Fensterscheibe zitterte. »Nein!«, stieß sie hervor und knirschte mit den Zähnen. Schmerz strahlte von Prellung und Hämatom am Hinterkopf in alle Richtungen aus, überschwemmte alle Synapsen, die Naomis Verstand in Hysterie verwandeln wollten. Sie biss fest die Zähne zusammen und ballte die Fäuste.

Dann stemmte sie sich hoch auf die Füße. Keine Zeit für einen Zusammenbruch. Das Zimmer um sie herum, alles drehte sich. Die Wände kamen auf sie zu und engten sie ein, nahmen ihr die Luft, während Naomi mit aller Kraft versuchte, ihr seelisches Gleichgewicht wiederzugewinnen. Ihre Fingerspitzen kribbelten, und immer noch fühlte sich die Haut auf ihrem Gesicht an, als liefen Ameisen darüber. Naomi legte den Arm wie zum Schutz über die Augen und ging mit steifen, unsicheren Schritten hinüber zum Aufzug.

Konzentrier’ dich, verdammt!

Der Mann, der durch die Geheimtür verschwunden war, war etwa ein Meter siebzig groß. Wiegen dürfte er – Naomi zwang ihr Gehirn zu arbeiten – wohl um die fünfundsiebzig Kilo. Ihre Fingernägel bohrten sich in die Handflächen, während sie die neutral gehaltene Verkleidung der Aufzugtüren anstarrte. Vielleicht auch nur knapp siebzig Kilo.

Schmerz wütete in ihrer Brust. Naomi achtete nicht darauf.

Der Kerl, der sich eben davongemacht hatte, war ein Gepäckboy gewesen. Oder zumindest jemand, der vertraut genug wirkte, um sich unbemerkt unters Personal zu mischen. Carson? Nein, der war größer.

Der Hexer? Immerhin stimmten Größe und Gewicht in etwa. Hatte er überall im Haus Zugang?

Konnte es sein, dass alle in diesem scheißnoblen Goldkäfig mit drinsteckten?

Steckten sie mit Carson unter einer Decke oder mit den Magiebesessenen?

Handelte es sich vielleicht um dieselbe Decke, war es vielleicht ein und dasselbe Ding, das hier gedreht wurde? War Naomi gerade über ein ganzes Nest von im Untergrund lebenden Hexen und Hexern gestolpert? Über einen neuen Zirkel vielleicht?

Scheiße, verflucht noch mal!

Sie schluckte den schalen Nachgeschmack von Angst hinunter, der ihr die Kehle hinaufkroch. Bis in die Halsschlagader spürte sie ihren in plötzlicher Panik schnelleren Puls, da, gleich unter der Haut, und biss die Zähne zusammen.

Eine Minute. Nur eine Minute, dann würde sie den Aufzug rufen. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war ein anderer Gast, der sich einfühlsam nach ihrem Befinden erkundigte. Und Gerüchte streute.

Gerüchte, die schließlich auch Phin Clarke zugetragen würden.

Viel zu leicht projizierte ihre Erinnerung sein Gesicht vor ihrem inneren Auge, dunkle Augen wie schmelzende Schokolade, süß wie die Sünde. Allein der Gedanke an Phins Lächeln beruhigte ihre in Aufruhr geratenen Nerven wie eine körperliche Liebkosung. Naomi presste die zu Fäusten geballten Hände in die Augenhöhlen, bis ihre Augen schmerzten.

Es war dumm gewesen, Phin so zu reizen. Ihn herauszufordern. Ihn an sich heranzulassen. Zu erlauben, dass seine glatte Ausstrahlung ihre Selbstkontrolle einriss, bis sie nur noch in reiner Wonne schwelgte.

Das war dumm gewesen, ja. Aber geirrt hatte sie sich gewiss nicht. Die Familie Clarke würde ums Verrecken nicht ihr florierendes Unternehmen riskieren, um Magiebesessenen Unterschlupf zu gewähren. Oder Alexandra Applegate unter ihrem Dach zu ermorden. Phin Clarke war dafür verdammt zu verliebt in seine Designer-Anzüge.

Gerade glitt die schlichte Edelstahltür mit dem typischen Zischen auf. Immer noch benommen fischte Naomi, ganz auf Automatik, nach der Schlüsselkarte für Gäste, die im Bund ihrer zerknautschten Hose steckte.

Erst da ging ihr auf, dass sie den Aufzug gar nicht gerufen hatte.

Fast gleichzeitig brannte sich ein Feuerkreis aus gleißend blauem Licht in die Haut auf Naomis Unterleib.

»Himmel ….!« Instinktiv warf sie sich zur Seite, brachte geschmeidig und flink Distanz zwischen sich und den stämmigen Kerl, der sich aus der Aufzugkabine heraus ihr entgegenwarf. Seine Fingernägel kratzten über ihre Haut, als sie ihm gerade noch entwischte.

Aber er brauchte nicht zuzupacken, um ihr Schmerzen zuzufügen.

Naomi bleckte die Zähne zu einem Raubtierlächeln. »So was aber auch, du hier!«

Der Hexer streckte die schwielige Hand nach ihr aus, und Naomi konzentrierte sich ganz auf die sich schwach abzeichnenden, braunen Linien, die in die Handfläche des Kerls tätowiert waren. Magie setzte die Luft in Brand. Unsichtbar sprang der Feuerfunken auf Naomi über und raste wie mit tausend Stacheln über ihre Haut. Unmittelbar darauf flammte der Andreas-Schild in Reaktion auf den Angriff auf und schlug ihn zurück. Gleißend blau sickerte Licht aus dem Netzstoff von Naomis Hose.

Das Tattoo brannte wie die Hölle, als es die Hexerei abwehrte. Die Schmerzen waren unerträglich.

Mit gefletschten Zähnen pirschte sich der Hexer an. Das zwang Naomi, rücklings ins Schlafzimmer zurück zu stolpern. Dort war weniger Platz. Naomi wollte den Kerl in einer Ecke festgenagelt wissen. »Wer zum Teufel bist du?«, fragte sie grimmig.

Der Hexer ließ ihr keine Zeit, ihm auszuweichen. Er drang weiter auf sie ein, kam näher. Der Abstand schrumpfte Meter um Meter. Viel zu schnell musste Naomi zurückweichen, viel zu schnell, um das Gleichgewicht zu halten. Sie versuchte, einen seitlichen Ausfall, versuchte trotz der Scheißmagie, die das verfluchte braune Tattoo in der Handfläche des Hexers wob, einen klaren Gedanken zu fassen.

Der Hexer stürzte sich auf sie; sie wich nach hinten aus. Zu langsam. Er rammte ihr eine flache Hand in den Leib, und Naomi krümmte sich zusammen. Schmerz, überall Schmerz.

Ihr Kopf. Der Andreas-Schild. Ihr Rücken, als sie gegen die scharfe Kante der schweren Schiebetür zwischen Wohn- und Schlafzimmer prallte. Sie sah nur noch Sterne, als der Schmerz in ihrem Schädel explodierte wie eine Supernova.

Als sich die große Hand vorn in ihr Sport-Top krallte, biss Naomi die Zähne zusammen. »Hexenjägerin«, knurrte der Hexer und riss sie mit sich, fort von der Schiebetürkante, die sie aufrecht gehalten hatte. Seine Augen füllten Naomis ganzes Blickfeld, wütend zusammengekniffene blaue Augen. Er trieb sie vor sich her, hinein ins Schlafzimmer. »Das Einzige, was dich noch am Leben hält, ist das beschissene Tattoo, das ihr alle tragt!«

Naomi fletschte die Zähne. »Glaub’ ruhig weiter dran.«

»Wird gleich keine Rolle mehr spielen.«

Sein Haken hatte die Durchschlagskraft einer verfluchten Panzerfaust.

Als die Faust auf ihr Gesicht traf, riss es Naomi von den Füßen. Ein scharfer Schmerzstoß zuckte ihr quer über die Nase, als die so gut versorgte Wunde mit der Leichtigkeit von zerkochtem Fleisch zerfaserte. Der Schwung des Faustschlags trug Naomi bis hinüber auf die Matratze. Blut spritzte über die Maulbeerseide der eleganten Tagesdecke. Die Hexenjägerin prallte auf der Matratze auf und federte zurück.

Die Magie, die auf ihr lastete wie ein Fluch, ebbte ein wenig ab, nur für den Bruchteil einer Sekunde. Naomi fiel zu Boden, rollte sich ab und sprang auf die Füße, ehe der Hexer sie erneut packen konnte. Gleißend blaues Licht flackerte durch das edle, in gedämpftes Licht getauchte Interieur der Suite. Es spiegelte sich in den tiefblauen Augen des Hexers.

»Was willst du von mir?«, fragte Naomi. Zeit schinden. Sie musste ihn unbedingt von dem Teppich herunterbekommen.

Verdammt schwierig, da Blutflecken wieder rauszubekommen.

Der Hexer streckte Naomi die erhobene Hand entgegen. Wieder füllte das zornige Summen der Magie Naomis Kopf.

»Was ich will, spielt keine Rolle«, antwortete der Hexer kurz angebunden. »Der Boss sagt, du gehörst erledigt.«

»Der Boss?«

Der Hexer spreizte die Finger. Einen Sekundenbruchteil lang glaubte Naomi zu sehen, wie die unscheinbar braunen Linien seines seltsamen Tattoos glutrot aufblitzten.

Der Druck auf ihren Kopf nahm so zu, dass Naomi die Augen zusammenkneifen musste, um trotzdem noch etwas zu sehen. »Wer hat dich geschickt?«

»Wer hat dich geschickt?«

Verflucht! Naomis Knöchel verfingen sich in den achtlos fallen gelassenen Kleidungsstücken. Mit einem Griff nach dem Knauf der Badezimmertür konnte sie den Sturz abfangen. Sie blinzelte den Schweiß fort, der ihr in die Augen rann. Blut lief über ihre Oberlippe; es schmeckte warm und metallisch.

»Oh-kay«, sagte sie gedehnt und verzog den Mund zu einem rasiermesserscharfen Lächeln, so dünn war es. »In Ordnung.« Sie würde dieses Spiel keine Sekunde länger spielen als unbedingt nötig.

Der Kerl war beileibe nicht der mächtigste Hexer, dem sie je gegenübergestanden hatte.

»Wenn du mich haben willst, du Arschloch, dann komm und hol mich.«

Wie ein Bulle stürzte sich der Hexer auf sie. Echte Vollidioten versuchten es immer so.