KAPITEL 17

»Entschuldigung!« Cally sprang zur Seite und drückte sich flach an die Wand, als Naomi an ihr vorbeistürzte. »He, wo wollen Sie …«

Naomi gab ein Knurren von sich. Vielleicht aber auch nicht. Ihr Verstand schrie die Warnung heraus, grollte Cally an. Aber alles, was Naomi mit Sicherheit wusste, war, dass sie kampfbereit herumfuhr. Bereit, zu verletzen.

Abwehrend hob der Rotschopf die Hände, ein Schutzwall, der ganz leicht zu durchbrechen wäre, ließe Naomi erst ihre ungezügelte Wut an ihm aus. »Ganz ruhig«, beschwichtigte Cally sie, in einem Ton, als habe sie einen tollwütigen Hund vor sich. »He, alles ist okay!«

Kehlig und heiser war der Fluch, den Naomi ihr entgegenspie, während sie sich mit all ihrem Gewicht gegen die Tür zum Parkdeck warf, von deren Existenz sie erst an dem Abend mit Phin erfahren hatte. Das Krachen hallte durch das ganze Parkdeck und schnitt Cally das Wort ab.

Naomi sah immer noch rot vor Wut. Die Autos auf dem Parkdeck verschwammen vor ihren vor Augen. Es waren schimmernde, auf Hochglanz polierte Wagen. Naomi sah in ihnen nur die perfekten Fluchtfahrzeuge. Sie blieb nicht stehen, um ihre Chancen abzuwägen. Es kümmerte sie nicht. Adrenalin überschwemmte ihren Körper, ließ ihr Herz rasen, bis Naomi nach Luft rang.

Sie musste unbedingt hier raus und nach draußen. Sie brauchte wieder eine Scheißwaffe, sie brauchte 

Sie musste einfach nur hier raus, verflucht! Dem ganzen Mist entkommen. Sich selbst. Ihm. Einfach allem.

Einen aus Phins sagenhafter Sammlung von Sportwagen aufzubrechen und kurzzuschließen, war eine leichte Übung. Viel zu schnell kurvte Naomi wie eine Wilde im Blutrausch durch das Parkdeck. Darin hallte zigfach verstärkt das Echo von Motorengeheul und Reifenquietschen. Allein ihr Werk.

Wohin zum Teufel sollte sie fahren?

Sie packte das Lenkrad fester, während sie den Wagen mit ausbrechendem Heck viel zu schnell um eine Kurve driften ließ. Als die Sportkarre mit kreischenden Rädern in den Verkehr auf der ersten größeren Straße hineinschoss, ganz wie Naomis wilde Wut, mit der sie das Gaspedal durchtrat, es sich wünschte, plärrten sie von allen Seiten Autohupen an. Wagen scherten aus, um Kollisionen zu vermeiden, spritzen zu allen Seiten weg wie Wasser, in das man hineinschlägt. Naomi spürte nur die Enge um ihre Brust. Das halsbrecherische Tempo, mit dem sie fuhr, die pure PS-Stärke des Motors, der das Tempo zufrieden schnurrend hergab, waren alles, was sie momentan interessierte.

Loszuheulen hätte nur zu einem Unfall geführt.

Und sie sollte verdammt sein, wenn sie sich wegen der Dummheit eines Mannes zu Tode führe!

Er liebte sie. Was zum Teufel wusste der Kerl denn schon? Er liebte eine reiche Erbin. Leck mich, verflucht! Sex und Liebe, warum zum Henker mussten nur so viele Menschen das ständig miteinander verwechseln?

Sex war es, mehr nicht. Lust.

Den Gedanken trieb es ihr wie einen Messerstich mitten ins Herz.

Mechanisch folgte Naomi den Straßen, bis sie auf das New-Seattle-Karussell auffuhr. Am Himmel über der Stadt sammelten sich graue Wolken zu einer dunklen Decke, die schwer herniederdrückte und die Stadt und mit ihr eine Hexenjägerin auf der Flucht vor sich selbst einhüllte. Mit gerunzelter Stirn stierte Naomi das Lenkrad an; ein High-Tech-Teil, genau wie das Armaturenbrett, das mit Anzeigen, Tasten und Knöpfen übersät war.

Als die ersten dicken Regentropfen gegen die Windschutzscheibe platschten, zuckte Naomi zusammen. Sie fluchte. Beinahe hätte sie das Steuer verrissen und den Sportwagen in ein breites, kastenförmiges Luxusgefährt gelenkt, das gerade zum Überholen angesetzt hatte. Sie fluchte weiter, wütender, kaum dass Zorn heiß wie Lava erneut in ihr hochkochte.

Ihre Mutter war tot. Ein Wahnsinniger, der im Zeitlos auf Blut aus war, hatte sie umgebracht. Sie war tot.

Oder nicht?

Würde es etwas ändern, wenn sie noch am Leben wäre?

Es gab kein Wort, kein Gefühl, das stark genug gewesen wäre, nichts, das hätte beschreiben können, wie schwarz die Leere war, die schlagartig in Naomi tobte wie ein furchterregend lebendiges, alles verschlingendes Wesen.

Nein, es würde nichts ändern.

Tränen brannten in Naomis Augen, scherten sich nicht um den Verkehr oder darum, ob sie geweint werden wollten. Galle verätzte ihr die Kehle, und Naomi dachte schon, sie müsste sich übergeben, so beutelte sie die Bitterkeit. Sie schluckte schwer und zeigte der Welt die Zähne. Sie packte das Lenkrad fester und trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch.

Das Highwaysystem wand sich in Serpentinen um New Seattles in Lagen aufeinandergetürmtes Stadtgebiet wie eh und je, und der Verkehr floss wie ein breiter Strom um den Sportwagen und seine Fahrerin herum. In dieser Fahrtrichtung gab es keine Kontrollpunkte zwischen Ober- und Mittelstadt. Den Sicherheitskräften war es schnurz, ob die Reichen und Gelangweilten ihre Nase in die Slums der Stadt stecken und eine Nacht lang versumpfen wollten.

Nur zurück in die Gegenrichtung zu wollen würde ein Problem.

Darum würde sie sich kümmern, wenn es soweit war. Fürs Erste konzentrierte sie sich ganz darauf, es heil bis zu ihrem kleinen Mittelstadt-Apartment zu schaffen. Dort angekommen, gelang es ihr, alle von der Mission vorgeschriebenen Sicherheitsmaßnahmen korrekt außer Kraft zu setzen. Sie bemerkte es nicht einmal. Es war ihr auch egal.

Sie stieg über Berge von unordentlich auf dem Boden aufgehäuften Kleidungsstücken und war schon dabei, sich aus dem eng anliegenden Spitzenmieder zu schälen. Währenddessen befreite sie sich aus den grässlichen Stiefeln, kickte sie sich vom Fuß, ohne darauf zu achten, wo sie landeten. Die hautenge Designerjeans folgte. Danach suchte sie sich etwas Richtiges zum Anziehen.

Irgendwo auf dem Boden fand sie eine abgewetzte Jeans mit weiß ausgefransten Rissen auf Oberschenkeln und Po. Vertraut wie Atmen. Endlich löste sich etwas von der Spannung, die ihr die Rippen zusammengepresst hatte. Wie ein entwirrter Knoten.

Ganz plötzlich bekam Naomi wieder Luft.

Mit den Händen strich sie über den groben Baumwollstoff. Ihr Blick wanderte über das unordentliche Durcheinander, das in den letzten paar Jahren ihr Zuhause gewesen war. Viel Zeit hatte sie hier in diesen Jahren nicht verbracht.

Zuhause war der Ort, an dem man schlief.

Ihr Zuhause wirkte plötzlich heruntergekommen. Armselig. Der Teppich hatte Flecken und war an einigen Stellen abgewetzt; die rostumflorten Wasserflecken an Decken und Wänden sahen aus wie Blutlachen, aufgesogen vom Putz, der längst keine benennbare Farbe mehr hatte. Ihre Mundwinkel verzogen sich zu etwas, das fast als Lächeln durchgehen konnte. »Das, Schätzchen, ist nun mal alles, was du hast.« Der Klang ihrer eigenen Stimme erdete sie in gewisser Weise neu.

Die letzten Tage waren ein Albtraum gewesen. Nicht real. Das hier war real.

Kugelhagel und Blutvergießen, das war real.

Und dieser schimmernde, glitzernde Palast, der die Mittelstadt überstrahlte und sich jenseits von deren Armutsgrenze in den Himmel erhob? Klar, es war ein Palast. Ein funkelnder Diamant, der im Sonnenlicht seine Pracht entfalten durfte, das die Straßen kaum erreichte, auf denen Naomi sich üblicherweise bewegte. Sollten ihn die verdammten Idioten in der Oberstadt doch für sich behalten!

Naomi West hatte keine Verwendung für Diamanten.

Sie betrat das winzige, beengte Badezimmer – was für ein himmelweiter Unterschied zu der luxuriösen Dekadenz der prächtigen Bäder in den Suiten des Zeitlos. Der in die Wand geschraubte Spiegel hatte Rostflecken um die Schrauben und war vom Alter teilweise blind. Naomi zwang sich, nicht darauf zu achten. Nicht auf Rostflecken und Risse im Porzellan, die ihr Leben ausmachten.

Sie bürstete sich das Haar, band es fest zu einem Knoten zusammen. Dabei fiel ihr Blick auf die verletzte Schulter und den Verband, der diese schützen sollte. Naomi runzelte die Stirn.

Sie starrte die verletzte Schulter an, die überhaupt nicht wehtat.

Um in den Spiegel zu gucken, beugte Naomi sich vor und musterte die dünne Linie, die alles war, was von der Schramme quer über ihrer Nase übrig geblieben war. Sie kniff die Augen zusammen.

Plötzlich ging ihr Atem schneller.

Sie riss sich den Verband von der Schulter. Wo eigentlich eine tiefe Schusswunde hätte sein müssen, war nichts zu sehen als eine zarte, nur noch angedeutet andersfarbige Linie auf der Haut. Die Finger, mit der Naomi die Linie nachfuhr, zitterten.

»Verdammte Affenscheiße«, entfuhr es ihr entgeistert, plötzlich atemlos. Sie fühlte sich, als hätte ihr jemand einen Tritt in den Bauch verpasst. Als hätte ihr jemand einen Schlag versetzt, der ihr sämtliche Luft aus den Lungen trieb. Naomi musste sich am Waschbecken festhalten. Ihre Stirn knallte mit einem vernehmlich dumpfen Laut gegen den Spiegel.

Das bisschen Schmerz, das ihr wie ein kurzer Blitz durchs Hirn bis zum Hinterkopf fuhr, war nichts gegen die sich sammelnde, langsam aufsteigende Panik.

Verletzungen dieser Art heilten nicht so rasch. Keine medizinische Versorgung der Welt konnte einen Streifschuss einfach verschwinden lassen wie Abdeckstift einen Knutschfleck.

Aber Magie konnte das.

Hexen konnten das.

Überall Hexen und Hexer! War die ganze verdammte Familie magiebesessen? Oder nur ein Familienmitglied? »Bei allen verfluchten Heiligen!«

Naomi setzte sich wieder in Bewegung. Der plötzliche Adrenalinanstieg fühlte sich an, als ballte sich eine Faust um ihr Herz. Sie krümmte sich zusammen. Aber dafür hatte sie jetzt keine Zeit.

Sie konnte es sich nicht leisten, weiter darüber nachzudenken.

Joe Carson war als Erster an der Reihe. Und dann 

Dann würde sie sich mit den Clarkes befassen. Mit ihnen und den Magiebesessenen, die mit ihnen unter einer Decke steckten.

»Ich habe dich gewarnt«, flüsterte sie und kniete sich vors Bett, um ihre Lieblingsknarre unter der Matratze hervorzuholen. »Ich habe dir gesagt, womit ich meinen Lebensunterhalt verdiene.« Der Colt war größer als die Waffen nach Missionsstandards. Aber, bei Gott, die Wumme blies in jeden ein Loch, der dumm genug wäre, Naomi in die Quere zu kommen!

Mit dem Handrücken wischte sie sich über die Wange und verzog mürrisch das Gesicht, als der Handrücken feucht war. Verfluchte Scheiße, sie weinte doch nicht! Schon gar nicht wegen dämlicher Magiebesessener. Schon gar nicht wegen Phin Clarke.

»Ich verlange, genauestens darüber ins Bild gesetzt zu werden, was hier vorgeht.« Michael Rooks Stimme übertönte alle anderen. Der allgemeine Lärm in der Lobby war eine misstönende Mixtur aus Empörung, Fragen und Gezanke darum, wer welchen Rang und welches Vorrecht habe. Das alles rüttelte an Phins ruhiger Gelassenheit wie ein Orkan. Das Geschrei und Gezänk war so laut, dass die beruhigende Musik und das Plätschern der Quellen in den Brunnenbecken darin untergingen, als existierten sie nicht.

Beschwichtigend hob er die Hände. »Es tut mir wirklich sehr leid«, entschuldigte er sich nicht zum ersten oder zweiten, sondern bereits zum siebzehnten Mal. »Ich verstehe, dass die Umstände für jeden von Ihnen Probleme aufwerfen. Aber wir sorgen dafür, dass jeder von Ihnen an das gewünschte Ziel kommt.«

»Da bin ich schon. Ich will genau hier sein«, jammerte Jordana, ihr Haar ein wilder Haufen verfilzter Locken, die ihr auf die Schultern fielen. »Was, wenn Katie zurückkommt und mich hier sucht?«

Der hagere Rook wischte die Bemerkung mit einer ungeduldigen Handbewegung fort. »Ihre Katie ist verdammt viel klüger als Sie. Sie kommt sicher mit jeder Situation zurecht.«

Jordana holte tief Luft. »Sie …!«

»Um Himmels willen, sorgen Sie dafür, dass sie den Mund hält!« Grace Latterby, einer der beiden Gäste, die im Zeitlos stets zurückgezogen wie die Einsiedler logierten, wirkte abgelebt und abgekämpft. Sie hatte noch abgelebter und abgekämpfter gewirkt, als sie eingecheckt hatte. Aber als vierundsechzigjährige Eignerin und Vorstandsvorsitzende einer Multimilliarden Dollar schweren Importfirma hatte sie jedes das Recht dazu.

Sie hatte sich darüber hinaus das Recht auf absolute Wahrung ihrer Privatsphäre ausgebeten, vollkommene Abgeschiedenheit. Sie wollte verdammt noch mal ihre Ruhe haben.

Heute hatte Phin gegen jeden der von ihr geäußerten Wünsche verstoßen.

Er rieb sich die Stirn.

»Ich möchte Sie bitten, ruhig und gelassen zu bleiben.« Lillian wagte sich unter die aufgebrachten Gäste. Sie war so unnachgiebig und ernst, wie Phin sie nie zuvor erlebt hatte. Es war nicht einmal nötig, dass sie die Stimme erhob, um sich Gehör zu verschaffen. Ihr Ton war scharf, getragen genug, um ihr sofort die ungeteilte Aufmerksamkeit aller einzubringen. Zeugte von natürlicher Autorität. »Meine Damen und Herren, wir entschuldigen uns in aller Form für die Unannehmlichkeiten, die Sie erdulden müssen. Aber bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir das Zeitlos um Ihrer eigenen Sicherheit willen schließen müssen. Bis wir das Problem haben eingrenzen können …«

»Das Problem, Lillian, ist Ihr Personal, ganz eindeutig«, plusterte sich Rook auf. »Ihren Leuten fehlt eine starke Hand! Wegen Ihrer Nachlässigkeit sind sie schlampig geworden.«

Die anderen Gäste murmelten zustimmend, und Phin ertappte sich bei dem Wunsch, dem Mistkerl eins aufs Maul geben.

»Wir sind uns bereits über die Natur des Problems im Klaren, Mr. Rook«, fuhr Lillian unbeirrt fort. »Es gilt nur noch, es ausfindig zu machen und zu beheben. Bis dahin haben wir nicht die Absicht, die Sicherheit von Gästen und Personal zu gefährden.«

Es war das Schwierigste, was Phin je in seinem Leben getan hatte.

Während die Gäste nacheinander das Zeitlos verließen, begleitet von Mitarbeitern, die sich um ihr Gepäck kümmerten, lehnte sich Phin gegen die Rezeption und sah zu, wie die Welt, die er kannte, in Stücke ging.

Genau dieselbe müde Gewissheit konnte er von Lillians Gesicht ablesen; er sah sie in ihren Augen, in dem erschöpften Zug um ihren Mund.

Dennoch lächelte sie, als sie über den Marmorboden der Lobby auf ihn zukam und sich zu ihm an die Rezeption gesellte. »Abigail wird sich mit der Zeit erholen. Die beiden Unfälle waren immerhin nicht tödlich.«

»Aber es waren keine Unfälle, Mutter, weder der eine, noch der andere.« Dass sie genauso dachte, verriet ihm das Aufblitzen in ihren Augen. Phin fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht. Es half nicht gegen die Erschöpfung, in der sein Verstand zusehends versank. »Das Zeitlos ist erledigt. Aus und vorbei.«

Lillian blickte ihn an, neigte den Kopf. »Vielleicht. Aber wenn ja, dann bauen wir uns eine neue Existenz auf. Irgendwo, irgendwas. Wir kommen schon zurecht.«

»Unfassbar.« Phin stemmte die Ellenbogen rücklings auf den Tresen der Rezeption und legte den Kopf in den Nacken. Für einen Augenblick schloss er die Augen. »Absolut unfassbar. Das Zeitlos gibt es jetzt schon so lange, und es genügt ein einziger Mensch, um das alles kaputtzumachen, das Leben so vieler Menschen zu ruinieren?«

»Phin«, sagte Lillian. Es klang so weich, wie sie es sagte, dieses eine Wort, so mitfühlend und tröstlich.

Phin hob den Kopf. »Und was machen wir mit dem Personal? Wir können sie nicht alle weiterbeschäftigen und bezahlen, während sie gar nicht für uns arbeiten.« Er stieß sich vom Tresen ab und straffte Schultern und Rücken. »Und die Verfolgten, die wir in Sicherheit gebracht haben? An wen sollen die sich jetzt noch wenden? Wie viele wird man verhaften, wie viele lässt die Kirche hinrichten, ohne uns, die ihnen Schutz und Sicherheit geboten haben?«

»Phin, mein Junge.«

»Das ist nicht fair!«, brauste er auf. Er wusste, dass er wie ein bockiges Kind klang. Er massierte sich die Schläfen, holte tief Luft und wiederholte in ruhigerem Ton: »Es ist nicht fair ihnen gegenüber. Oder uns gegenüber.«

Lillian legte ihm die Arme um den Hals. »Komm her, Liebling.« Weil er größer war als sie, musste er sich zu ihr hinunterbeugen, um die Stirn in ihre Halsbeuge zu schmiegen und dort ihren Herzschlag zu spüren. Er umarmte seine Mutter, verschränkte die Finger in ihrem Rücken und genoss für einen kurzen, aber vollkommenen Augenblick das Gefühl, die Welt sei in Ordnung. Die Wärme seiner Mutter durchdrang die kalte Angst, die ihn gepackt hielt und ihm die Luft abzuschnüren drohte.

Ihre zusammenhangslosen Worte vermochten endlich den Stich zu heilen, den Naomis wilde Anschuldigungen Phin versetzt hatten.

»Mutter«, sagte er gegen Lillians warmen Hals.

»Hmm?«

»Ich möchte, dass ihr beide packt und irgendwohin fahrt, wo ihr in Sicherheit seid. Besucht einfach jemanden, jemanden, den ihr sowieso schon lange besuchen wolltet.«

Lillian lachte leise. Ihr Körper vibrierte unter diesem Lachen, und Phins Kopf hallte davon wider. Phin richtete sich auf und blickte mit gerunzelter Stirn auf Lillians geliebtes Gesicht hinunter. Seine Mutter schüttelte den Kopf. »Du weißt ganz genau, dass wir das nicht tun werden.«

»Dieser Carson ist gefährlich. Naomi hat sich das nicht ausgedacht. Du hast es doch selbst gesagt: Zwei Menschen sind tot.« Phin verlagerte sein Gewicht von einem auf den anderen Fuß und ergriff seine Mutter bei den Schultern. »Ich kann nicht garantieren, dass ich noch weiß, was ich tue, wenn einer von euch beiden etwas passiert. Ihr müsst einfach hier weg. Bitte!«

Langgliedrige, schmale Finger streichelten seine Wange. »Wir sind eine Familie, Phin. Wenn wir zusammenhalten, sind wir am stärksten.«

»Aber ich …«

Die Doppeltür zur Lobby schwang auf. Herein kam Michael Rook, seine hagere Gestalt vibrierte förmlich vor mühsam bezwungener Selbstgerechtigkeit. Offenkundig der Anführer seines kleinen Protestmarsches hatte er Jordana an seiner Seite, die er zurück in die Lobby geleitete. Jordana selbst stolzierte neben ihm her, einen entschlossenen Zug um ihren Schmollmund.

»Herrje!«, seufzte Phin und stieß sich vom Tresen ab, um die beiden abzufangen, ehe sie die Lobby durchquert hätten. »Es tut mir leid, aber die Schließung des Zeitlos ist nicht verhandelbar.«

Hinter Rook und Jordana wieselte Joel durch die Eingangstür herein. Mit beiden Händen würgte er die Luft vor sich und zeigte damit, was er von den beiden hielt.

Aber Rook ließ sich von Phins Worten nicht aufhalten. »Ach was! Verstehen Sie, wir haben für unseren Aufenthalt hier bezahlt, und wir beabsichtigen, in Anspruch zu nehmen, wofür wir bezahlt haben. Also schlage ich vor, Sie nehmen Kontakt zu einem Ihrer Schickeria-Anwälte auf, den Sie irgendwo in der Hinterhand haben, und …«

Das Licht flackerte.

Abrupt blieben alle stehen, wo sie gerade waren. Erstarrten zu einem lebenden Bild reinster Überraschung und plötzlich aufkeimender Panik. Die schweren automatischen Doppeltüren schlossen sich. Sie fielen mit einem von der Automatiksteuerung gedämpften, aber nichtsdestotrotz endgültigen Klacken zu. Jordana schrak zusammen und unterdrückte mühsam einen Aufschrei.

»Das war doch nur eine Verzögerung der automatischen Türschließung«, klärte Rook sie gereizt auf. »Jetzt reißen Sie sich mal zusammen!«

Jordana lief rot an, und Phin nutzte die Gelegenheit, auch wenn er es gern vermieden hätte, Rooks Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. »Verzeihen Sie bitte«, sagte er fest, »aber es ist unser gutes Recht, abzulehnen, Dienstleistungen zu erbringen, und zwar jedermann gegenüber. Wir sind sogar verpflichtet, dieses Recht durchzusetzen, wenn es um die Sicherheit unserer Gäste geht.«

»In Anbetracht der übertrieben hohen Honorare, die Sie für Ihre Dienstleistungen verlangen …«

Mit dem typisch hohen Laut zwischen Kratzen und Kreischen schrappte Metall an Metall entlang, dann ein Schlag, begleitet von einem dumpfen metallischen Dröhnen. Rook unterbrach sich beim ersten surreal wirkenden Geräusch und runzelte die Stirn.

Kriieck, kriieck, klanck!

Phin hingegen kannte das Geräusch. Er wusste, was passierte: Eines nach dem anderen würden jetzt die großen, hohen Fenster hier in der Lobby und überall dunkel, sobald sich massive Metallplatten davorschöben wie gerade vor das erste und zweite Fenster hier.

Lillian erwachte als Erste aus der Erstarrung. »Kommen Sie, rasch, wir müssen zusammen bleiben.«

Phin drehte sich um und angelte an der Rezeption nach dem Com hinter dem Tresen. Hinter ihm stieß Jordana in tiefem Schrecken ein schrilles, lang gezogenes Wimmern aus. Rook fuhr sie an, damit sie aufhörte.

Mit vor Wut zusammengebissenen Zähnen wählte Phin die Nummer des Sicherheitsdienstes und fluchte leise vor sich hin, während er darauf wartete, dass abgenommen würde. Er wartete. Und wartete.

»Bring sie rüber in die Lounge!«, rief er seiner Mutter über die Schulter hinweg zu, während er in Richtung der in den Innenhof führenden Flügeltür losrannte. Tageslicht wandelte sich in scheinbar nächtliche Dunkelheit, als die Glaskuppel eine Haube aus Stahl bekam und die Beleuchtung flackerte, weil die Stromzufuhr zeitweise unterbrochen war. In diesem Moment betete Phin, die Sache möge sich ohne weiteres Blutvergießen beenden lassen.

Dass er dem Gegner geben könnte, was er verlangte.

Wenn Phin es nämlich nicht könnte, wären sie hinter den Schutz- und Befestigungsmaßnahmen gefangen, die eigentlich zur Abwehr möglicher kommender Katastrophen gedacht waren. Sie waren von der Umwelt abgeschnitten, abgeschottet von allem draußen.

Gefangen mit einem Mann, dem es egal war, ob er töten musste, um zu bekommen, was er wollte. Zwei Menschen waren bereits tot.

Um Phins Mund erschien ein entschlossener Zug.

Gerade, als Phin in Richtung Personalflügel durch die Tür setzte, erwachte knisternd die gebäudeweite Sprechanlage zum Leben. »Einen wunderschönen guten Tag. Wie Sie alle sicher bemerkt haben dürften, haben die Sicherheitsvorkehrungen für Katastrophenfälle Sie in diesem Gebäude eingeschlossen.«

Es war eine angenehme Stimme, klar und deutlich zu verstehen. Eine Allerweltsstimme. Die Tonlage nicht zu tief, nicht zu schrill, durchschnittlich eben. Freundlich und höflich.

Phin stürzte in das große Vestibül gleich hinter dem Eingang, hastete hindurch und kam schlitternd vor dem verborgenen Mechanismus zum Stehen, mit dem sich die unsichtbare Tapetentür ins Geheimgangsystem des Zeitlos öffnen ließ. Mit fliegender Hast tastete Phin nach der Verriegelung. Wenn der Scheißkerl irgendwo an der Sprechanlage stand, geisterte er – zumindest momentan – nicht durch die Gänge. Phin blieb wenig Zeit.

»Mr. Clarke.«

Phin erstarrte. Langsam drehte er sich um und blickte hinauf in die Linse einer der Sicherheitskameras, die überall im Gebäude unter den aufwendig gearbeiteten Stuckprofilen zwischen Wänden und Decke verteilt waren.

»Ja, richtig, Mr. Clarke, ich sehe Sie.«

Die Zentrale des Sicherheitsdienstes. Der einzige Raum, der genug Monitore hatte, um alle Übertragungen der Sicherheitskameras im Blick zu behalten. Der Zugriff auf die gesamte Sicherheitstechnik gewährte.

»Sie werden mir jetzt den Gefallen tun und sicherstellen, dass alle im Gebäude befindlichen Personen den Weg in den Pool-Bereich finden und sich dort versammeln.«

Angst ließ Phins Puls rasen. »Ich werde nicht …«

»Ich kann Sie nicht hören, Mr. Clarke, also sparen Sie sich Ihren Atem. Ich erlaube mir, die Botschaft an Ihrer Stelle an alle weiterzugeben. Jeder, ja? Hallo allerseits, hallo!«, sagte die körperlose Stimme aufgeräumt. Und sehr laut. »Mr. Clarke bittet jeden, der noch im Gebäude ist – und ja, ich kann Sie alle sehen! –, sich im Pool-Bereich zu versammeln. Jedem, der dieser Bitte nicht nachkommt, wird das noch sehr, sehr leidtun.« Kurze Kunstpause. »Zumindest solange dieser Jemand damit beschäftigt ist zu sterben. Ich hoffe, ich habe mich klar ausgedrückt, ja?«

Es gab eine Rückkopplung, dann folgte ein Klicken. Die Sprechanlage war ausgeschaltet. Phin setzte sich in Bewegung. Augenblicke später, kaum dass er den Innenhof halb durchquert hatte, schwang die Doppeltür der Lobby auf, und Lillian kam heraus, Rook und Jordana im Schlepptau. Seine Mutter war blass, wirkte aber äußerlich so ruhig und gelassen wie immer.

»Phin, was geht hier vor?«, fragte sie.

»Der Mistkerl hat Zugriff auf die Sicherheitstechnik.« Was bedeutete, dass die Mitglieder von Phins Sicherheitsteam entweder irgendwo im Haus unterwegs waren oder tot. Er schluckte schwer und bot seiner Mutter die Hand. »Weißt du, wo die anderen sind?«

»Deine Mutter war im Beauty-Bereich, um ein paar Sachen zu holen«, erwiderte Lillian und umklammerte Phins Hand fest. »Das Personal ist im ganzen Haus verteilt, ich habe keine Ahnung, wo. Die meisten sind wohl schon nach Hause gegangen.«

Hinter ihr sah Jordana grün um die Nase aus. Tränen verunzierten ihr Gesicht mit verlaufener schwarzer Wimperntusche.

»Wir lassen uns doch jetzt nicht wie die Schafe zusammentreiben, oder?« Rook schlug mit einer knochigen Faust in eine nicht minder knochige Handfläche. »Wir wissen doch, wo er ist. Warum stürzen wir uns nicht alle auf ihn?«

»Weil er jetzt bewaffnet ist«, erklärte Phin ruhig. Mit dem Kopf machte er eine Bewegung in Richtung Pool-Bereich. »Also um hier mit heiler Haut und ohne größeres Blutvergießen wieder herauszukommen, sollten wir alle uns wie gute Geiseln verhalten.«

»Das ist …«

Ein, zwei große Schritte, und Phin baute sich drohend vor Rook auf. Lillian gelang es mit Mühe, Phin festzuhalten. »Jetzt hören Sie mir gefälligst zu«, sagte Phin mit gefährlich leiser Stimme, die Drohung in der Luft zwischen ihnen greifbar. »Ich will nicht, dass meine Familie in Gefahr gerät. Der Mistkerl hat gedroht, jeden umzubringen, der nicht kooperiert. Wenn Sie davon träumen, den Helden zu spielen und dabei riskieren wollen, dass Menschen, die mir am Herzen liegen, zu Schaden kommen, stecke ich Sie gleich jetzt in den nächsten Sicherungskasten und hole Sie erst wieder heraus, wenn das Ganze vorbei ist. Haben Sie mich verstanden?«

Rook wich einen Schritt zurück. »Ähm … okay«, sagte er schließlich und nickte. Er rückte sein Jackett zurecht und nickte noch einmal. »Okay, ich verstehe.«

Joel trat in Phins Blickfeld. »Mr. Clarke, wir sollten gehen.«

Phins sah den Masseur an. Ein angedeutetes Nicken, und Phin fragte: »Haben Sie sie im Griff?«

»Bei meinem Griff doch immer«, erwiderte Joel mit einem dünnen, ironischen Lächeln. »Nun, meine Damen, der Herr, kommen Sie bitte mit. Uns wird schon nichts passieren.« Er legte der zitternden Jordana den Arm um die Schultern und zog sie mit sich. Rook verzog mürrisch das Gesicht, folgte ihm aber mit hängenden Schultern.

Lillian drückte Phins Hand. »Ich liebe dich«, flüsterte sie.

»Ich dich auch.« Er lächelte sie an, und gemeinsam folgten sie den anderen. »Aber das ist kein Grund, irgendwelche Risiken einzugehen und dabei verletzt zu werden, in Ordnung?«

»Ich möchte nur, dass alle heil bleiben und in Sicherheit sind.«

»Ich auch.« Phin ließ die Hand seiner Mutter los und legte ihr stattdessen den Arm um die Schultern. Ob das genügen würde, um sie zu schützen? Vor Angst krampfte es ihm das Herz zusammen. Er stieß die Tür zur großen Schwimmhalle auf und begegnete einem halben Dutzend Blicken, samt und sonders panisch vor Schrecken.

Er spürte, wie Lillian die Schultern unter seinem Arm straffte. »Ich danke Ihnen, dass Sie der Aufforderung alle nachgekommen sind«, sagte sie. »Wir tun unser Bestes, um sicherzustellen, dass alles so glatt wie möglich geht.«

Sie schüttelte Phins Arm ab und trat entschlossen vor. Kein Zaudern und kein Zittern.

Phin stand ebenso selbstsicher da wie sie, ein Spiegelbild seiner befehlsgewohnten Mutter. »Bitte bleiben Sie alle ruhig und gefasst, dann stehen wir alle das Ganze heil durch. Egal, was der Mann verlangt, tun Sie es! Versuchen Sie keine Alleingänge.« Phin funkelte Rook an, der seinem Blick auswich. »Und, bitte, versuchen Sie nicht, selbst mit dem Mann zu verhandeln. Überlassen Sie das Reden mir.«

»Nein, ich denke, das Reden übernehme ich.« Die unaufgeregte, so durchschnittlich klingende Stimme hallte von den gefliesten Wänden der Schwimmhalle wider. Alle drehten sich zu der Stimme um.

Alle erstarrten.

Der Geiselnehmer war nicht groß, er war auch nicht klein. Durchschnitt, dachte Phin wieder. Vom Scheitel bis zur Sohle, vom schütteren braunen Haar, vom unscheinbaren Schnitt seines Gesichts bis zu den Arbeitsstiefeln hinunter. An einem normalen Tag hätte nichts an diesem Mann Phins Aufmerksamkeit erregt. Sein Blick wäre einfach über ihn hinweggegangen.

Heute nicht. Phins Blick blieb an dem Arm hängen, den der Mann um Gemma Clarkes Kehle gelegt hatte.

Gemma wirkte so fehl am Platz neben diesem Durchschnittskerl wie eine Sonnenblume angesichts eines aufziehenden Gewitters. Es schürte Phin die Kehle zu. Aber Gemmas und sein Blick trafen sich, und seine Mutter lächelte ihm beruhigend zu.

Phin ballte die Fäuste. Lillian versteifte sich. Ob aus Schock oder Wut, wusste er nicht. Vorsichtshalber schob er sich vor sie, damit sie nicht einfach an ihm vorbeistürzen könnte.

Ganz ruhig bleiben. »Mr. Carson, vermute ich.« Er musste sich beherrschen, um nicht einfach über die Fliesen auf den Mistkerl zuzustürmen. Ihm seine Fragen aufzuzwingen. Stattdessen fragte er ruhig: »Was wollen Sie?«

Der Mann lächelte und zeigte dabei eine Reihe schlechter Zähne. Ganz durchschnittlicher schlechter Zähne. Mit Gemma unter dem Arm geklemmt, dirigierte er sie wie ein Schutzschild vor sich her, während er näher kam.

Die Art, wie Carson sich bewegte, kam Phin seltsam vertraut vor. Wie ein Raubtier, mit wachen Sinnen und immer auf der Hut.

Als er die Waffe sah, die Carson Gemma in den Rücken stieß, spannten sich Phins sämtliche Muskeln an.

Lillian unterdrückte ein Schluchzen.

»Ganz ruhig«, murmelte Phin, nahm seine Mutter und brachte sie zu Joel hinüber. »Bitte.«

Joel nahm Lillians Hand.

Phin umrundete die stille Gruppe der Geiseln. Mit voller Absicht schob er sich zwischen sie und Carson. Der Mann beobachtete ihn mit einem trägen, halb amüsierten Lächeln auf den Lippen und verstärkte den Druck auf Gemmas Kehle. »Das ist nah genug.«

Gemma würgte; die Hand, mit der sie Carsons Unterarm umklammerte, war weiß.

Phin blieb stehen. »Lassen Sie sie gehen! Wir geben Ihnen alles, was Sie wollen, aber bitte verletzten Sie niemanden.«

»Ich wünschte, es wäre so einfach«, entgegnete Carson.

Der Ton, den er anschlug, wollte nicht zum Inhalt seiner Worte passen. Dem Mistkerl machte die ganze Sache Spaß. Macht, dachte Phin. Kontrolle. Darum ging es. Jedes Mal, wenn Gemma unter dem Druck seines Unterarms auf ihre Kehle mühsam nach Atem rang, funkelten seine Augen gierig.

»Wenn es Ihnen um Geld geht, begleiten Sie mich doch bitte in mein Büro, da können wir …«

»Oh, nein.« Carson grinste. »Es geht nicht um Geld. Es gibt etwas anderes, das Sie haben und ich will.«

»Was?« Langsam hob Phin die Hände, um zu zeigen, dass er unbewaffnet war. »Sagen Sie mir, was Sie wollen.«

Hinter ihm murmelte Lillian: »Phin.«

»Ich will die Quelle.«

Auf einen Schlag erstarrte alles in Phin zu Eis. Sein Blick flog zum Gesicht seiner Mutter und huschte zurück zu Carson.

Dessen Grinsen wurde breiter. »Ich weiß, dass Sie ganz genau wissen, wovon ich rede«, sagte er. »Also lügen Sie mich nicht an.«

»Phin«, hauchte Lillian noch einmal inständig. Es bedurfte keiner weiteren Worte. Er wusste, was sie ihm sagen wollte.

Er wusste, dass er keine Wahl hatte.

Er trat einen Schritt näher an Carson heran, bohrte den Blick in den seines Gegners. »Wenn Sie eine der Sprudelquellen in der Lobby meinen …«

Wie eine Schlange bewegte sich Carson, geschmeidig, kraftvoll, schnell. Gemma schlug lang hin, knallte mit Wucht auf die unbarmherzig harten Fliesen und konnte doch nichts anderes tun, als die Hände schützend vors Gesicht zu reißen. Im selben Moment war Carson vorgeschnellt, hatte die Hand mit der Waffe gehoben und Phin ins Gesicht geschlagen.

Hinter Phins Augen explodierte Schmerz in Myriaden von Sternen, Blut füllte seinen Mund. Der Schwung des Schlags riss Phin herum, seine Knie gaben unter ihm nach, und er stürzte zu Boden.

Carson packte ihm beim Schopf. »Lüg mich nicht an, Bürschchen!« Er spie Phin ins Gesicht; der Speichel rann ihm über die vom Schlag brennende Wange. »Wag ja nicht, mich anzulügen, du Hurensohn!« Carson schwieg einen Moment, und danach waren Hass und Wut verraucht wie Rauch im Wind. Schmerz wich tödlichem Erschrecken, als Phin in die irren Augen eines Wahnsinnigen starrte, und er zuckte zusammen, als Carson dreckig lachte. »Sohn zweier Huren sogar«, meinte er nachdenklich. Erheitert. »Ich frage mich echt, wie das hat funktionieren können.« Er rieb sich mit der Mündung der Waffe über die Wange, als ob ihn dort etwas juckte. Dabei fixierte er über Phins Kopf hinweg Lillian. »Habt ihr zwei irgend ’nen Kerl bezahlt, damit er sich zwischen euch beide legt?«

Lillian versteifte sich.

Phin mühte sich, wieder hoch auf die Füße zu kommen. »Genug.«

So beiläufig, dass es völlig mühelos schien, packte Carson ihn am Kragen und trat ihm die Beine unter dem Körper weg. Erneut landete Phin hart auf dem Boden. Er schrie auf, als seine Knie auf den Steinplatten aufschlugen. Carson riss ihm den Kopf an den Haaren in den Nacken.

»Oder aber«, fuhr Carson fort und legte Phin die Lippen ans Ohr, »sie wussten, dass ein normaler Sterblicher sich niemals zu so einer unheiligen Verbindung hergeben würde. Vielleicht haben sie ja den Teufel selbst zum Beischlaf herbeigerufen. Damit er seinen riesigen Schwanz in ihre unreinen Mösen schiebt, bis eine von ihnen empfangen hat. Na, was meinst du, Bürschchen?«

Wut kämpfte den Schmerz nieder. Etwas weiter von ihm entfernt versuchte Gemma, sich hinzuknien, auf die Füße zu kommen. Sie schüttelte den Kopf, als ihre Blicke sich trafen, legte die Finger auf die Lippen und warf Phin mit zwei Fingern einen Luftkuss zu. Ich liebe dich.

Eine vertraute Geste.

Er schluckte schwer. »Ich habe keine Ahnung, was für eine Art Quelle Sie wollen«, sagte er und versuchte ruhig zu bleiben. Es war schwierig. Nur mühsam ließ sich die Wut beherrschen, die von überallher gegen sein Bollwerk aus Ruhe anrannte und ihn aus der Fassung bringen wollte. »Aber wir haben ja eine Menge Heilwasser und -quellen hier.«

Carson schwieg. Dann bellte er ein kurzes, unangenehmes Lachen heraus und richtete sich auf. »In Ordnung, Bürschchen, in Ordnung.« Mit roher Gewalt und einer Kraft, die man bei seinem schlaksigen Körperbau nicht vermutet hätte, wirbelte er Phin herum. Phin würgte, halb erstickt vom eigenen Kragen, als Carson ihn zur Gruppe zurückschleifte.

Er hob die Waffe und zielte auf Jordana, die schrie.

»Alle bleiben genau dort, wo sie sind«, warnte er.

Phin drehte sich um und sah, dass Carson sich abwandte und langsam in Richtung Umkleidekabinen davonging. »Ich hatte gehofft«, sagte er im Gehen, »irgendjemand in dieser Lasterhöhle wäre vernünftig. Aber es scheint, ihr seid allesamt ein sturer Haufen. Ihr leidet und sterbt lieber, als mir zu geben, was ich brauche. Egoistische, gottlose Höllenbrut.«

Phin wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. »Sie haben versucht, Alexandra umzubringen.«

Carson lächelte. Leichthin. »Und die reiche Schlampe. Ich habe natürlich gewusst, dass ihr die beiden retten könnt, wenn ihr nur wollt. Was ihr ja tatsächlich auch getan habt.«

»Wir haben sie gerettet, ja«, setzte Phin an. Dann aber schnappte er nach Luft. Denn Carson schwenkte, ganz beiläufig, die Waffe. Der Lauf zielte jetzt nicht mehr auf Jordana, sondern auf Gemma.

»Tja, eine Schande das, wirklich. Ich hatte gehofft, die reiche Schlampe würde euch dazu bringen, die Quelle hervorzuzaubern. Besonders weil doch Naomi West jetzt Bürschchens Flittchen ist, und die beiden miteinander verwandt sind, oder nicht?«

Phin zuckte zusammen. »Sie elender Hurensoh …«

»Wer im Glashaus sitzt, Bürschchen«, ermahnte ihn Carson tonlos. Aber seine Hand umspannte den Griff der Waffe fester. »Weil dir selbst dein Flittchen nicht wichtig genug war, um jemand aus ihrer Familie zu retten, bekommst du jetzt ein bisschen Zeit, noch einmal gründlich darüber nachzudenken. Vielleicht muss ich deinem Erinnerungsvermögen etwas auf die Sprünge helfen.«

Mühsam stemmt sich Phin auf die Füße. Er schluckte das Blut hinunter und sagte verzweifelt: »Aber ich kann Ihnen nicht geben, was Sie wollen!«

»Dann denk mal drüber nach«, erwiderte Carson mit einem Lächeln. »Und denk immer daran, was ich dir gesagt habe: Ich beobachte euch. Also beeilt euch besser«, fügte er hinzu und drückte ab.

Es krachte wie ein Donnerschlag. Einmal. Zweimal.

Schreie, Rufe, Jordanas erschrockenes Kreischen. Am Rande von Phins Blickfeld versuchte jemand sich aus der eng beieinanderstehenden Gruppe von Geiseln zu lösen. Aber was Phin vor allem sah, war Blutrot auf Sonnengelb. Gemmas Augen weiteten sich. Ihre Hände zuckten hinauf, legten sich auf ihren Bauch, und der Schock in ihrem Gesicht verwandelte sich in Trauer.

In Reue.

Sie krümmte sich zusammen. Zeitlupenlangsam, träge wie geschmolzenes, von Rot durchzogenes Gold, verwässert vom blauen Licht, das die Pools zurückwarfen, floss sie zu Boden. Sie schlug auf dem Schiefer auf, ehe Phin seine zitternden Beine dazu bringen konnte, sich in Bewegung zu setzen.

Schluchzend und fluchend ging er neben ihr in die Knie, achtete nicht auf den scharfen Schmerz, den die Nerven seiner Kniescheiben protestierend seinem Gehirn meldeten. Überall war Blut. So viel Blut. So viel Blut, dass er schon nicht mehr wusste, was noch zu tun war.

Gemma wich alle Farbe aus dem Gesicht; ihre Lippen waren angestrengte bleiche Striche, während sie verzweifelt nach Atem rang.

Am ganzen Körper zitternd zog Phin seine Mutter in die Arme. »Handtücher«, verlangte er mit brechender Stimme. Gemma hustete. Blut von ihren Lippen spritzte auf Phins Hemd. Seine Hände badeten darin, bis Phin sich sicher war, er würde nie vergessen, wie warm es sich anfühlte, das Blut seiner Mutter, wie nass, wie geschmeidig seine Konsistenz war. »Handtücher!«, brüllte er.

Keinen Augenblick später war Rook neben ihm, Handtücher von den Poolliegen in den bebenden Händen. »Oh Gott«, war alles, was er zu sagen in der Lage war, seine Stimme dünn und brüchig.

Joel kam herübergerannt. »Ich bin ausgebildeter Ersthelfer!«

Lillian folgte ihm. In der ganzen Schwimmhalle mit ihrer unbarmherzigen Akustik hallten ihre Schluchzer wider, während sie auf vor Schock unsicheren Beinen hin zu ihrer Frau stürzte. Jedes mühsam keuchende Japsen nach Luft, jeder trauernde Laut aus ihrem Mund zigfach verstärkt.

»Liebling«, presste Gemma mit rauer Kehle und unter Keuchen hervor. Sie hob das Gesicht, schaute zu Phin auf. Ihr Gesicht war eine bleiche Maske aus Schmerz. Ihre Finger krallten sich über der Brust in Phins Hemd. »Liebling, tu das nicht.«

»Ich kann dich doch nicht sterben lassen!«

»Ich sterbe«, hauchte Gemma, die Finger in seinem Hemd verkrampften sich, »und er bekommt gar nichts.«

Phin wurde das Herz schwer. Es schien ihm die Brust sprengen zu wollen. Tränen brannten ihm heiß in den Augen. Schluchzend holte er Luft und zog die Hände seiner Mutter an die Brust, zu den Lippen. Gemma umklammerte seine Hand. »Ich kann nicht«, flüsterte er, »ich kann das nicht!«

»Phinneas … es geht hier … nicht nur um dich, und das … weißt du auch.«

Neben ihm fiel Lillian an der Seite ihrer Frau auf die Knie. Strähnen goldblonden Haars hingen ihr ins Gesicht, während sie aufgelöst und fahrig die zitternden Hände nach der geliebten Frau ausstreckte und in Blut fasste. Tränen zogen silbrig glitzernde Spuren in ihr vormals so perfektes Make-up. »Gem.«

»Lily.« Gemma fasste nach Lillians Hand. Sie zog die Hand ihrer Liebsten an ihre Brust, nah ans Herz. Joel hatte Rook die Handtücher aus der Hand gerissen, sich Phin gegenüber neben Gemma gekniet. Jetzt hielt er den Frottee fest auf die Wunde gedrückt. Doch immer noch strömte Blut aus den Schusswunden wie aus einer sprudelnden Quelle. »Du musst es ihm … erklären. Er muss … es verstehen.«

»Du darfst nicht sterben, Liebste«, sagte Lillian. Ihr Lächeln zerriss einem das Herz. Sie strahlte ihre Frau an, hoffnungsfroh. »Du darfst nicht. Du kannst uns doch nicht verlassen, du kannst nicht alles mitnehmen. Wer weiß, was in einer Welt ohne dich geschieht?«

»Wir dürfen … ihm nicht geben, was er … will.« Gemmas Atem ging rasselnd, sie würgte, hustete. Sie stöhnte vor Schmerzen und krümmte sich zusammen. Als ob sie sich in Phins Arme flüchtete. »Wir dürfen das nicht.«

Phin schloss die Augen.

»Clarke!« Rooks Stimme klang mit einem Mal scharf. Merkwürdig. »Ähm …«

»Kümmer dich um sie«, sagte Phin und tauschte einen Blick mit seiner Mutter. Ihre Augen glänzten vor unvergossenen Tränen. Er nickte, als sie seine Wange berührte. »Ich bringe das jetzt in Ordnung.«

»Ähm … Clarke?« Rook ließ nicht locker. Dieses Mal packte er Phin an der Schulter.

»Was?«, fuhr Phin auf und zu dem hageren Mann herum. Sein Blick fiel auf die drei, die durch die Doppeltür den Schwimmbereich betreten hatten und nun näher kamen. Alle drei trugen die Dienstkleidung des Zeitlos. Zwei Männer, eine Frau. Phin runzelte die Stirn. »Agatha?«

Mit hochgerecktem Kinn ließ die Rezeptionistin des Beauty-Bereichs ihren Falkenblick die Halle absuchen. »Wo ist das Missionarsgeschmeiß?«, verlangte sie zu wissen.

Phin knurrte.

Einer der beiden Männer hob eine Handfeuerwaffe, ein riesiges, unhandliches Ding, und zielte auf ihn. Der Mann war groß, hatte blaue Augen und flachsblondes Haar. Er trug immer noch die für Tellerwäscher übliche Schürze. Bedauern zeigte sich auf seinen hübschen, jungenhaften Zügen. »Tut mir leid, Kumpel«, sagte er. »Sie hatten hier wirklich eine gute Operation laufen.«

Zeitweilige. Jetzt erkannte Phin die Männer. Verfolgte Hexer, denen sie im Zeitlos Unterschlupf gewährt hatten und die auf ihre Chance warteten, aus der Stadt zu entkommen. Der Kirche zu entkommen.

Lügner. Verräter. Sie alle.

Agathas blassblaue Augen waren unbarmherzig und kalt wie Eis, während sie das Häuflein von Menschen betrachtete, die der Geiselnehmer hier versammelt hatte, die verwundete Gemma und Lillians blutverschmierte Hände und Kleidung.

Agatha wedelte mit einer knochigen Hand, jede Bewegung eckig, als schnitte sie Luft wie Brot. Ohne es zu merken, ballte Phin die Fäuste. »Legt einen Schutzzauber um diesen Teil der Halle. Bereitet alles vor.« Sie gab ihre Befehle tonlos, frei von jeder menschlichen Regung. Sie war so ganz anders, als man sie im Zeitlos kennengelernt hatte. Zurückhaltend und still war die Frau gewesen, die Phin eingestellt hatte. »Tötet die Zeugen!«, beendete diese Frau jetzt die Reihe ihrer Befehle herrisch und kalt.

Phin sprang auf die Füße, als der dritte Hexer sich in Bewegung setzte und auf Jordana zuhielt. »Scheiße, was soll das hier?«, brüllte Phin. Der Mann bleib stehen, zögerte.

Fragend zuckte sein Blick zu Agatha hinüber.

Phin hob den Arm und zeigte auf sie. »Wagen Sie das ja nicht!«

»Herr im Himmel, sie verblutet!«, stieß Joel hinter ihm durch zusammengebissene Zähne hervor.

Agatha hatte nur einen mitleidigen Blick für Phin übrig. »Machen Sie jetzt bloß keine Dummheiten, mein Junge. Momentan sind wir die Einzigen, die Ihre Mutter noch am Leben erhalten.«

»Blödsinn! Sie …«

Der Hexer in der Schürze schnipste mit den Fingern, und Gemma warf den Kopf in den Nacken und schrie vor Schmerz. Blut benetzte Lillians bleiche Wangen, ein feiner Nebel, der sich rot wie Zorn über den Blick aus ihren von Gold durchzogenen grünen Augen legte.

Heillose Angst schnürte Phin die Brust zusammen und presste in einem Aufkeuchen alle Luft aus seinen Lungen.

»Wie ich schon sagte«, meinte Agatha ruhig. Sie schien gar nicht zu bemerken, dass gleich darauf Mordlust Phins Züge verzerrte. »Marco, da hast du dein Blut. Lass alles andere und mach voran. Greg, die Zeugen!«

Der Mann mit den dunklen Augen starrte Phin an. »Aus dem Weg!«, sagte er.

Phin ballte die Fäuste. »Nur über meine Leiche!«

Hinter ihm keuchte Gemma auf. »Lass sie«, brachte sie heraus. Schmerz verzerrte ihre Stimme. Die Worte klangen verwaschen. »Sollen sie es … versuchen. Sie wollen dasselbe wie … Carson.«

Zum ersten Mal huschte etwas wie Überraschung über Agathas Gesicht. Aber sie stritt es nicht ab. Im Gegenteil. »Ja«, bestätigte sie knapp. »Und Ihnen läuft die Zeit davon. Also beeilen Sie sich besser!«

Gemmas Lachen kreischte in Phins Ohren. Seine Nackenhaare sträubten sich. Zu viel Schmerz für ein Lachen. Er wandte sich wieder zu seinen Müttern um, sah Lillians warnenden Blick, und blieb, wo er war.

»Ich kann das nicht«, flüsterte Gemma kraftlos. »Keiner hier … ist der Richtige.«

»Nicht der Richtige?«

»Sie … erwählt sich ihr Gefäß.«

Phin schaffte drei Schritte, ehe die blauäugige Spülkraft den Arm in seine Richtung ausstreckte und die Finger spreizte. Schlagartig spannte sich jeder Muskel, jede Muskelfaser in Phins Körper an. Bogensehnen kurz vor dem Abschuss. Phin hatte das Gefühl, ihm rissen die Muskeln gleich von den Knochen, die Gelenke müssten brechen. Seine Kiefer mahlten krampfhaft, um den Schmerzensschrei zurückzuhalten. Blut rauschte in seinen Ohren.

Agatha musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. »Ich will’s dir erklären, langsam, Wort für Wort«, sagte sie, ihre Stimme ganz Gelassenheit. »Wir haben die ganze Zeit auf eine Gelegenheit gewartet, diese vermaledeite Quelle zu bekommen. Wir dachten, es handele sich um einen Gegenstand.« Ihr Blick ging zu Gemma hinüber. »Offensichtlich haben wir uns geirrt.«

»Offensichtlich«, spie Phin ihr entgegen.

»Das wird uns aber nicht aufhalten. Wir können uns die Quelle auch mit Gewalt nehmen.«

Phin krümmte sich unter der Magie, presste einen Fluch zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus, abgehackt, unverständlich, während es schien, als wolle sich sein Körper selbst in Stücke zerreißen.

Langsam schüttelte die alte Frau den Kopf. »Hör auf, dich zu wehren, dummer Junge! Miss Ishikawa war ein echtes Problem. Dann hast du dich eingemischt, und wir mussten handeln.«

Endlich machte es in seinem Verstand Klick! Phin erkannte mit einem Mal das ganze Bild und sah rot. »Sie waren es, die versucht hat, sie zu töten!«

»Nun, das war Mark, um genau zu sein.« Agathas dünne Lippen umspielte ein noch dünneres Lächeln. Zornig. »Zweimal sogar. Sie hat seine Leiche im Kleiderschrank entsorgt, ausgerechnet dort! Uns blieb nichts anderes übrig, als seine Leiche loszuwerden, ehe du, mein Junge, auch noch über sie stolperst. Wir hatten gehofft, wir greifen uns die Quelle und sind weg. Aber he, keine Chance! Der andere Scheißkerl hat uns genau das Ablenkungsmanöver geliefert, das wir gebraucht haben.« Agatha wirbelte herum. »Marco, leg endlich den Schutzzauber um den Raum, verdammt! Greg!« Sie gab ihre Befehle mit einer Stimme wie ein Peitschenknall. »Die Zeugen!«

Die blauäugige Spülkraft nahm die Hand herunter, und Phin brach zusammen. Unsanft schlug er auf dem Boden auf. Ihm dröhnte der Schädel. Entschlossen schritt der Hexer durch die Schwimmhalle auf Jordana zu. Die Sängerin schrak zusammen, versuchte wimmernd, sich so klein wie möglich zu machen. Sie wich zurück, bis die gekachelte Wand sie stoppte, und drückte sich dagegen, als ob sie darin verschwinden wollte.

Derweil kniete Marco sich hin und wühlte in einem Bündel, das er bei sich getragen hatte. Dabei murmelte er Worte in einer Sprache, die Phin nicht kannte.

Phin nahm seine ganze Kraft zusammen, um sich auf die Hexer zu stürzen. Jetzt oder nie.

Michael Rook kam ihm einen Herzschlag zuvor.

Der drahtige, hagere Mann hechtete los. Greg fluchte, als Rook ihm in den Rücken sprang. Der Schwung seines Angreifers riss den Hexer zu Boden und ineinander verschlungen fielen sie über den Rand des Schwimmbeckens. Wellen schwappten über die Marmoreinfassung. Fast gleichzeitig krachte ein Schuss, und das Echo der Halle verzehnfachte ihn zu einem Donnern, das die feuchte Luft zerschnitt. Weitere folgten, und Kugeln pfiffen Phin um die Ohren. Er wirbelte herum, geriet beinahe ins Taumeln, als der schrille Laut ihm in den Ohren gellte.

Aus dem Augenwinkel sah Agatha ihn auf sich zustürmen und warf sich zu ihm herum. Sie streckte den Arm aus, streckte schon die Finger der runzligen Hand. Aber da hatte Phin sie schon erreicht und sprang sie an. Er fauchte vor Wut und legte die Hände um ihren dürren Hals. Die Aura aus Feuer und alles versengender Hitze, die ihn mit einem Mal umgab, nahm er nicht einmal wahr. Es versengte ihm die Haut.

Er drückte zu. Die Augen der Alten trübten sich, während sie wild die Fingernägel in seine Handgelenke schlug, ihm das Gesicht zerkratzte. Er schob sie weiter, drängte sie zurück, weiter und weiter, bis zum Beckenrand, bis sie über dem Becken hing, dessen blaues Wasser schon über Rook und ihren Komplizen zusammengeschlagen war.

Phin schüttelte die zerbrechliche Gestalt, würgte sie mit vor blinder Wut verschleiertem Blick. »Kannst du sie heilen?«, verlangte er zu wissen. »Kannst du sie am Leben erhalten?«

Die alte Hexe gab erstickte Laute von sich und würgte unter den Händen um ihren dürren Hals schließlich die Antwort heraus: »Nein.«

Phin sah rot. Tief holte er Luft, seine Finger schmerzten, so fest drückte er zu.

Hinter ihm glitt eine der Geheimtüren auf. Er nahm es aus dem Augenwinkel heraus wahr, und sein Kopf fuhr zur Tür herum. Ein Teenager mit olivbrauner Haut schlüpfte durch die Tür, das dunkle Haar voller Spinnweben und Staub.

Eine schmale Hand legte sich um Phins Handgelenk. Er fuhr zusammen. Agathas Körper erschlaffte unter seinen Händen. Der Griff um sein Handgelenk wurde fester. »Mr. Clarke.«

Phins Lippen kräuselten sich.

»Mr. Clarke, lassen Sie sie los.« Liz’ vom Massieren kräftige Finger schoben sich auf seine. »Jetzt ist sie keine Gefahr mehr, Sie können sie uns überlassen. Bringen Sie sie nicht um, Mr. Clarke.«

Agathas Augen traten aus den Höhlen. Die Zunge hing ihr dick geschwollen aus dem Mund. Phin stierte der Hexe ins rot angelaufene Gesicht.

»Phin!« Lillians Stimme. Der Schrei einer Mutter, seiner Mutter, verzweifelt und verängstigt.

Nach zähem Ringen löste Liz Phins um den dürren Hals verkrampfte Finger. Mit einem erstickten Schrei fiel die Hexe rücklings ins Becken und klatschte ins Wasser.

Phin drehte sich um. Um ihn war reines Chaos. Es gab kein unten mehr, kein oben. Er wusste nicht mehr, was zum Teufel eigentlich vorging. Magiebegabte, die ihn hintergingen. Magiebegabte, die ihm halfen. Seine Mutter … oh Herr im Himmel, hilf, meine Mutter!

Der Junge, einer der Neuzugänge unter den Zeitweiligen, kniete an Gemmas Seite. »Ich brauche ihr Blut dafür«, sagte er, als er den Finger in die Blutlache tunkte. »Tut mir leid.«

»Er wird sie beschützen«, hörte er Liz hinter sich erklären. Sie berührte seine Schulter. »Mr. Clarke …«

»Ich verstehe das alles nicht.« Phins Blick wanderte über die bunt gemischte Gruppe aus Zeitweiligen hinüber zu der völlig durchnässten Rezeptionistin des Beauty-Bereichs. Eine Festangestellte, für die er glatt die Hand ins Feuer gelegt hätte. Dann glitt sein Blick weiter, erfasste die ganze Schwimmhalle. Er sah das Gewirr aus kaputten Elektroleitungen, das von der Decke hing, und Jordana, die ausgestreckt auf den Fliesen lag und sich nicht rührte. Er sah Rook, der tropfnass war und sich zitternd über den Zeitweiligen beugte, der Jordanas Kopfwunde von einem Streifschuss verband.

Phin sah das alles. Apokalypse im Paradies.

Auf Lillians viel zu blassem, viel zu angespanntem Gesicht, blieb sein Blick hängen. Er sah tiefe Falten um den Mund und auf der Stirn. Lillian wickelte die blutgetränkten Handtücher fester um Gemmas schweißnassen Körper.

Um Phins Mund erschien ein entschlossener Zug. »Können Sie sie beschützen?«

»Fürs Erste«, erwiderte Liz sanft. »Aber wir müssen hier raus. Mrs. Clarke braucht dringend einen Arzt, und Cally ist los, um Hilfe zu holen.«

Das alles war zu viel für Phin. »Halten Sie sie am Leben«, sagte er rau, »bitte!«

Liz verlagerte ihr Gewicht von einem Bein aufs andere. Aber sie sagte nichts.

»Ich werde jetzt diesem Spuk ein Ende setzen«, erklärte Phin und wandte sich an Joel. Er fixierte ihn mit einem Blick, so hart und unnachgiebig, dass der Mann zusammenfuhr. »Auf die eine oder andere Art. Ich sorge für die nötige Ablenkung, und Sie bringen alle hier heraus. Alle, hören Sie?«

Lillian schüttelte den Kopf. »Phin!«

Er zögerte.

»Sei vorsichtig! Bitte, sei um Himmels willen vorsichtig, er ist …«

»Ein Missionar«, unterbrach Phin sie. »Ja, ich weiß.« Dann sagte er: »Ich liebe euch beide. Sehr sogar.« Dann drehte er ihr den Rücken zu. Ihr Blick wurde weich, und Tränen rannen ihr übers Gesicht. Phin aber ließ sich nicht beirren. Er hielt auf die zweiflügelige Eingangstür zu und blieb nur einmal kurz stehen, um die Waffe aufzuheben, mit der die Magiebegabten auf die Geiseln und ihn geschossen hatten. Er steckte sie sich hinten in den Hosenbund.

Phin kannte dieses Gebäude. Er war hier aufgewachsen. Sein ganzes Leben hatte er damit verbracht, im Bauch des Zeitlos das Labyrinth aus Personal- und Geheimgängen zu erkunden.

Kein großer Akt, den Scheißkerl hier zu finden.

Joe Carson. Ein Missionar. Ein Missionar, der eindeutig verrückt war, aber immer noch ein Missionar. Phin war die Art sofort vertraut gewesen, mit der Carson sich bewegte. Die Art, wie er seine Waffe hielt.

Wie er Blut hatte fließen sehen und dabei keine Regung gezeigt hatte.

Es erinnerte Phin an Naomi.