KAPITEL 12

Naomi Ishikawa war durch und durch Frau.

Keinen Augenblick hatte Phin das bezweifelt. Während sie Kleid um Kleid anprobierte, beobachtete Phin, wie ihre Rückenmuskulatur sich entspannte. Er beobachtete, wie Argwohn und Gereiztheit dahinschmolzen und Empfindungen wichen, die wärmer waren, entspannter. Heiter.

Spaß. Naomi hatte Spaß.

Kaum dass ihm dieser Gedanke gekommen war, wünschte sich Phin, er könnte in diesen unbeschwerten Ort weiblichen Lachens eintauchen wie in ein Quellbecken und Naomi küssen, bis ihr der Atem verginge. Der Kuss sollte ihr das Herz sprengen.

Genau so, wie es auch ihm das Herz sprengte.

Noch ganz in dieses Gefühl vertieft, rieb Phin sich das Brustbein. Sein Blick schweifte über das, was nach der Durchforstung von Andys Atelier noch übrig geblieben war. Es musste etwas anderes geben. Er übersah etwas, etwas, das perfekt war.

Er hörte Andys Stilettos über den Boden klacken, noch ehe sie ihn ansprach. Ihre Stimme war ruhig, entschieden. »Du magst sie.«

Andys platinblonder Schopf reichte ihm kaum bis zur Schulter. Er wandte sich zu ihr um und blickte auf sie hinunter. Er sah ihr direkt in ihre gescheiten, großen blauen Augen. Lügen konnte er jetzt nicht, nicht bei Andy. Sie kannte ihn viel zu gut. »Ja.«

Sie schnitt eine Grimasse. »Du hast wirklich ein Händchen für die Richtigen.«

Ein Feuerwerk aus gemeinsamen Erinnerungen zündete zwischen ihnen, begleitet von verbindendem Lachen, eine kurze Episode der Schwäche, kaum mehr als eine Fußnote in ihrer ansonsten so erfolgreichen Karriere.

Das dachte Phin jedenfalls.

Er legte ihr einen Finger unters Kinn. »He«, fragte er, »was ist los?«

»Ach, du weißt schon«, meinte sie leichthin. Sie legte die Rechte auf Phins Schulter und zog ihn zu sich hinunter. Die Lippen, die seine Wange in einem raschen Kuss streiften, waren warm. »Erinnerungen an gute, alte Zeiten. Tja, was Miss Ishikawa angeht, habe ich alle Register gezogen. Hast du noch eine Idee?«

»Mir gefiel das rote.« Phin ließ zu, dass Andy das Thema wechselte. Aber er hielt ihre Hand fest in seiner. Seine beste Freundin.

Er hoffte, das reichte.

Andy schnitt ein Gesicht. »Zu offensichtlich.« Einen Herzschlag später umspielte ein spöttisches, katzengleiches Lächeln ihre Lippen. »Trotzdem eines meiner besten.«

Phin lachte leise und sah sich noch einmal im Atelier um, suchte mit den Augen die nach ihren intensiven Farben sortierten Möglichkeiten ab.

»Das schwarze Samt…«

»Uhh, nein!« Andy wedelte mit der Hand, als müsse sie den Vorschlag verscheuchen und entzog Phin dabei wie zufällig ihre Hand.

»Das macht keinen Busen. Darin sah sie aus wie ein Zwölfjähriger in einem Kleid.«

»Bestimmt nicht«, widersprach Phin. »Hast du übrigens bemerkt, wie sie in diesem …« Er unterbrach sich, runzelte die Stirn. »Was ist denn das Violette da hinten?«

Andy folgte seinem Blick und entdeckte, was Phin erspäht hatte. Ihr Gesicht hellte sich auf. Eilig durchquerte sie das Atelier, grub zwischen den Kleidern, die dicht an dicht nebeneinander hingen, bis sie den Bügel zu dem Kleid fand, dessen Rock unten aus der Stofffülle herausquoll.

»Das hier«, krähte sie triumphierend, »hatte ich völlig vergessen! Aber das ist es, Phin! Volltreffer.« Der Stoff schimmerte in ihren Armen wie eingefangenes Mondlicht, flüchtig und fragil, ein seidiges Gespinst. Das harte Licht der Deckenbeleuchtung fing sich in dem Purpur und wurde in einer Vielzahl von Nuancen wieder zurückgeworfen. Phin dachte sofort an Wolkenfarben inmitten eines mächtigen Gewitters, an deren Purpur, das Blitze entzündete.

Er stieß einen Pfiff aus. »Lauf und sag ihr, sie soll keins der anderen Kleider mehr probieren!«

»Naomi?«, rief Andy laut durch den Raum. »Wir haben das Richtige gefunden!«

Phin hörte von Entfernung und Stofffülle gedämpft Naomi Fragen stellen, hörte Andys aufgeregte Nicht-Antwort und grinste. Er warf einen Blick auf seine Uhr, vergewisserte sich, dass sie noch reichlich Zeit hatten. Die Reservierung, die andere zu bekommen Monate brauchten, stand. Phin musste sich beherrschen, nicht zu Naomi in die verdammte Ankleidekabine zu steigen.

Zu wissen, dass Naomi den größten Teil der letzten zwei Stunden mit nichts auf der Haut als ein bisschen roter Spitze und seinem Geruch verbracht hatte, reichte: Das Blut, das normalerweise sein Gehirn mit Sauerstoff versorgte, war längst dabei, ein anderes sehr viel tiefer sitzendes Körperteil in Bereitschaft zu versetzen.

Der heutige Abend bestünde aus jeder Menge ungestillter Erwartung und damit schönster Qual. Immerhin hatte er Naomi bereits einmal nehmen dürfen.

Blicklos starrte er auf die Naturgewalt der Farben, die Andys Atelier beherrschten, und fragte sich, ob im Zeitlos alles in Ordnung war. Nicht zum ersten Mal überprüfte er das Display des Coms an seinem Gürtel. Keine Nachrichten. Phin war nur halbwegs beruhigt. Wenn es ein Problem gäbe, würden sie ihn anrufen.

Trotzdem konnte er das Gefühl nicht abschütteln. Irgendetwas stimmte nicht.

Hinter sich hörte er Andys Räuspern. Er wandte sich um, erwartungsvoll, sah aber nur sie vor sich stehen. Sie lächelte wissend und mitfühlend zugleich. »Wir machen ihr jetzt noch die Haare und frischen das Make-up auf. Und du machst dir in der Zwischenzeit einen Drink.«

»Ist es das richtige Kleid?«

»Das wirst du gleich sehen«, antwortete Andy und verschwand wieder im eleganten Ankleidebereich.

Phin fügte sich notgedrungen, aber nur weil der Drang, doch einen Blick über die Trennwand zu werfen, sonst übermächtig geworden wäre. Schuldbewusst schlug er die andere Richtung, die zu Andys Büro, ein und bediente sich an der umsichtig bestückten Bar.

Langsam nippte Phin an dem teuren importierten Whisky. Die beiden Frauen brauchten wohl noch eine Weile. Wenn man unter Frauen aufwuchs, wusste man, dass man immer warten musste. Also machte Phin es sich hinter Andys schwarzem Metallschreibtisch bequem und ließ wieder einmal das Com aufschnappen, um es auf Nachrichten zu überprüfen.

Zumindest bekäme er so auch noch etwas Arbeit getan. Das hielte ihn davon ab, zu schnell den wunderbar torfigen Whisky zu trinken, und beschäftigte sein Gehirn mit anderem als dem, was in der Ankleidekabine vor sich ging.

Sein Whisky war nur noch halb voll, als Andy in der Tür stand und Phin mit einem Räuspern auf sich aufmerksam machte. Er stellte das Glas ab, erhob sich und hielt inne, als Andy bat: »Bleib hier.« Sie verschwand wieder. Schatten verschmolzen miteinander, weibliche Stimmen unterhielten sich leise.

Phin war, als kollabierten seine Lungen, als Naomi den Fuß ins Büro setzte.

Ihr Haar war Strähne für Strähne in Locken gelegt und einzeln mit Diamanten hochgesteckt, die wie Sterne am Nachthimmel im Schwarz ihres Haarschopfs glitzerten. Ihr Make-up war unaufdringlich, ihr Gesicht durchscheinend wie zartes Porzellan; es schien von innen heraus zu leuchten. Ihre Augen waren durch dramatisch wirkenden Eyeliner betont; ihre Lippen besaßen einen Glanz, der sie noch üppiger und verführerischer wirken ließ.

Naomis Gesichtsausdruck war kühl; sie wirkte unbeteiligt, gleichgültig. Aber unter dem herrlichen Purpur, der ihren Körper mit der Zärtlichkeit eines Geliebten umgab, war jeder Muskel hart vor Anspannung. Aber, Herr im Himmel, worum sorgte sie sich?

»Du …«, Phin musste heftig schlucken, »du bist umwerfend!«

Das Kleid saß perfekt, unterstrich die weichen, weiblichen Linien von Naomis Figur; die Korsage mit diagonal verlaufendem Goldperlenmuster war eng geschnürt, hob ihre Brüste und machte ihr einen Busen, wie perfekter sie keinen hätte haben können. Ihr Dekolleté war so hinreißend schön, dass Phin wusste, fürchtete, er könnte nicht lange, vielleicht sogar nicht länger, widerstehen, hätte er diese Perfektion weiter, den ganzen Abend lang, vor Augen. Ihre Schultern waren bloß, weiß und glatt wie Porzellan, während mehr Purpur ihre Arme in tief angesetzten Scheinärmeln umfloss.

Und dann Naomis Beine: bei allen Heiligen, Phin würde als glücklicher Mann sterben! Der Rock der Abendrobe, der schimmernd und sanft bis zum Boden fiel, war an einer Seite geschlitzt und gewährte den Blick hoch den Schenkel hinauf. Der Schlitz endete eine Handbreit unter der roten Spitze des Höschens, von dem Phin hoffte, Naomi trüge es immer noch. Das Kleid trug eindeutig Andromedas Signatur; es war unglaublich sexy und absolut kompromisslos.

Aber Naomi trug es, als wäre es extra für sie gemacht. Nur für sie und ihre endlos langen Beine.

»Phin?« Fragend neigte sie den Kopf. Phin konnte den Kehlkopf an ihrem Schwanenhals hüpfen sehen, als sie schwer schluckte. »Hallo?«

»Einen Augenblick, bitte.« Phin ging um den Tisch herum. Ganz langsam durchquerte er das Büro und blieb erst stehen, als der nächste Schritt sie in seine Reichweite gebracht hätte. Es wurde immer schlimmer … nein, besser, Jesus Maria, schlimmer, je näher er Naomi kam. Einer Göttin gleich stand sie da, eine Kreatur der Nacht, erschaffen aus Mondlicht. Und er 

»Ich erwarte«, hörte er Andy in strengem Ton sagen; sie stand irgendwo hinter Naomi, »dass Miss Ishikawa in dem Zustand bei Swann’s ankommt, in dem sie jetzt ist!«

Naomi verlagerte das Gewicht von einem aufs andere Bein. Röte kroch über ihr Dekolleté, ihre Schultern und stieg ihr hinauf in die Wangen. Ihre Augen lachten, wissend, verführerisch, als Phins und ihr Blick sich trafen. »Ja-a«, bemerkte sie gedehnt, Samt in der Stimme, »in genau demselben Zustand.«

Sie wandte sich um. Phins Blick ging zu den hohen Riemchensandalen, die Naomi jetzt trug. Eigentlich fielen sie kaum auf, schmale Bänder aus glitzerndem Gold um ihre Knöchel. Phin wollte diese Sandaletten, diese Knöchel auf seinen Schultern spüren. Jetzt sofort.

»Ähm, ja«, gelang es ihm heiser hervorzustoßen. Er räusperte sich und tauschte einen Blick mit Andy, die ihn aus Augen schmal wie die eines unerbittlichen Raubtiers musterte. Phin setzte zu einem weiteren Versuch an und sagte: »In einem Zustand, der absolut perfekt ist, wie ich zugeben muss. Andy, du bist ein Genie!«

»Nein«, verbesserte Andy ihn und hakte sich bei Naomi unter, »ich bin eine Künstlerin. Perfekt war hier die Leinwand, also sie hier, Naomi.« Sie bot Phin ihren freien Arm an, und Phin hakte sich unter. Sein Lächeln stand dem Naomis nicht nach, als Andy sie beide zur Eingangstür geleitete. »Habt Spaß, aber benehmt euch …« Der gestrenge Blick galt Phin, der den Anstand besaß, verlegen zu lächeln. »… und um aller Heiligen willen, Naomi, probieren Sie das Dessert! Es ist egal, welches Sie bestellen, aber Sie müssen es unbedingt kosten und dabei an mich denken.«

»Versprochen.«

Trotz ihres glanzvollen Auftritts, ihrer wirkungsvoll entfalteten Schönheit, wirkte Naomi befangen, ihr Blick glasig. Phin hatte fast so etwas wie Mitleid mit ihr. Er berührte ihre Schulter. Wie ein elektrischer Stromschlag knisterte es seinen Arm hinauf und schlug in seiner Brust ein. Ein schwaches Echo einer Wunde, die sich schloss. »Warum gehst du nicht schon mal vor zum Wagen?«, schlug er vor. »Ich komme gleich nach.«

Zu seiner Überraschung schluckte sie das ohne große Diskussionen. Sie wandte sich an Andy. In der einen Hand die regenbogenfarbene Handtasche, die nicht zum Kleid passte, in der anderen eine goldene, die Andy für sie ausgesucht hatte, beugte sie sich zu der blonden Frau hinunter und hielt ihr die Wangen hin, um sich zum Abschied angedeutete Küsse aufhauchen zu lassen. »Danke«, sagte Naomi mit einem verräterischen Glitzern in den Augen, »es war wirklich schön, Sie kennenzulernen, Andy.«

»Ich hoffe, Sie erzählen allen und jedem, dass Sie ein Original-Andromeda-Kleid tragen«, meinte die Designerin und strahlte. »Dann habe ich Arbeit genug bis zum nächsten Großen Beben.«

Naomi drehte sich um, warf Phin über die Schulter einen nachdenklichen Blick zu und schritt wie eine Königin die Stufen vor dem Eingang hinunter. Martin beeilte sich, ihr entgegenzukommen und ihr den Schirm über den Kopf zu halten. Ihm stand ins Gesicht geschrieben, wie hingerissen er war. Mehr noch, sein Blick hatte etwas geradezu Ehrfürchtiges.

Sie hatte ihn bei den Eiern. Phin konnte es Martin nachfühlen.

»Vielen Dank, Andy.« Auch er beugte sich hinunter. Sein Kuss auf Andys Wange war echt. »Ich schulde dir was.«

»Junge, und wie!«, sagte sie. Ihr nachsichtiger Tonfall nahm ihren Worten den Stachel. Sie griff nach seinem Arm, als Phin sich wieder aufrichtete. »Was weißt du über sie, Phin?«

Sie hatte die Stimme gesenkt, ihr Blick war ernst. Phin runzelte die Stirn. »Es gibt jede Menge, das ich nicht über sie weiß«, räumte er ein. »Aber eines weiß ich: Sie ist witzig, sie ist gescheit, sie ist hinreißend …«

»Na, das auf jeden Fall«, warf Andy mit ironischem Unterton ein.

»Ich meine nicht nur ihr Äußeres, sondern auch ihre inneren Qualitäten.« Phin blickte Naomi den Gehweg entlang nach, sah, wie sie einem Mann in einem dunklen Regenmantel auswich, der an ihr vorbeiwollte. Er sagte etwas zu ihr, augenscheinlich etwas Schmeichelhaftes. Denn sie strich mit einer Hand das Kleid glatt und lächelte.

Ihr Blick flog hinüber zu Phin. Aber in der Dunkelheit konnte er nicht erkennen, was dieser Blick bedeuten mochte.

Andys Finger schlossen sich fester um seinen Arm. Die Besorgnis, die in dieser Geste lag, tat ihr Übriges. »Bitte tu mir einen Gefallen«, sagte sie ruhig. »Tu, worum ich dich bitte, und wir sind quitt, in Ordnung?«

Phin legte seine freie Hand auf Andys schmalen Handrücken und versprach: »Alles, was du willst.«

»Frag sie nach ihrem Tattoo.« Als er fragend die Augenbrauen hob, lächelte Andy nur. Es war ein resigniertes Lächeln und hatte nichts Heiteres. Sie tätschelte ihm die Hand auf ihrer Hand. »Genieß den Abend, Schatz! Das Kleid darf sie behalten.«

Ehe Phin ihr auch nur eine Frage stellen konnte, drängte sie ihn zur Tür hinaus und die Stufen hinunter. In Richtung Wagen, dorthin, wo Naomi es sich auf der Rückbank schon bequem gemacht hatte. Sie wartete im Warmen auf ihn; ihr Gesicht sah er nur im Profil.

»In genau demselben Zustand!«, rief Andy in seinem Rücken, um Phin noch einmal daran zu erinnern. Er seufzte. Andys Gelächter folgte ihm die Straße hinunter bis zum Wagen.

Naomis blickte ihn wachsam an, als Phin durch die offene Tür hineinschlüpfte und sich wieder auf den Rücksitz ihr gegenüber faltete. Er rutschte so weit weg von ihr, wie nur irgend möglich.

Naomi saß mit übergeschlagenen Beinen da, und die herrliche Abendrobe enthüllte viel zu viel von diesen langen, schlanken Beinen. Was das Kleid nicht enthüllte, war ein Tattoo.

»Die Fahrt wird ganz schön lang, was?« Sie lachte, mit einem rauchigen, kehligen Unterton, der sich um Phins Männlichkeit legte wie eine Hand. Nur dass sein Schwanz keinerlei Hilfe mehr nötig hatte. Phin tat einen Satz, wie alles andere in ihm. »Würde es helfen, wenn ich …«

»Nicht«, meinte Phin, der Mund verkniffen, die Finger um die Polsterkante gekrallt, »bewegen. Oder wir enden genau dort, wo wir schon waren, als wir angekommen sind.«

»Oh!« Naomi veränderte die Sitzposition, saß mit ordentlich nebeneinander gestellten Beinen da. Aber nur einen Herzschlag lang. Dann schlug sie die Beine langsam wieder übereinander, herausfordernd, sündig. »Tja, okay, also dann.«

Phin langte nach dem Champagner.

Miles würde ihnen zu Swann’s folgen müssen.

Naomi blickte aus dem Fenster. Ihr Blick folgte den verzerrten Schatten, die die Lichter der nächtlichen Stadt und die Bewegung der Limousine auf die dunklen Scheiben malten. Irgendwo da draußen war der Kerl, den Naomi jagte.

Selbst in diesem purpurfarbenen Kleid würde sie ihn aufstöbern, jagen, bis sie ihn hatte, und ihn zur Hölle schicken. Sie sehnte sich nach ihrer Waffe.

Naomi spürte, wie ihr die Haut kribbelte, als streichelte sie jemand. Ein Blick, der wie eine körperliche Liebkosung war. Sie wusste, Phin beobachtete sie. Wieder. Immer noch. Ein Teil von ihr genoss es. Sie wusste, dass er sie unwiderstehlich fand, hier und jetzt. In dieser elenden Abendrobe, die aus dem Stoff gesponnen schien, aus dem die Wolken sind. Ein Teil von ihr wusste, dass Phinneas Clarke nur das Kleid sah. Die reiche Göre.

Die Erbin.

Trotzdem war es die Nacht der Nächte. Ein feudales Abendessen, eine Abendrobe, Phins Hände und Lippen überall auf ihr – was war schon dabei? Morgen würde sie den Druck auf Carson erhöhen, die Jagd beginnen. Und dann über ihn kommen wie das Jüngste Gericht. Sie musste nur noch herausfinden, wo er sich versteckt hielt. Keine große Sache. Sie konnten nicht länger auf die Baupläne des Zeitlos warten.

Morgen könnte sie Carson dann ein paar Kugeln verpassen.

Aber heute Abend durfte sie Naomi Ishikawa sein.

Sie sah Phin an. Ihr Blick blieb an seiner Kinnpartie hängen, an der Linie seines Unterkiefers, an seinen Wangenknochen. An seinen Augen, die vor Lebendigkeit sprühten. Sie konnte es bis hierher sehen, trotz der dämmrigen Beleuchtung im Fond der Limousine. »Aha. Also das Swann’s.«

In Phins Mundwinkeln zuckte es. »Da hat Andy wohl ihren Mund nicht halten können.«

»Eine frühere Geliebte?« Naomi versuchte beiläufig zu klingen. Phins Lächeln wurde breiter und er nickte.

»Eine Zeitlang, ja.«

»Was ist passiert?«

Phin stellte das leere Champagnerglas zurück in den kleinen Barschrank. »Beruf und Karriere waren ihr wichtiger als ein Partner.« Wieder spürte Naomi seinen Blick auf sich ruhen.

Beziehungsweise auf ihrem Dekolleté, wie sie mit einem Anflug von Galgenhumor feststellte. Sie rutschte auf dem Sitz hin und her und klemmte schließlich einen Finger unter die hauteng sitzende Korsage. Daran herumzuhebeln, verschaffte Naomi kein Stück mehr Luft. Das verfluchte Ding war wie aus Stahl gemacht. Darin zu atmen war nicht vorgesehen. »Du scheinst nicht gerade am Boden zerstört deswegen.«

Sie tauschten einen Blick. Erheiterung legte sich über Phins Gesichtszüge, vertrieb alles andere, was man in seinem Gesicht hätte lesen können. »Das ist fast acht Jahre her, Naomi. Andy und ich, wir waren beide noch jung. Das Zeitlos war der Mittelpunkt meines Lebens, und sie wollte ihr Atelier, Kleider entwerfen.« Einen Herzschlag lang schwieg er. Dann fuhr er fort: »Ich bin diesen Monat zweiunddreißig geworden. Ich habe meine Unschuld mit siebzehn verloren, und nein, Andy war daran nicht beteiligt. Mein erster Kuss war auf der Geburtstagsparty einer Klassenkameradin. Ich war zehn, sie war elf. Möchtest du wissen, mit wie vielen Frauen ich geschlafen habe?«

Naomi reckte das Kinn in die Höhe. »Nur wenn es dir dann auch gefällt, dass die rosarote Brille, mit der du mich betrachtest, irreparablen Schaden nimmt.« Zuckersüß troff es von jedem Wort, das ihr über die Lippen kam.

Phin kniff die Augen zusammen. Jenseits der entspannten Stimmung blitzte es gefährlich in seinen Augen. »Tatsächlich.«

Der Wagen wurde langsamer. Naomi hatte vorgehabt, Phin mit Blicken herauszufordern und seinem Blick standzuhalten. Sie wollte beweisen, dass sie in einem Designerfummel in einer Luxuskarosse sitzen konnte und nichts von der Frau dabei verloren ginge, von der Phin Clarke gar nicht wusste, dass es sie gab. Aber helles Licht flutete durch die getönten Scheiben der Limo herein, explodierte wie Feuerwerk. Naomi runzelte die Stirn und kniff die Augen zusammen, als sie aus dem Wagenfenster sah.

»Willkommen bei Swann’s«, meinte Phin trocken.

»Presse?« Das gefiel Naomi ganz und gar nicht. Viel zu viele Menschen. Fotos. Ihr Gesicht in den Nachrichten. Schlimmer noch, sie an Phins Arm. »Ich kann Journalisten nicht ausstehen.«

»Eine Bezeichnung wie diese verdienen sie kaum.« Phin drehte sich im Sitz um und klopfte an die Trennscheibe zur Fahrerkabine. Die Scheibe wurde heruntergelassen, und Martin neigte den Kopf unter der Chauffeursmütze, um zu signalisieren, dass er zuhöre. Währenddessen steuerte er den teuren Wagen sicher an unzähligen anderen Wagen derselben Luxusklasse vorbei.

Naomi blickte finster drein. Die Nacht der Nächte für die Reichen und Verruchten, was?

»Ich habe uns bereits angekündigt, Sir«, meldete Martin in seiner korrekten und präzisen Art. »Man erwartet Sie am rückwärtigen Eingang.«

»Danke.« Die Trennscheibe wurde wieder hochgefahren, und Phin drehte sich mit einem Lächeln zu Naomi um. Er rückte sein Jackett zurecht. »Damit wäre das dann erledigt.«

»Phin, ich möchte nicht …«

Er schüttelte den Kopf und hob abwehrend die Hand. »Entspann dich. Das hier ist eine Verabredung, Naomi. Ich bitte dich ja nicht gleich, mich zu heiraten. Es kann aber sein, dass ich dich bitte, mir noch einmal die rote Spitze zu zeigen«, fügte er mit einem jungenhaften Lächeln hinzu. Es schlug bei Naomi ein, bittersüß, und traf sie mitten ins Herz. »Nur hat das eine mit dem anderen wirklich nicht viel zu tun, glaub mir.«

Nein, hatte es wirklich nicht. Mit Sicherheit würde Naomi es überleben, ihm die eisblauen Dessous vorzuführen, die Andy in die Ankleidekabine geschmuggelt hatte, als Phin nicht hingeschaut hatte. Die waren tausend Mal sexyer als die rote Spitze. Naomi lächelte Phin an. Aber das Lächeln half nicht. Den Stich mitten ins Herz spürte sie immer noch, der Schmerz blieb.

Nervosität. Weiter nichts. Was sollte es auch sonst sein? Naomi strich ihr Kleid glatt, als die Lichter hinter der Limousine zurückblieben. Nach kurzer Fahrt hielt der Wagen.

Die Fahrertür wurde geöffnet, und Martin erschien am Seitenfenster.

Phin stieg als Erster aus, ließ Naomi die Zeit, Andromedas Abendrobe am Saum zusammenzunehmen. Erst dann streckte er ihr die Hand entgegen, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein. Die Hand versprach Sicherheit. Dieses Mal nahm sie Phins galantes Angebot an.

Sie ließ zu, dass er sie beim Aussteigen zu nah zu sich zog. Ihre Hand festhielt, die ganze Naomi bei sich hielt, als es schon lange nicht mehr nötig war.

Die kalte Herbstluft kratzte ihr mit Eisnägeln über die Haut, aber in Phins Arm, an seiner Seite, war es warm. Sie tauschten einen Blick. In seinen Augen züngelte wie Feuer sehnsüchtige Erwartung, Lust.

Sein Lächeln ließ Naomi all die guten Manieren vergessen, die sie nicht besaß.

Naomi achtete nicht mehr auf Martin, achtete nicht mehr auf Neonlicht und Blitzlichtgewitter, nicht auf das Stimmengewirr den Block hoch und einmal um die Ecke. Naomi neigte den Kopf, und das bisschen Distanz zwischen ihr und Phin schmolz dahin, als sie einen kleinen Laut ausstieß, aus tiefster Kehle, voller Ungeduld. Hungrig.

Phin zog sie näher an sich; der Arm um ihre Taille ein Lasso, das sie einfing, und sie ließ es willig geschehen. Jeder Muskel stand unter Spannung, nur Phins Lippen … Oh, diese Lippen, dieser Mund! Mit diesem Mund raubte Phin Naomi einen Kuss, löschte das gierige Feuer von ihren Lippen, nur um es neu zu entfachen. Sie vergaß die Kälte der Nacht, als seine Lippen ihren Mund liebkosten, als sie ihre Wärme, ihre schwüle Erwartung spürte. Sie schmeckten süß, diese Lippen, nach Naomis Lipgloss.

Sie schmeckten nach Nervenkitzel und nach Männlichkeit. Sie schmeckten ganz nach Phin.

Naomi blieb die Luft weg. Ihre Brustwarzen stellten sich auf, zwei Perlen, geboren aus der aufwallenden Hitze ihres Blutes, seltsam träge wie langsam schmelzendes Eis. Unfähig, den Kuss zu beenden, nicht willens, ihre Lippen von seinen zu lösen, ließ sie die Finger durch Phins Haar gleiten, legte ihm die Hand auf den Hinterkopf und zog Phin näher zu sich.

Lippen, die verschmolzen. Brüste, prall vor Lust und hungrig an seiner Brust. Sein Oberschenkel, zwischen ihre Schenkel geschoben. Ganz nah am Ort empfänglicher Feuchte, sensibilisierten Fleisches, das nur manifest gewordene Dekadenz aus Seide von Phin trennte.

Seine erigierte Männlichkeit, hart und drängend an ihrem Schoß.

Mit einem verhaltenen Lachen, kurz vor dem Absturz in etwas von unbändigerer Gefühlsgewalt, riss sich Naomi von Phins Lippen los. Die Hand wie einen Prellbock zwischen ihr und ihm gegen seine Brust, sagte sie: »Okay, Schlitzohr.« Es sollte ungezwungen klingen. Stattdessen verriet es, wie atemlos sie war. Wie sehnsüchtig, wie hungrig. Es verriet mehr, als ihr lieb war.

Seine Augen waren in dem gedämpften Licht der Nebenstraße schwer zu erkennen. Aber sein Lächeln war pure männliche Befriedigung. Er nahm die Hand von Naomis Hüfte, fasste sie stattdessen am Ellenbogen, um sie von der Limousine ins Nobelrestaurant zu geleiten. Aber zuvor brachte er seinen Mund nah an ihr Ohr und flüsterte: »Du schmeckst wie Milch und Honig.«

Das war keine Poesie, nur eine simple Feststellung. Schließlich schmeckte Naomi tatsächlich nach Milch und Honig. Es war der Lipgloss, den Andy ihr zugesteckt hatte und der ihre Lippen geschmeidig halten sollte. Naomi wusste das.

Aber Phins warmer Atem, der ihr Ohr mit Geisterfingern kitzelte, war wie eine Liebkosung. Seine Lippen streiften die empfindsame Haut an ihrem Hals, gleich unterhalb des Ohrs; seine Hand umschloss ihren Ellenbogen wie ein Schild aus Geborgenheit. Die simple Feststellung war ein Aphrodisiakum, steigerte die Lust, die als feuchte Hitze zwischen Naomis Beinen pulsierte.

Dessert? Naomi war sich nicht einmal sicher, ob sie es durch den Hauptgang schaffen würde.

Naomi drückte die Schulterblätter durch und machte mit weichen Knien ein paar Schritte heraus aus Phins Reichweite. Aus reiner Notwehr.

Der Mann hatte eine mehr als männliche Ausstrahlung.

Phin nickte dem Chauffeur zu, der mit ausdrucksloser Miene aufmerksam etwas in der entgegengesetzten Richtung gemustert hatte. »Martin, ich rufe durch, wenn Sie uns wieder auflesen können.«

Um die Ecke begann das nächste Blitzlichtgewitter. Die künstlichen Blitze sprenkelten kurz aufflammende Lichtpunkte über die Mauern der Stichstraße; schnell sich wandelnde Schatten tanzten über Ziegelsteine, die regennass glänzten. An der Einmündung der Nebenstraße in die Hauptstraße erkannte Naomi eine Gestalt, die gerade um die Ecke gebogen war.

Sie erkannte den Tweedhut, der keck aufs Ohr gesetzt war.

Na, endlich!

»Selbstverständlich«, erwiderte Martin und tippte sich an den Schirm seiner Mütze. Über sein Gesicht huschte die Andeutung eines Lächelns. »Genießen Sie das Abendessen, Sir. Ma’am.«

Jetzt musste Naomi nur noch einen Weg finden, Miles entweder in den Nobelladen zu schleusen oder die Waffe von ihm hier draußen auf der Straße in Empfang zu nehmen.

»Naomi?« Phin bot ihr den Arm, gerade als die blanke Glastür keinen Meter von ihnen entfernt aufglitt. Auf deren Schwelle hieß ein Mann in einem schwarzen Anzug und blütenweißem, gestärktem Hemd Phin und Naomi mit breitem Lächeln willkommen.

Rasch warf Naomi über die Schulter einen Blick zurück. Die Limousine war bereits losgefahren. Die Scheinwerferkegel erfassten Miles’ hochgezogene Schultern und den vom Regen durchgeweichten Mantel.

Er war noch nicht nah genug. Auf diese Entfernung konnte sie ihm keinen Wink geben.

»Sicher«, sagte Naomi etwas zu aufgeräumt und hängte sich bei Phin ein. Noch mehr Blitzlicht, noch mehr Stimmen, die wirr etwas riefen und wild Namen brüllten, die Naomi nicht verstand.

Unmittelbar über ihrem Kopf zerfetzte es Ziegelstein. Die Splitter flogen in alle Richtungen; wie ein tödlicher Hagelschauer regneten sie zu Boden, schlugen in die Mauer gegenüber ein. Ein Splitter streifte Naomis Unterarm, und Adrenalin flutete ihren Körper, ihr ganzes System, während auf weißer Haut ein vor Blut dunkler, dünner Streifen erschien.

Miles’ Stimme, Warnruf wie Befehl, hallte von den Mauern wider. »Runter!«

Ohne sich umzusehen, ohne überhaupt Zeit mit Denken zu verschwenden, war alles eine einzige fließende Bewegung: Phin beim Arm zu packen, den Mann herumzuwirbeln, den Saum des Kleides aus dem Weg zu kicken, nur fort von den spitzen, hohen Absätzen der zarten Sandaletten, mit derselben Bewegung ihres langen Beins, jetzt unbehindert auszuholen und Phin die Beine unter dem Körper wegzureißen. Er schlug auf dem Pflaster auf, ehe er überhaupt Zeit hatte, überrascht zu sein.

Naomi folgte ihm keinen Atemzug später, warf sich über Phin und nagelte ihn am Boden fest.

Der nächste Splitterhagel, der über ihren Köpfen niederging, schickte einen Regen scharfer Geschosse herunter. Besorgt und ohne jegliches Gespür für die Gefahr, eilte der Maître aus der relativen Sicherheit des Eingangsbereichs herbei.

Er fuhr zusammen, als ein Steinsplitter ihm die Wange aufschlitzte.

»Rein mit Ihnen, sofort!«, brüllte Naomi. Aber der Idiot gehorchte nicht. Nur seine Hand zuckte hoch zur verletzten Wange.

Naomi hörte die Schüsse nicht. Konnte sie nicht herausfiltern aus dem Geschrei der Menge einen halben Block weit entfernt. Aber der Maître fiel zu Boden wie eine Marionette, der man die Fäden durchtrennt hat. Wie in Zeitraffer erblühten auf seiner Brust Blumen aus Blut von der Knospe zur vollen Blüte. Das Glas der Tür hinter ihm bekam Sprünge. Zerbarst.

Für den Mann kam alles zu spät.

Naomi war schon wieder in Bewegung. Während sie sich von Phin herunterrollte und sich den Saum des Kleides griff, sprang sie auf die Füße. »Miles!«

Der Missionar klebte auf der gegenüberliegenden Straßenseite an der Mauer. »Scharfschütze!«, brüllte er und warf Naomi den kleinen, schwarzen Kasten zu, den er bei sich hatte. Die Bewegung war von einer Mühelosigkeit, die nur durchtrainierte Muskeln besitzen. Der Kasten erwischte Naomi voll an der Brust und trieb ihr für einen Augenblick alle Luft aus den Lungen. Aber Naomi fing den Kasten sicher auf.

Endlich. Verflucht noch eins, endlich eine Waffe!

Miles fing die regenbogenfarbene Handtasche, die sie ihm im Tausch für die Waffe zuwarf. »Clarke hat erste Priorität«, befahl er, »bring ihn in Sicherheit.« Miles startete durch, zurück in Richtung der Lichter, in Richtung Straßenkreuzung. Er würde das Gebäude umrunden, und sie musste Phin aus dem Schussfeld schaffen. Sie wusste, dass das Licht, das aus dem Restaurant auf die Straße fiel, wie ein Scheinwerfer auf sie gerichtet war. Sie waren das perfekte Ziel; sie hätte sich auch mit Neonfarbe übergießen und eine Zielscheibe auf ihren Rücken malen können. Naomi riss den Deckel des schwarzen Kastens auf.

»Naomi!« Phin kniete neben dem reglosen Maître und beugte sich über ihn, als könnte er noch etwas für ihn tun, wenn ihm selbst eine Kugel erst den Schädel zerfetzte. Ein Ärmel des edlen Jacketts war herausgerissen, überall Straßendreck und Matsch von den Pfützen.

Andromedas wundervolles Kleid würde nie mehr aussehen wie zuvor, selbst wenn Naomi sämtliche Flecken herausbekäme.

»Weg von dem Mann!«, befahl sie rau und musste sich selbst gegen das Gefühl abschotten, ihm helfen zu wollen, dagegen, um schimmernde Seide zu trauern. Ihre eigene Haut und Phins Leben zu retten, verdammt noch mal, zählte, sonst nichts! »Phin, raus aus dem Licht!«

Endlich schlossen sich ihre blind tastenden Finger um den Griff der Waffe. Eine Beretta – nicht gerade ihre Lieblingsknarre. Und trotzdem: was für eine Erleichterung! Für den Bruchteil einer Sekunde gestattete sich Naomi, die Waffe in der Hand zu wiegen, ihr Gewicht zu spüren. Ihre Kälte, ihr Gewicht, ihre handfeste Zuverlässigkeit. Sie tastete nach dem Abzug.

Die Waffe wurde zu einer Verlängerung ihres Arms.

Eine schnelle Folge von Schüssen ließ das Glas zu ihren Füßen hochspritzen. Tänzelnd wie ein Boxer sprang sie zurück, brachte sich aus dem Lichtkegel. Dieses Mal gab es kein aufgeregtes Geschrei und Geschnatter, das den Knall der Schüsse überdeckt hätte. Gewehrschüsse krachten wie ferner Donner, dumpf, als würde der scharfe Laut von einem schallgedämmten Raum geschluckt. Dumpf, aber nicht unhörbar.

»Verflucht, Phin, mach endlich, dass du hier rüberkommst!«

»Aber …«

Sie hechtete durch den Lichtkegel, packte Phin am Kragen und riss ihn hoch auf die Füße. Der Schwung ließ ihn gegen sie taumeln. Von der Gegenbewegung wäre er rücklings wieder in den Lichtkegel befördert worden. Einer der Bleistiftabsätze brach, als Naomi Phins Gewicht abfing, um das zu verhindern.

Phin war schockiert, sein Gesichtsausdruck grimmig. Sein Blick war glasig, als er seine blutigen Finger zornig in Naomis Arm krallte. »Was ist hier los?«

Ein paar Sekundenbruchteile reichten dafür, Phin ins Gesicht zu blicken, ihm einen Stoß zu versetzen, der heftig genug war, um sich aus seinem wütenden Griff zu befreien, sich mit ihm wie in einem bizarren Ballett um die eigene Achse zu drehen. »Das ist Scheiße!« Die Kugel, die Naomi traf, riss die Jägerin herum. Das Geschoss schrappte über ihre Schulter, zog eine tiefe Furche die Schulter entlang bis zum Hals, am Hals entlang. Verdammt nah an der Halsschlagader. Verdammt zu nah an Naomis Kehle.

Einen Lidschlag zuvor war Phin noch dort gewesen, genau dort, wo die Kugel ihre Bahn genommen hatte. Bevor Naomi ihm den Stoß versetzt hatte, aus dem Schussfeld heraus.

Naomi fing sich an der Wand hinter ihr, stieß sich ab, während Schmerz ihr Blickfeld in blutrote und goldene Sternchen zerfetzte. »Lauf!«, spie sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Beweg dich! Sie musste nur in Bewegung bleiben, immer weiter, bis Phin und sie in Sicherheit wären.

Keine Zeit für blutende Wunden.

Sie biss die Zähne noch fester zusammen und zerrte Phin vom Gehweg hinunter in die Dunkelheit der Stichstraße, auf deren Einmündung in die Hauptstraße zu. Sie trieb ihn vor sich her, auf die Blitzlichter zu und die Traube aus Reportern und ankommenden Gästen vor dem Haupteingang des Swann’s. Sie ließ ihm keine Zeit, irgendwelche Fragen zu stellen.

Sie war sich sicher, Schock und Angst hatten ihn ebenso im Griff wie sie. Nur das Adrenalin hielt sie aufrecht. Naomi ließ Phin nicht los, stieß ihn, die Faust in sein Jackett hineingekrallt, immer weiter vor sich her. Die Straße hinauf.

Erste Priorität.

Mit voller Absicht blieb sie zwischen Phin und dem Scharfschützen, deckte Phins Rücken mit ihrem Körper. Der Kerl war nicht sonderlich gut im Zielen. Oder, dachte sie, und Schmerz brannte in der pochenden Wunde bis hinunter in ihre Schusshand, oder der Kerl ist gerade gut genug.

Funken stoben von der Wand hinter ihnen, noch mehr Splitterhagel folgte. Naomi wusste nicht, ob die scharfen Geschosse sie trafen. Sie spürte nichts außer dem Adrenalin, das in ihren Adern kochte, und dem Brennen in der Scharte zerfetzten Fleisches, die ihr die hinterhältige Ratte mit einer seiner Kugeln bereits verpasst hatte. Adrenalin und Schmerz gaben ihr die Kraft, Phin um die Hausecke am Ende der Seitenstraße zu schieben. Sie drängte ihn hinein in das Gewusel aus Menschen, das hohe Gitter und ein Kordon aus uniformierten Sicherheitskräften vom Eingang des Swann’s abschotteten.

Abrupt blieb Phin stehen, ließ Naomi auflaufen. Ehe sie ihn anbrüllen konnte, war er zu ihr herumgewirbelt und hatte ihr im selben Moment schon die Waffe entwunden. Er steckte sich die Beretta hinten in den Hosenbund, wo das Jackett sie verbarg. Dann packte er Naomi, seine Hände um ihre Oberarme wie Schraubzwingen. »Bleib ganz nah bei mir!«, verlangte er kategorisch. Er zog sie an die Brust, als die Ersten im Mob auf sie aufmerksam wurden. »Lächeln, los, mach!«, befahl er. Sein Ton ließ keinen Widerspruch zu. Phin legte Naomi den Arm um die Schultern.

Er barg Naomis verletzte Schulter unter seiner Armbeuge; die Wunde brannte wie Höllenfeuer. Fast hätte Naomi sich vor Schmerz unter Phins Arm aufgebäumt.

Phin bemerkte es nicht, oder zumindest reagierte er nicht darauf. Stattdessen zwang er Naomi, ihm den verletzten Arm um die Taille zu legen, hielt sie fest, stützte sie, als ihr die Knie unter dem eigenen Gewicht nachgeben wollten.

»Lächeln!«, drängte er sie noch einmal.

Sie gehorchte. Irgendwie gelang es ihr, mit Lippen, die sich kalt wie Eis anfühlten, und mit Gesichtsmuskeln, die hart vor Anspannung waren.

»He, das ist ja Phin Clarke! He, Clarke, verraten Sie uns, wer die unbekannte Schönheit in Ihrer Begleitung ist?«

»Hübsch, Ihre Neue, Mr. Clarke. Hat wohl schon ein bisschen zu viel getankt, was?«

»He, Phin, Mann, zeigen Sie uns, wie Sie sie küssen!«

»Ist sie das, die Richtige?«

Phin sagte nichts, tauchte mit Naomi im Arm nur tiefer in die Menge hungriger Klatschreporter ein. Vorbei ging es an den Fotografen, die sich zu ihnen umdrehten wie schreckensstarres Wild, nicht wussten, wohin sich zuerst wenden, zu Phins unerwartetem Auftauchen hinter der Sicherheitsabsperrung oder zu den Reichen und Schönen, die ins Swann’s pilgerten.

Die Sicherheitskräfte des Swann’s beeilten sich, die Gitterabsperrung für Phin und Naomi zu öffnen, schwenkten sie weit auf und ließen sie eintreten. Phin hielt Naomi eng an sich gedrückt; sie spürte seine Rippen. Er schützte Naomis verletzte Schulter und stützte sie, lenkte ihrer beider Schritte in Richtung Haupteingang. Sie schlängelten sich durch die Reihen der ankommenden Luxuslimousinen, die eine nach der anderen vor dem Eingang hielten, um ihre Fracht abzusetzen, all die Berühmten und Reichen, die keinen Blick für das hatten, was um sie herum vorging.

»Immer schön lächeln«, raunte Phin Naomi aus dem Mundwinkel heraus zu. Die Fotografen, in ihrer Blutgier wie Haie, zögerten. Dann aber, wie ein Mann, schwenkten sie von Naomi und Phin, die ihnen nur die Rückenansicht boten, wieder hinüber zum roten Teppich vor dem Swann’s.

Als sie aus Blitzlichtgewitter und Lichtkegeln heraus waren, die brüllende, kreischende Menge hinter sich gelassen hatten, konnte Naomi schon wieder atmen, ohne Sternchen zu sehen. »Moment«, sagte sie. »Warte! Warte, wir müssen …«

»Wir müssen dich zurück ins Zeitlos schaffen.« Phin löste das Com von seinem Gürtel, wählte eilig. »Martin, wir sind einen Block links vom Swann’s. Beeilen Sie sich. Rufen Sie im Zeitlos an, und sagen Sie meinen Eltern, dass wir unterwegs sind.«

Er schaute nicht auf Naomi, während er das Com wieder zurück an den Gürtel steckte. Nicht richtig zumindest. Stattdessen schlüpfte er aus dem Sakko, dessen Ärmel jetzt von ihrem Blut durchtränkt war, und legte es ihr um die bebenden Schultern.

Er verzog keine Miene. In der Dunkelheit war sein Gesicht nicht mehr als eine ausdruckslose Maske aus Stein.

»Bleib aus dem Licht raus«, sagte Naomi, die sich den Arm hielt und sich hin und her wiegte. »Bleib in den Schatten. Dann bist du schwieriger zu treffen.«

»Wir zwei reden noch darüber, woher du so etwas weißt.« Seine Stimme passte perfekt zu der Unerbittlichkeit, die in seinem Gesicht stand. Unnachgiebig wie die Finger, die ihren verletzten Arm umspannten und stützten. »Sehr bald schon.«

Naomis Lächeln war dünn und so scharf wie ein Rasiermesser. »Nein«, sagte sie leise. Die Schmerzen ließen ihre Stimme zittrig klingen. Sie holte Luft, sog klare, frische Luft in ihre Lungen. »Das werden wir ganz sicher nicht.«

Naomi wusste nicht, was Phin seinem Chauffeur bezahlte. Aber Martin erkannte Dringlichkeit, wenn er sie hörte. Die schwere Limousine kam die Straße heraufgeschossen und mit quietschenden Reifen genau auf ihrer Höhe zum Stehen. Phin riss den Wagenschlag auf und half Naomi in den Wagen hinein und in den Sitz, als wäre sie ein Kind, das mit den Sicherheitsgurten noch nicht zurechtkommt.

Er war umsichtig, fast sanft zu ihr. Er hätte auch anders mit ihr umspringen können. Aber Naomi spürte seine Sorge um sie, während er sich um sie kümmerte. Sie sah, wie es um seinen Mund zuckte, als er den langen Rock ihres ruinierten Kleides um ihre Beine stopfte.

Ihr Arm brannte wie Feuer. Überall, wohin sie fasste, war es nass. Was bedeutete, dass sie alles andere als aus dem Schneider war. Ein klein wenig veränderte sie ihre Sitzposition und musste unter Würgen einen Schmerzenslaut zurückhalten. Schmerz, gallebittere Wut, alles wollte heraus aus ihrer Kehle und sollte es nicht. »Handtuch«, brachte sie mühsam heraus. Phin schnappte sich eines aus der kleinen Bar, in der sich der Champagner befand. Naomi wollte es ihm aus der Hand nehmen. Aber er wischte ihre Hand beiseite, rutschte vom Sitz und kniete sich vor sie. Zwischen ihre Beine. Schon wieder.

Wie eine Welle an Fels brach sich das Lachen, das Naomi gern gelacht hätte, an den zusammengebissenen Zähnen.

Sanft, aber viel zu entschieden, um sich ihm zu verweigern, berührten seine Fingerspitzen ihr Gesicht, ihr Kinn, sorgten mit sanftem Druck dafür, dass Naomi den Kopf zur Seite neigte. Vor Schmerz sah sie Sterne. Dass Phin beim Anblick der Wunde nach Luft schnappte, als er den Kragen des Jacketts zurückzog, sagte ihr, dass die Verletzung exakt so schlimm war, wie sie vermutet hatte.

»Bleib bei mir!«, hörte sie Phins Stimme. Es klang dringend. Naomi nickte, nur die Andeutung einer Kopfbewegung, nicht mehr. Phin presste das Handtuch auf das zerfetzte, blutende Fleisch der Schusswunde. Schmerz, heiß und unerträglich, riss Naomi ins Vergessen. Sie spürte nichts mehr. Um sie herum wurde es schwarz.