KAPITEL 15
Sie hatte sich kaum gewehrt.
Joe gab sich nicht die Mühe, ihre Leiche an einem weniger offensichtlichen Ort zu verstecken. Der Schrank in der Umkleide würde ihn zumindest nicht noch mehr wertvolle Zeit kosten. Na ja, um Zeit ging es eigentlich gar nicht mehr. Entweder bekam er, was er brauchte, oder er war ein toter Mann. Naomi West war ihm schon gefährlich dicht auf den Fersen.
Er konnte sie förmlich spüren.
Also jetzt oder nie.
Eines war sicher: Die Gerüchte, die Legenden waren wahr. Das sagte ihm sein Bauchgefühl, und seine Ahnungen hatten ihn noch nie getrogen. Deswegen war er ein verflucht guter Missionar. Der Beste. Seine Ahnungen und seine Vorgehensweise.
Erfahrung und Instinkt.
Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass die Quelle hier war. Dass er sie endlich gefunden hatte. Er brauchte nur den richtigen Schlüssel. Und das richtige Schloss, in das der Schlüssel auch passte.
Als der herausragende Missionar, der Joe nun einmal war, würde er sicher finden, was er suchte, keine Frage.
Nur war er dieses Mal nicht so schnell ans Ziel gelangt wie sonst. Die Fäden zu ziehen, die Falle aufzustellen – das alles hatte viel mehr Zeit in Anspruch genommen, als er geplant hatte. Jetzt aber hatte er mit der Schlüsselkarte der Kleinen, was er brauchte. Die Schlüsselkarte gewährte ihm Zugang zur Suite im siebten Stock. Von dort aus war es nur ein Katzensprung bis zu der Etage mit den Schönheitssalons.
Von dort aus könnte er überallhin, ohne gesehen zu werden. Und niemand würde etwas mitbekommen.
Es ärgerte ihn, dass die Innenflure nicht zu den Verwaltungsbüros führten. Aber nachdem er jetzt dieser nutzlosen Schlampe die Schlüsselkarte abgenommen hatte, würde eine clevere Umprogrammierung ihm Zugang überall dort gewähren, wo er ihn brauchte. Das einzige Risiko war die Kamera im Aufzug. Aber wahrscheinlich, damit rechnete er jedenfalls, war die ganze Sache vorbei, ehe man in ihm mehr als ein paar Pixel in einer Zeitlos-Uniform erkannte.
Geheimgänge, das nötige Händchen fürs Digitale und eine Liquidierung, die darauf wartete, in die Tat umgesetzt zu werden. Herrgott, er liebte seinen Job!
Obwohl er dem hübschen Jüngelchen zugestehen musste, zumindest versucht zu haben, seine archivierten Gäste-Unterlagen sicher wegzuschließen, hatte sein simples Kodierungssystem Joe nicht allzu lange aufhalten können.
Wissen war eine wunderbare Sache. Joe etwa wusste, dass die Familie Clarke Daten und Einzelheiten nur aus einem einzigen Grund so akribisch archivierte: um zu helfen, um zu lindern und es allen wohlergehen zu lassen, ach, diesen ganzen verfluchten Scheiß eben! In seinen Händen, was wäre das Wissen da? Eine Waffe.
Waffen machten so viel mehr Spaß.
Joe hatte sein nächstes Ziel bereits ausgesucht, und Junge, Junge, war das ein Volltreffer! Abigail Montgomery war zwar nur irgendeine Tusse mit Geld, jedenfalls soweit Joe wusste, aber mit ihr hätte er endlich den Hebel, der ihm die ganze Zeit über gefehlt hatte. Die Beziehung zwischen der Montgomery und der West, egal, wie vage sie sein mochte, war genau, was er brauchte.
Mit zitternden Händen hatte er zwei Stunden lang Schwerstarbeit geleistet. Er hatte sich nur eine kurze Erholungspause gegönnt, und zwar weil ihm seine Finger den Dienst versagten. Aber danach hatte er sich gezwungen, wieder an die Arbeit zu gehen und dranzubleiben.
Zu isolieren, zu trennen und neu zu verbinden.
Jetzt war alles vorbereitet. Joe hatte Abigail Montgomery im Visier.
Wenn sie draufging, erschiene Naomi West auf der Bildfläche. Ihre enge Beziehung zum Zeitlos würde die Magiebesessenen zwingen, sich selbst zu entlarven. Ihr Schweigen zu brechen und aller Welt zu offenbaren, was bisher allein ihr Schatz gewesen war.
Reiches, verwöhntes Pack, selbstsüchtig und aufgeblasen! Sie horteten, was ihm, Joe Carson, gehören sollte. Versteckten es vor einer Welt, mit der sie es teilen sollten. Mit ihm, verfluchter Dreck! Mit Menschen wie ihm.
Naomi würde auftauchen, weil er sie geärgert hatte. Joe hatte seine Kollegin nicht verletzen wollen. Er hatte es auf Clarke abgesehen gehabt. Seine Kugel hätte das Jüngelchen so schwer verletzt sollen, dass sie alle nichts Hastigeres zu tun gehabt hätten, als die Quelle zu offenbaren.
Stattdessen hatte West das Bürschchen aus der Schussbahn gestoßen. Joe hatte stattdessen sie erwischt. Einen kurzen Moment lang hatte er wegen des vielen Blutes befürchtet, er könnte sie tödlich getroffen haben. Der Tod war jenseits alles Erreichbaren, selbst für Magie. Aber gestern Abend hatte Joe gerade noch einmal Glück gehabt.
Gott hatte seine Hand über ihn gehalten. Der Unfall, der schlampig gesetzte Schuss, hatte Joe Carson den lang ersehnten Beweis beschert.
Naomi geheilt zu haben würde den Clarkes das Genick brechen. Sie hatten sie. Sie hatten Joes Schatz in ihrer Gewalt, seine Erlösung, seine Rettung. Er war nicht schnell genug zurück gewesen, um Zeuge der Heilung zu werden. Aber er hatte Naomi bereits herumspazieren sehen. Deutlicher konnte es nicht werden.
Die Quelle existierte. Jetzt musste er sie nur noch in seine Gewalt bringen. Ganz wie sein Kontaktmann es ihm gesagt hatte.
Er hatte das Schloss gefunden. Jetzt galt es nur noch, den Schlüssel einzuführen.