KAPITEL 6
»Zwei Suiten sind nicht mehr belegt; die Gäste haben ausgecheckt.« Phin war auf einem Kontrollgang durch das Resort. In Lillians Stimme, die über den Lautsprecher des Coms unmittelbar in sein Ohr drang, schwang deutlich Resignation mit. »Alexandra und ihr Gefolge natürlich. Sie hat ihr Bedauern bekundet.«
»Ich nehme an, sie ist nach Hause, um sich von ihren eigenen Ärzten behandeln zu lassen«, brummte Phin. Mit einem launigen Lächeln und einem kurzen Nicken ging er an zwei zum Personal gehörenden Privattrainern vorbei.
In diesem Bereich des Spas konnte er nichts Ungewöhnliches entdecken.
Phin hielt das Com ans andere Ohr, als Lillian fortfuhr: »Und dann noch der süße Arzt aus Neuengland.«
Verdammt! Gerade von diesem Gast hatte sich Phin positive Mundpropaganda auf dem anderen Kontinent erhofft. Phin blieb mitten im Flur stehen und kniff sich in den Nasenrücken. »Was für einen Eindruck hat er beim Auschecken gemacht?«
»Er wirkte sehr gelassen. Er hat auch keinerlei Missfallen geäußert, im Gegenteil: Er hat den Service und die Reibungslosigkeit der Abläufe ausdrücklich gelobt. Trotzdem ist er ganze vier Tage früher als geplant abgereist. Daraus lässt sich leider mehr als genug schließen.« Im Hintergrund hörte Phin gedämpft das Klicken, das verriet, wie behände Lillians Finger über die Tastatur flogen. Es fiel Phin nicht schwer, sie sich in dem kleinen, aber exquisit möblierten Büro vorzustellen, das gleich neben seinem lag. Kerzengerade säße sie an ihrem Schreibtisch, das Haar wie immer mit elegantem Schwung hochgesteckt.
Das perfekte Bild einer Vorstandssekretärin aus dem letzten Jahrhundert.
Phin presste die Finger auf die brennenden, müden Augen. »Okay«, meinte er dann. »In Ordnung, das ist jetzt keine Totalkatastrophe. Ging es Alexandra gut?«
»Deine andere Mutter hat sich hervorragend um sie gekümmert, ganz wie immer.«
»Ich wollte wissen, ob es ihr gut ging.«
Lillian seufzte kurz. »Sie wirkte mitgenommen. Aber sie ist auf dem Weg der Besserung. Was ist mit den angeblich Magiebegabten, die du gestern Nacht noch rausgebracht hast?«
»Wurden Gott sei Dank alle gut in Sicherheit gebracht. Joel und sein Team waren noch vor Mitternacht wieder zu Hause.«
»Dann hat sich der zusätzliche Fahrer also noch auftreiben lassen«, vermutete Lillian in ihrer pragmatischen Art. Geradeaus wie immer. »Sehr gut. Und was ist mit der Sauna?«
Phin drehte sich um, blickte den Flur einmal rechts, einmal links entlang, ehe er seiner Müdigkeit nachgab und sich erschöpft an die Wand lehnte. In seinem Kopf hörte er noch immer die grimmig hervorgebrachten Worte des Wartungstechnikers. »Sabotage scheint die wahrscheinlichste aller Ursachen.«
Das Klackern der Tastatur hörte abrupt auf. »Wie bitte?!«
»Der Wartungsdienst hat die Sauna einer kompletten technischen Überprüfung unterzogen. Die Techniker haben die ganze Nacht durchgearbeitet.«
»Was dann wohl bedeutet«, vermutete seine Mutter, die ihren Sohn nur zu gut kannte, »dass du auch die ganze Nacht auf warst. Ich hoffe, du hast dich wenigstens kurz hingelegt?«
Phin schnitt eine Grimasse. »Mir geht’s gut. Der Sauna dagegen nicht. Wir haben sie idiotensicher verbarrikadiert, damit niemand mehr die Kabine betreten und benutzen kann. Aber ich vermute, unsere Gäste werden wohl noch eine ganze Weile sämtliche Dampfbäder unseres Hauses meiden.«
»Was wissen wir über die Sabotage?«
»Die Kurzversion? Jemand hat die Leitungen überbrückt und die Türverriegelung für den Desinfektionszyklus kurzgeschlossen.« Phins Schädel machte ein dumpfes Geräusch, als er ihn gegen die Wand fallen ließ. »Im feuchten Saunadampf hat es nicht lange gehalten – wahrscheinlich hat Alexandra nur deshalb überlebt. Nur ein paar Minuten länger …«
Lillian gab einen Laut von sich, der andeutete, dass sie anderer Meinung war. »Ein paar Minuten länger wären nicht das Ende gewesen. Aber eigentlich ist das ganz egal. Denn das einzig Wichtige ist jetzt, den Saboteur aufzuspüren.«
Phin hatte sich die Augen gerieben und nahm die Hand nun weg. Blicklos starrte er hinüber auf eine Reihe Glasfenster. Sie trennten das große, zentrale Fitnessstudio von den Trainingsräumen, die es umgaben. »Das genau ist das Problem, meinst du nicht auch? Zunächst einmal: Wer hat Interesse daran, so etwas zu tun?«
»Irgendein Widersacher?«
»Wessen Widersacher denn?«, meinte Phin leise. »Auf jeden Fall muss es jemand sein, der das technische Know-how hat, um einen Sabotageakt wie diesen auszuführen.« Am Rand von Phins Sehfeld blitzte etwas türkisfarben auf. Er neigte den Kopf zur Seite und stieß sich von der Wand ab. Als es wieder türkis aufblitzte, richtete er sich zu voller Größe auf.
»Hast du alle Techniker überprüft? Den ganzen Wartungsdienst?« Nachdenklich schwieg Lillian einen Moment. »Was ist mit den zeitweilig Beschäftigten? Die kommen ja alle durchs Kellergeschoss ins Haus.«
»Mh-hmm.« Lautlos, weil der dicke Teppich die Geräusche seiner Schritte schluckte, schlenderte Phin hinüber zum Glaskubus. »Alle Techniker sind seit mehr als einem Jahr bei uns. Wenn es einer von denen war, was ich bezweifele, würde es sich um einen Anschlag mit extrem langer Vorbereitungszeit handeln. Aber warum dann ausgerechnet jetzt? Alexandra ist oft bei uns.«
»Bleiben die Zeitweiligen: Was ist mit denen?«
Phin runzelte die Stirn. Er legte die Fingerspitzen der freien Hand gegen die kühle Fensterscheibe. Er hatte nur noch Augen für Naomi Ishikawa. Sie war auch schwer zu übersehen.
Und unmöglich zu ignorieren.
»Glaube ich nicht«, meinte Phin. Die Art, wie Naomis türkisfarbenes Top ihren Oberkörper umschmeichelte wie eine zweite Haut, machte es ihm schwer, sich zu konzentrieren. Das Top ließ ihren Rücken vom Nacken bis zu den Schulterblättern frei. Phin konnte das Spiel ihrer festen Muskeln unter der nackten Haut beobachten, während die dunkelhaarige Schönheit einen mannshohen Sandsack mit den Fäusten bearbeitete.
»Warum nicht?«
»Das hab’ ich im Gefühl. Vertrau mir einfach. Mutter, ich ruf’ dich zurück!« Ohne auf Lillians Antwort zu warten, legte Phin auf.
Es war ihm unmöglich, den Blick von Naomi abzuwenden. Sie hatte etwas Suchterzeugendes an sich; sie faszinierte ihn auf nie gekannte Weise. Es hatte mit der Art zu tun, wie ihre bandagierten Fäuste auf das raue Leder des Sandsacks trommelten. Es waren die Bewegungsabläufe, die einmal die Anmut und Geschmeidigkeit einer Tänzerin besaßen, gleich darauf aber urplötzlich vor geballter Wut strotzten. Fäuste wie abgefeuerte Geschosse. Ob beim Jab, dem Schlag mit der Führhand, beim Haken, beim Cross, der Geraden mit der Schlaghand – immer dieselbe Präzision, dieselbe Eleganz, dieselbe Wut. Bei jedem Schlag, den Miss Ishikawa platzierte, wippte ihr Pferdeschwanz.
Mit einem Grinsen quittierte Phin, als sie gedankenschnell und perfekt ausbalanciert mit einem Schienbein den Sandsack traktierte. Der Aufschlag knallte so hart und laut wie ein Gewehrschuss.
Die Frau ging den Sandsack an, als habe das tote Ding ihre Mutter beleidigt. Es war ein verteufelt hartes Trainingsprogramm, das die reiche Erbin da absolvierte.
Phin öffnete den digitalen Bildschirm seines Coms und gab eine schnelle Folge von Befehlen ein. Innerhalb von Sekunden füllten Naomi Ishikawas gebuchte Termine für ihren Aufenthalt im Zeitlos das Display. Phins Grinsen wurde noch breiter.
Sie hatte doch tatsächlich einen Termin bei Joel sausen lassen, um dieses in die Knochen gehende Training durchzuziehen.
Entweder hatte die Dame eine Vorliebe für Schmerz und harte Sachen, oder sie war …
… auf etwas anderes aus.
Auf Sabotage vielleicht? Der Gedanke wischte Phin das Grinsen vom Gesicht. Entschlossen klappte er das Com zu. Unmöglich. Naomi Ishikawa war bei ihm gewesen, als sie die ersten Schreie hörten.
Aber vorher? Sie hatte gesagt, sie wolle sich im Zeitlos umsehen.
Phin schüttelte den Kopf. Paranoia war überhaupt nicht seins. Mit einer Überprüfung der internen Sicherheitsaufzeichnungen wäre es zudem leicht, herauszufinden, wo Miss Ishikawa sich herumgetrieben hatte. Die Aufzeichnungen, wo sie gewesen war und alle anderen Gäste. Wenn alle überprüfbare Alibis für den entsprechenden Zeitraum hätten, würde Phin sich unter dem Personal nach dem oder den Schuldigen umsehen müssen.
Wie ein Donnerschlag hallte ein weiterer Tritt gegen den Sandsack durch die Trainingshalle, gedämpft von den dicken Glasscheiben. Naomi Ishikawa tänzelte zurück, schüttelte die Anspannung aus dem rot angelaufenen, getapeten Fuß und verlagerte mit einer fließenden Bewegung ihr Gewicht.
Faszinierend.
Phin klippte das Com zurück an den Gürtel und machte sich daran, hinter die Glaswände des Kubus zu gelangen. Miss Ishikawa war derart beschäftigt damit, den unschuldigen Sandsack umzubringen, dass sie nicht bemerkte, wie Phin sich ihr näherte. Sie überhörte sogar das höfliche, leise Hüsteln, mit dem er ihr seine Anwesenheit signalisierte.
Naomi Ishikawas Schultern bewegten sich; die Bewegungen waren flüssig, kontrolliert. Ihre Fäuste schossen vor, verpassten dem Sandsack eine rasche Folge wohl platzierter, harter Schläge. Gedankenschnell duckte sie sich unter den Kontern eines imaginären Angreifers weg. Die Bewegungen ihrer Hüfte waren erregend. Durchtrainierte Beinmuskeln spielten, und Naomi brachte ein Knie hoch, um es mittig in den Sandsack zu bohren. Zwei weitere harte Kniestöße gegen den Sack folgten unmittelbar darauf.
Sie war ein Teufel auf nackten Sohlen.
Ihr Pferdeschwanz tanzte wild von rechts nach links und wischte wie schwarze Seide über ihre schweißnassen Schultern. Haarsträhnen blieben an ihrer Haut kleben, auch am Nackenansatz, wo es silbrig glänzte.
Mit einem Mal war Phins Mund staubtrocken.
Eine winzige, zarte Hantel aus zwei Silberperlen. Sie glitzerten wie Sterne, genau in der Mitte der sanften Beuge zwischen Nacken und Schultern, eine sündige Andeutung nicht mehr als ein Wink, der einen in den Wahnsinn zu treiben vermochte.
Ein Piercing. Ein versteckter Schmuck, den Phin nie an dieser Körperstelle vermutet hätte. Nicht an dieser Frau, dieser hinreißenden Erbin mit dem japanischen Namen. Nicht an irgendeiner Frau aus seinen Kreisen.
Lust kitzelte wie Strom führender Draht durch seine Eingeweide. Sein Schwanz, der bereits wach und bereit zu mehr gewesen war, wurde schlagartig hart, so hart, dass es wehtat. Phin musste sich bewegt haben, oder vielleicht war auch ein rauer, abgehackter Laut seiner Kehle entschlüpft. Denn Naomi Ishikawa wirbelte herum.
Ihre Wangen waren gerötet vor Anstrengung, der Blick wach und glasklar. Ihr Atem ging schnell. Sie brauchte sehr viel länger, als Phin lieb war, um die Fäuste sinken zu lassen und eine weniger martialische Haltung einzunehmen.
Eine allerdings kaum weniger martialische Haltung.
Aber wenigstens konnte Phin das verdammte Piercing nicht mehr sehen. Irgendwie gelang es ihm dadurch, seinen zerfaserten Verstand zusammenzukratzen. Er folgte Naomis Blick. Um sich nützlich zu machen, fischte er die grüne Wasserflasche von der Bank gleich neben ihm, der der Blick gegolten hatte.
»Ihr Workout war hoffentlich befriedigend«, sagte er, als er Miss Ishikawa, Flaschenboden voraus, das gewünschte Wasser reichte.
Sie nahm einen ersten Schluck vom kühlen Nass, trank dann gierig. Ihre Kehle hüpfte. Jetzt mit der Zunge die schweißnasse Linie vom Hals hinunter zu ihrer Schulter nachfahren – Phin hätte nichts lieber getan. Herr im Himmel! Ärger auf zwei Beinen.
»Ja«, sagte sie schließlich als Reaktion auf seine Frage. Sie wischte sich mit dem Unterarm über den Mund und fügte ein heiseres: »Gut ausgestattet.« hinzu.
»Danke.« Er brachte es mit ruhiger Stimme heraus, selbst, als er die Hitze spürte, die ihm ins Gesicht zu schießen drohte. Miss Ishikawa sprach nicht von ihm. Zumindest glaubte er, sie spräche nicht von ihm. Sie hatte die Ausstattung von Fitnessstudio und Trainingshalle gemeint, nicht die pulsierende Männlichkeit in seinem Schritt.
Aber seinen Ständer zu ignorieren, half ihm kein Stück weiter. Nicht solange Miss Naomi Ishikawa, Ärger auf zwei Beinen, so vor ihm stand. Ihn beobachtete.
Und dabei, zum Henker, so atmete.
Das Top, entschied er, stand ihr nicht besonders. Es war für sportliche Betätigungen gedacht und presste ihre Brüste viel zu flach an. Das war sicher nötig bei der Art von Training, bei dem sich Miss Ishikawa offenkundig gern auspowerte.
Phin ließ seinen Blick über die Kurven schweifen, die das stramm sitzende, türkisfarbene Sport-Bustier noch zuließ, hinauf zu Miss Ishikawas Hals, der schweißnass glänzte. Der Blick wanderte weiter hinauf zu ihren geröteten Wangen und blieb genau an der Schramme über ihrem Nasenrücken hängen. Die wirkte mit einem Mal viel weniger grob, stattdessen weich.
Vertraut.
Einer von Phins Mundwinkeln hob sich zur Andeutung eines kecken, schiefen Grinsens. »Sie haben meine Mutter kennengelernt.«
»Wie bitte?«
Als er die Hand an die eigene Nase hob, um ihr klarzumachen, was er meinte, schnitt der personifizierte Ärger eine Grimasse. Sie hob ihrerseits die Hand zur Nase, berührte aber die Wunde dann doch nicht. »Sie hat etwas draufgetan. Es fühlt sich jetzt besser an.«
Ja, so war es immer, wenn Gemma im Spiel war. Sie konnte halt nicht anders. Phins Grinsen wurde breiter. »Es sieht auch besser aus. Sollten Sie momentan nicht bei der Massage sein?«
Ihre Augen wurden schmal wie Schlitze. »Das jedenfalls verlangt der Behandlungsplan.« Naomi wirbelte herum und verpasste dem immer noch schwingenden Sandsack ein paar weitere beidseitige Schwinger.
Viel zu schnell, zu flüssig die Bewegung. In Phin nährte das die Hoffnung, Miss Ishikawa habe den leisen, rauen Laut, Zeichen seiner Erregung, nicht mitbekommen. Zeichen seiner erwachten Lust. »Haben Sie etwas gegen Massagen?«
»Gibt es damit ein Problem?« Der kühle Ton ihrer allzu beiläufig klingenden Stimme ließ Phin aufhorchen.
Das glitzernde Piercing in ihrem Nacken weckte in ihm die Sehnsucht, sich auf die Brust zu trommeln, sich Miss Ishikawa zu greifen und über die Schulter zu werfen. Er rieb sich die Stirn. Na, endlich! Schwarzer Humor vermochte es vielleicht dieser Lust Einhalt zu gebieten. »Nein, kein Problem.«
»Sie werden nicht gleich zu meinen Lieben daheim laufen und es ihnen brühwarm auftischen?«
Phin begegnete dem spöttischen Blick mit einem freimütigen Lächeln. »Der Gast im Zeitlos sind Sie, Naomi, nicht Ihre Lieben daheim. Sie zahlen, und Sie bestimmen.«
Sie verzog die Unterlippe, als ob sie, so jedenfalls Phins Eindruck, sonst die Angewohnheit hätte, auf deren Innenseite herumzukauen. Interessant. Miss Ishikawa machte überhaupt jede Menge Gesten, mittels derer sie kommunizierte. So viel hatte Phin schon begriffen.
Oh ja, sie setzte jede Menge Signale.
Alle einzig und allein dazu gemacht, ihn um den Verstand zu bringen.
»Hmm.« Das war kein Dankeschön, aber es würde Phin reichen müssen. Sie hob den getapeten Unterarm an die Lippen und riss mit den Zähnen das Band ab. Dabei ließ sie ihn nicht aus den Augen.
Es blitzte weiß auf, dann war da das Rot der Lippen, als Naomis Zähne das Ende des Tapes erwischten. Das hatte mehr Sexappeal, als einer schweißnassen, vom Sandsackschlagen euphorisierten Erbin zustand, die nichts als Ärger auf zwei Beinen war.
Höflichkeit und Hilfsbereitschaft brachten ihn einen Schritt zu nah an sie heran. Zu nahe war er dem von Adrenalin vollgepumpten Schweißgeruch ihrer feuchten Haut, dem Duft der Seife, die sie benutzt hatte, um sich das Haar zu waschen. Es roch nach Frühlingsregen und Lavendel.
Phin war ihren Augen zu nah. Sie hatte den Blick gehoben, um ihm direkt in die Augen zu sehen.
Das Tape blieb an Phins Fingern kleben. Es widerstand seinen Bemühungen, sich davon zu befreien, während er Miss Ishikawa davon befreite. Erst ungeduldig, dann konzentriert wickelte er das Tape ab, Lage um Lage. Doch als er plötzlich eine Bewegung vor sich mehr spürte als sah, schaute er von seiner Arbeit auf. Ihre Blicke trafen sich, als sie einen Schritt auf ihn zutrat, den letzten Rest Distanz zwischen ihnen überbrückte. Nackte, getapete Füße neben seinen blank polierten Schuhen. Glatte, muskulöse Schenkel an seiner Anzugshose.
Brust an Brust.
Auge in Auge.
Phins Finger umschlossen Naomis Handgelenk. Das war alles, was er tun konnte, um sein Erwachen zurückzuhalten, die wilde Entschlossenheit, sich verführen zu lassen, die sich in ihm entrollte wie ein Banner im Wind. Laute wie ein stiller, nachhallender Schrei: »Naomi …«
Sie schloss die Augen. »Mund halten, Mr. Clarke.«
Er gehorchte. Schon beugte sie sich vor, und ihre Lippen verschmolzen mit seinen. Was hätte er jetzt noch sagen sollen? Jegliche Selbstkontrolle ging zum Teufel. Gerade erst von der Leine gelassenes Verlangen detonierte in Phins Kopf, zerriss alles, was er je an gesundem Menschenverstand besessen hatte. Hitze sprang wie Feuerwellen auf seine Lippen über. Mit der freien Hand packte Naomi ihn am Hemdkragen, hielt ihn fest, während sich ihre Lippen öffneten, Versuchung pur.
Der Kuss war aggressiv, fordernd. So wie Naomi selbst, denn das war sie, aggressiv, fordernd, und etwas, das tausendmal primitiver, ursprünglicher war, genau in dem Moment, als ihre Zunge in seinen Mund vorstieß, samtweich und brutal zugleich. Phin drängte sich ihr entgegen, bis sie mit dem Rücken gegen den harten Sandsack stieß.
Phin war nicht bereit, einfach nur dazustehen und sie glauben zu lassen, sie hätte ihn bereits erobert. Selbst dann nicht, wenn es stimmte.
Er wusste, dass er bereits verloren war.
Sein Vorstoß brachte Körper gegen Körper, dicht aneinander, und drohte, sie beide hintenüber fallen zu lassen, bis Naomi die Beine in den Boden stemmte und den Sandsack wegstieß, den es in Schwingungen versetzte.
Phin folgte ihrer Bewegung, schob sich hinein in die willkommene Bresche zwischen ihren Schenkeln, drückte Naomi wild an sich. Sie schmiegte sich an seine Brust, an ihn. Er ließ sie seine Hüften spüren, seinen harten Ständer. Lust, die sich in immer fernere Höhen aufschwang, perfekt zentriert. Vollkommene Ekstase. Phin verlor sich in der ihn um den Verstand bringenden Hitze ihres Körpers, in diesen von Muskeln modulierten weiblichen Kurven.
Sie nur spüren, den Geruch ihres schwitzig-feuchten Körpers in der Nase: Das reichte schon.
Reichte, um sämtliche Alarmglocken in ihm zu aktivieren. »Herr im Himmel«, brachte er hervor, die Stimme kurz davor zu brechen, als ihre Lippen sich von seinem Mund lösten. Vor seinem geistigen Auge sah er jemanden rote Flaggen hissen. Naomis Lachen wehte wie Rauch über sein Kinn, seine Wange, seinen Hals. Sie schob die Hüften vor, presste sich gegen ihn. Und Phin stöhnte, während er ihre Taille umfasste.
Alles zu schnell. Alles zu wild, zu leidenschaftlich.
Er hatte sie nicht drängen wollen.
Er verspannte sich in dem Bemühen, sie nicht noch näher an sich zu ziehen, seine Hände hart wie Schraubzwingen. Diesem Impuls wollte er nicht nachgeben – dem Impuls sie an sich zu ziehen, bis sie ihm unter die Haut ging und sie beide im Feuer der Leidenschaft zu Asche verbrannten. Sie musste Tempo herausnehmen. Er musste es tun, ehe sie ihn noch zum Orgasmus brächte, der dort schon lauerte, für den er aber noch nicht bereit war.
Doch Naomi ließ nicht zu, dass er es auf die sanfte Tour versuchte.
Sie biss, ihre Zähne scharf wie die eines Raubtiers, eine brennende Linie in die Haut an seinem Hals. Phin keuchte auf. Lust und Schmerz verschmolzen zu einer Woge aus heißer Begierde. Er brauchte es. »Naomi …«
»Nein«, wisperte sie rau. Sie hob den Kopf, hob das Gesicht, fuhr ihm mit den Fingern durchs Haar, und ihre Blicke trafen sich. Sie brauchte es auch. Eine geschmeidige Bewegung später, und sie hatte ihr Bein um ihn geschlungen. Seine Hüften fanden sofort einen Rhythmus. Er biss die Zähne zusammen, spannte jeden Muskel an.
Allein ihren Körper zu spüren. Herr im Himmel, ihr Verlangen, ihr Lachen. Unfähig sich zurückzuhalten, glitten seine Hände ihren heißen, flachen Bauch hinauf. Ihre Rippen entlang. Phins Hand fand die untere Naht von ihrem Sport-Bustier, schob sich darunter, um die dort gefangene Brust zu umfassen.
Die Brust passte perfekt in seine Hand. Die Brustwarze, hart und aufgerichtet, stach in seine Handfläche. Kehlig stöhnte er auf. Naomi hingegen stieß ihren Atem langsam durch zusammengebissene Zähne aus.
Phin hatte Eis und Feuer in der Hand, Seide und Stahl. Rätsel, die er nicht lösen und nichts, was er zähmen konnte – nicht jetzt.
Vielleicht niemals.
Eine zum Schlag gespannte schlanke Gerte, so bog sich Naomi Phin entgegen, so, als könne er ihr hier und jetzt alles geben, was sie je in ihrem Leben gebraucht hatte. Die berauschende Mixtur aus einem Blick aus veilchenblauen Augen und dem laszivem Puls ihres Körpers, den er an seinem spürte, war zu viel.
Zu schnell, verdammt!
Die Hände um ihre Hüften, hob er sie ein Stück höher, schob sie gegen den Sandsack. Das glatte Material ihrer Sporthosen glitt über ihn hinweg wie Wasser. Die Hitze und Lust verströmende Stelle zwischen ihren gespreizten Beinen schwappte an der ganzen Länge seines harten Schwanzes entlang, der vor Verlangen pulsierte, und Naomi ritt ihn, die Beine um Phins Hüften geschlungen. Sie ritt ihn, als gäbe es ihre Kleidung nicht, als gäbe es kein Stück Stoff zwischen ihnen, als wären sie nackt. Sie ritt ihn, als könne sie sich über ihn streifen und sich von den Schaudern nähren, die die Lust diktierte.
Es war Folter. Es war Fegefeuer und Hölle.
Es war das Paradies, der Himmel auf Erden.
Naomi keuchte, das Blut schoss ihr in die Wangen; sie drückte das Kreuz durch, als wolle sie sich das Rückgrat selbst brechen. Ihre Finger krallten sich in das grobmaschige Netz oben um den Sandsack, damit sie Halt fand daran. Völlig in eigener Lust verloren, von Naomis Duft berauscht, von ihren Lauten, von ihrem – Herr im Himmel – außer Rand und Band geratenen sexuellen Verlangen, wie verhext, angelte Phin sie sich wieder und ließ sie seinen harten Schwanz noch einmal hinaufgleiten.
Und noch einmal.
Ihr Körper erbebte. Spannte sich unter seinen Händen, wieder die Gerte, die gleich herunterschnellen würde. Naomi warf den Kopf in den Nacken, die Augen fest geschlossen. Röte ergoss sich über ihr Dekolleté, wanderte über ihre Schultern, ihren Hals hinauf. Phin spürte die verzweifelte Gier nach Erleichterung, die gleich unter ihrer Haut wohnte.
Mit einer Hand umfasste Phin Naomis Nacken. Seine Finger streiften die körperwarmen Perlen aus Metall, das Piercing, das Naomi so gut versteckt hatte. Dann, mit einem gut kalkulierten Ruck, zog er sie fort vom Sandsack, sorgte dafür, dass sie an ihm und ihr Gesicht in seiner Halsbeuge zu liegen kam. Er knirschte mit den Zähnen, als ihr gieriger, gedämpfter Schrei über ihn strich, gerade in dem Moment, wo ihr Körper sich an seinen drängte, Hüfte auf Hüfte traf.
Er war, begriff er, als er sich gegen den groben Sandsack hinter ihr warf, ein Masochist, wie er im Buche stand.
Eine Weile lang gab es nur ihren Atem. Den Herzschlag, der wie Donner gegen seine Rippen schlug. Im Gleichklang mit ihrem Herzen. Schlag für Schlag.
Sie lockerte die Beine, die ihn umschlungen gehalten hatten, rutschte von seinen Hüften, auf denen sie geritten war. Geschmeidig setzte sie die getapeten nackten Füße auf den Boden und strich sich schweißfeuchte Haarsträhnen aus dem Gesicht. Sie lächelte träge wie eine zufriedene Katze in einem Schwarm schutzloser Kanarienvögel.
»Na«, sagte sie, und ihr Ton war so beiläufig wie der Wind, »das war nicht schlecht.«
»Oh nein!« Phin griff nach ihrem Arm in dem Moment, als sie sich abwenden wollte. Er hielt sie fest, als ihm klar wurde, dass sie ihn sitzen lassen wollte, fast, als hätte sie es angekündigt.
Ihr Blick wanderte zu seiner Hand hinunter, und sie überlegte. Als ihre Augen Phins Blick suchten, stand Neugier darin zu lesen, Belustigung. »Was?«
»So beenden wir das nicht.«
Die Erheiterung verschwand. Ihre Lider senkten sich über die Augen, schmale, schwarz umrandete Raubtieraugen. »Ach nein?«
»Nein, nicht so!« Langsam ließ Phin ihren Arm los und trat einen Schritt zurück. Er musste Abstand gewinnen zu diesem Körper, der ihn verrückt machte. Sonst würde er einen Schritt zu weit gehen und alles vermasseln.
Träge wie ihr Lächeln streckte Naomi sich. Die glatten Muskeln unter ihrer Haut bewegten sich. Seide im Wind. Sie verschränkte die Arme über dem Kopf und bog das Kreuz durch: eine geschmeidige Art von Herausforderung. »Was lässt Sie glauben, ich sei an mehr interessiert?«
Weil er es brauchte, jetzt, weil sie die pure Versuchung war, die seinen unbefriedigten Körper quälte, war Phin nicht willens, ihr Spiel mitzuspielen. Nicht jetzt.
Später vielleicht. Nachdem er sich seines harten Schwanzes angenommen hätte, der in Unterhosen gezwängt, förmlich um Aufmerksamkeit bettelte. Er ließ ein Lächeln aufblitzen, von dem er wusste, dass es Naomi wütend machen würde. Es war leicht, das vorherzusehen.
Es war die Sorte Lächeln, die sagte: Ich habe gesehen, wie du gekommen bist, und weiß, dass du jede Sekunde genossen hast.
Naomis Lächeln erstarb. Ihre Lippen öffneten sich für einen kurzen, nicht wahrnehmbaren Atemzug.
Ein Punkt für Phin Clarke.
Lachen perlte durch das Studio, in dem ihr kleiner Wettstreit um den stärkeren Willen gerade ablief. Die Blase aus Stille, die Phin und Naomi eben noch umgeben hatte, zersprang wie Glas. Naomis Körper versteifte sich; ihr Blick zuckte über Phins Schulter hinweg. Er warf ebenfalls einen Blick über die Schulter und sah ein paar Tagesgäste durch den weiter entfernten Eingang den Studiobereich betreten. Alle hatten Handtücher um die Nacken gelegt und je eine der für Gäste frei verfügbaren Wasserflaschen dabei.
Das Grüppchen schnatterte unbeschwert, man zog sich gegenseitig auf. Keiner hatte auch nur mehr als einen kurzen Blick für Phin und Naomi. Phin grinste, als er Anspannung und Wachsamkeit bei seinem Gegenüber bemerkte. Naomis Körper glich einer angespannten Sprungfeder.
Er beugte sich hinunter und hob die Wasserflasche auf, die Naomi hatte fallen lassen, als sie begonnen hatte, ihn um den Verstand zu küssen. »Nächstes Mal werden wir wohl ein bisschen vorsichtiger sein müssen«, flüsterte er ihr ins Ohr.
Mit dem spitzen Ellenbogen verpasste sie ihm einen Stoß in die Brust. »Nächstes Mal? Träum weiter«, zischte sie.
Sie machte einen Schritt an ihm vorbei. Ihre Schultern strafften sich, als er leise hinter ihrem Rücken lachte. »Und wohin wollen Sie weglaufen, Naomi?«
Sie ging nicht auf die Drohung ein.
Und Phin tat nichts, um sie zurückzunehmen.