KAPITEL 4
Ein Fehlschlag. Gott verdammt, Fehlschläge gab es bei ihm nicht, nie!
Joe Carson betrachtete die alte Frau, die in dem schmalen Klinikbett lag, und fluchte leise. Er war sich so sicher gewesen, dass Alexandra Applegate der perfekte Köder war. Sie war nicht nur unsagbar reich. Sie war etwas Besonderes. Sie war wichtig.
Natürlich war Joe ein Wagnis eingegangen. Ein kalkuliertes Risiko. Sie hätte in der Sauna sterben können. Zu wagen, was er gewagt hatte, hätte sich nicht gelohnt, wäre das Ganze nicht echt gewesen. Aber er hatte gewusst, dass sie Alexandra Applegates Tod verhindern würden. Alles, was diese verfluchten Magiebesessenen hatten tun müssen, war, die Quelle sprudeln zu lassen.
Ohne Feuer kein Rauch. Die Kirche bekam immer, was sie wollte.
Aber mitanzuhören, wie dieser hochnäsige Rotzlöffel einen lächerlichen Vertrag über strikt einzuhaltende Privatsphäre vorschob, den man mit der Frau abgeschlossen habe, gab ihm den Rest: Joe war in der Stimmung zu töten. Am liebsten mit bloßen Händen jemanden erwürgen.
Warum hatte er das nicht kommen sehen? Verflucht noch mal, der Teufel sollte sie alle holen! Er hasste dieses frevlerische Geldgrab und seine abartige Kundschaft.
Aber momentan konnte er nichts dagegen unternehmen. Er musste sich gedulden. Bloß noch diese eine Observierung durchziehen, die das Ende aller Observierungen wäre. Er konnte geduldig sein.
Vor allem, wenn es sein musste. Er hatte den perfekten Aussichtspunkt gefunden, den perfekten Logenplatz, von dem aus er wunderbar hätte beobachten können, wie das Drama seinen Lauf nahm. Aber nein!
Die Missionarin musste ja unbedingt alles ruinieren.
Das hätte ihn eigentlich um den Verstand bringen müssen. Eigentlich hätte es ihm Angst und Bange werden müssen. Stattdessen war es ihm mit knapper Not gelungen, dem scharfen Auge und dem wachen Verstand der Hexenjägerin zu entkommen. Jetzt noch musste er in der engen Nische grinsen, diesem Platzangst hervorrufenden Loch, in dem er sich vor ihr verkrochen hatte.
Mit Naomi West auf dem Spielfeld würde das Ganze ein Riesenspaß werden. Als Joe den Auftrag übernommen hatte, hatte er nicht geahnt, dass es ihm Spaß machen könnte. Dennoch war es nicht Wests Schuld, dass sie in diesen Scheißhaufen getreten war. Genau wie er machte sie bloß ihren Job.
Nur musste er jetzt noch sorgfältiger planen. Noch vorsichtiger vorgehen. Jetzt war es etwas anderes als einfaches Tontaubenschießen.
Die Kirche hatte die Karten verteilt. Joe fragte sich, ob man in deren oberen Etagen eigentlich eine Ahnung hatte, dass man gegen sich selbst spielte.
Joe war sich sicher, dass seine Missionarskollegin ziemlich sauer war, weil er ihr entwischt war. Es war verdammt knapp gewesen. Nur die Bronzevase, die er nach ihr geworfen hatte, hatte ihm die Zeit erkauft, um zu entkommen. Aber Naomi West war ein zähes Luder, von der ganz harten Sorte. Missionseigenes Teflon.
Wenn Naomi West ihn je in die Finger bekäme … Joe lachte nicht, aber er war verdammt nah daran. Er schluckte die Ungeduld hinunter, die allmählich in ihm hochkochte. Er hatte gerade einmal mit dem ein oder anderen Muskel gezuckt, mehr aber auch nicht. Allmählich spürte er schmerzhaft in allen Gliedern, wie verkrampft er in der Enge seines Verstecks saß. Wenn es sein musste, würde er es hier aushalten bis zum Jüngsten Gericht. Zähigkeit. Das war es, was ihn zu einem verflucht guten Missionar machte.
Zähigkeit war nach dem, was er über Naomi West wusste, auch genau das, was sie beinahe seine Güteklasse erreichen ließ.
Beinahe.
Lautlos seufzte Joe auf. Erleichtert. Erwartungsvoll.
Anerkennend.
Bisher hatte es ihm das Zeitlos so verdammt einfach gemacht. Ihm gefiel Naomis unausgesprochene Herausforderung. Endlich. Eine Frau, die ihr Gewicht in Kugeln wert war.
Er neigte den Kopf und musterte die rundliche Figur der Frau, die auf dem Stuhl neben dem Krankenbett ausharrte. Sie las in einem Buch, dessen Einband so abgegriffen war, dass man den Titel nicht mehr entziffern konnte. Auf der Nase der Frau thronte eine breitrandige Brille. Der Lichtkegel der goldenen Lampe ließ ihr braunes Haar schimmern, als umgebe es ein Heiligenschein. Ganz plötzlich überkam Joe neue Wut. Die Wut sammelte sich irgendwo tief in seinem Hinterkopf zu einem gallebitteren See.
Es hätte alles glatt gehen müssen. Der Schließmechanismus hätte ganze drei Minuten länger halten müssen. Genau die berechnete Zeit, um des Ordensmeisters Lieblingsgroßmutter zu einem Fall für Notarzt und Rettungswagen zu machen.
Die Magiebesessenen im Zeitlos hätten keine andere Wahl mehr gehabt, als ihr hässliches kleines Geheimnis preiszugeben.
Stattdessen hatte man die alte Dame vorher aus der Sauna gezogen. Mit einem ordentlichen Schock, sicher, und ziemlich angeschlagen dürfte sie sich auch fühlen. Aber das war alles. Nichts, was sich nicht durch eine ordentliche Mütze Schlaf und ein paar Kräuterumschläge in Ordnung bringen ließe.
Verfluchte Scheiße noch mal!
Vielleicht war es der plötzliche Druckabfall in der Sauna gewesen, der das vorzeitige Öffnen der Saunatür verursacht hatte. Oder es gab einen Grund dafür, den Joe nicht in seine Berechnungen miteinbezogen hatte. Sicher hatte er nicht mit seiner Missionarskollegin gerechnet. Aber warum eigentlich nicht?
Ein entschlossener Zug erschien um seinen Mund. Joe zog die Knie enger an die Brust und wartete auf den rechten Augenblick. Wie eine Spinne, dachte er. Eine hungrige, boshaft-geniale Spinne.
Umgeben von jeder Menge fetter kleiner Fliegen. Sehr plumpen und sehr einfältigen Fliegen.