KAPITEL 1
Naomi West war eine verflucht gute Missionarin. Ihre Missionsakte war der Beweis: Unter New Seattles Hexenjägern und -jägerinnen war sie eine der besten.
Schön zu wissen, dass der Orden des Heiligen Dominikus Vertrauen in sie setzte. Und in den Augen der anderen Agenten der New-Seattle-Mission war sie sowieso die Nummer eins.
Wenn die Meute aus Missionaren und Ordensoberen allerdings gewusst hätte, wie es sich anfühlte, in Naomi Wests Haut zu stecken … Wenn sie gewusst hätten, was Naomi West umtrieb und ihren Puls nach oben schnellen ließ bis an den Rand der Hysterie: Sie hätten sie von den Straßen geholt, schneller als eine Kugel ein Hirn zerfetzen kann.
Die Stimme direkt in Naomi Wests Gehörgang verklang. Die Hexenjägerin presste einen Finger auf den winzigen Com-Stecker in ihrem Ohr, der die Stimme übertrug. Alan Eckhart fuhr fort, die Operationsziele zu umreißen. Seine Stimme wurde immer klarer und schärfer: Die Einweisung für das Einsatz-Team, gleich im Anschluss an die bereits gelaufene Einsatzbesprechung für die New-Seattle-Mission. Blabla, nichts als Scheißblabla.
Naomis Muskeln vibrierten vor Anspannung, während sie dem lauschte, was der Teamleiter in gleichförmigem Tonfall an Anweisungen herunterspulte. Ihre Augen beschäftigten sich derweil mit dem atemberaubenden Panorama, das der Blick aus dem Fenster der Luxussuite bot. Nicht umsonst lag die teure Suite im obersten Stock des Fünf-Sterne-Resorts.
Die Jägerin legte die Fingerspitzen an eines der deckenhohen Fenster. Gegen das Licht der untergehenden Oktobersonne hoben sich ihre Hände als Schattenrisse auf der Scheibe ab. Der Sonnenuntergang tauchte die Dunstglocke, die die unteren Ebenen der Stadt einhüllte, in den feurigen Glanz brünierten Messings. Bis in das rattenverseuchte Dreckloch hinunter, das New Seattles kaum zivilisiert zu nennende Fundamente nun einmal waren, sickerte das Licht, um vom allgegenwärtigen Gestank dort verschluckt zu werden. Der größte Teil des Molochs, der sich Stadt nannte, lag so tief unter Naomi, dass ihr Blick nicht bis dorthin zu dringen vermochte. Aber sie brauchte keinen Blickkontakt, um den beißenden Gestank verfaulenden Abfalls, der für die unteren Ebenen charakteristisch war, in der Nase zu haben.
Kaum erträglich kroch eine Mixtur aus Sorge und Furcht Naomi die Kehle hinauf, als sie sich vom Fenster abwandte.
»Hör mal, es ist mir scheißegal, was die Missionsbonzen belieben abzusondern!«, blaffte die Hexenjägerin in das winzige Mikro, das zu dem Com in ihrem Ohr gehörte. »Ich für meinen Teil habe keinen Bock darauf, hier oben für alle Ewigkeit festzusitzen. Das ist doch Schwachsinn!«
»Eine Woche auf den obersten Ebenen, allerhöchstens.« Eckhart bemühte sich um einen beschwichtigenden Tonfall.
Wie eine Klinge mit Wellenschliff säbelte der Klang der Stimme an Naomis blank liegenden Nerven. »Klar doch! Wenn ich Glück habe«, grummelte sie.
»Du brauchst kein Glück, Nai. Du bist schließlich gut.«
Gut – von wegen! Sie saß in der Falle. Ohne ihre Piercings, geschniegelt und gestriegelt, in Designer-Klamotten verpackt, war sie in diesem verfluchten Goldkäfig eingesperrt.
»Ich bin besser als gut«, erwiderte sie tonlos. Keine Selbstbeweihräucherung. Nackte Tatsache.
»Genau. Das ist der Grund, warum die Wahl auf dich gefallen ist.«
Ach, verflucht, lass mich mit dem Scheißgeschwafel zufrieden. »Abgesehen von einem Sicherheitscheck bei der Ankunft gibt es hier kaum Überwachung. Ich hab dir gleich gesagt, dass diesen Job jeder Idiot machen kann!«
Eckhart lachte leise. Möglicherweise hustete er auch nur. Naomi war sich nicht ganz sicher.
»Natürlich gibt’s da keine großflächige Überwachung, Nai. Das ist schließlich eine Oase für die Schönen und Reichen, ein Ort der Erholung und Entspannung«, entgegnete Eckhart trocken, im Hintergrund weißes Rauschen. Naomi erkannte die vertraute Geräuschkulisse der Missionsbüros in den mittleren Ebenen. Genau in einem solchen Büro sollte sie jetzt auch sein.
Jedenfalls wünschte sie sich verzweifelt dorthin. Tief atmete sie ein und hielt die Luft eine Weile an, ehe sie sie in einem sorgsam dosierten Seufzen wieder ausstieß. »Ich kapiere immer noch nicht, warum Parker nicht jemand anderen nehmen konnte, der sich hierfür verkleidet.«
»Weil’s niemanden sonst mit deinen Referenzen gibt.« Eckhart seufzte ebenfalls. Es spielte keine Rolle, wie oft sie diese Diskussion führten: Naomi würde den Mist nicht so leicht schlucken, jetzt nicht und später auch nicht. Sie schnitt eine Grimasse und öffnete schon den Mund, um etwas zu erwidern. Aber Eckhart fuhr fort, ehe sie auch nur ein einziges Wort herausgebracht hatte. Er redete ihr zu, wie einem lahmen Gaul, verdammt. »Ach, nun komm schon, Naomi: Die Ebenen an der Spitze sind schließlich nicht der Hochsicherheitstrakt im Knast.«
Verflucht, es fühlte sich aber so an! Naomi drehte sich um, sah Luxusmöbel und üppiges Farbenspiel. Um den penetranten Druck hinter ihren Schläfen zu lindern, schloss sie die Augen.
Es war, als wäre sie zurück in die Vergangenheit gereist. Nur, dass sie kein Kind mehr war. Und ihr Name schon seit beinahe fünfundzwanzig Jahren nicht mehr Naomi Ishikawa lautete.
Jetzt aber klebte dieser Name wieder an ihr. Weil die Mission es so wollte.
Naomi zuckte zusammen. »Verfluchte Affenscheiße!«
»Du bist einfach entzückend, wenn du melancholisch wirst.« Wieder seufzte Eckhart. »Okay, dann spuck mal aus, was du über den Laden herausgefunden hast.«
Naomi umklammerte so fest das Metallgehäuse des Coms, als wollte sie es zerquetschen. »Der städtische Basisebenen-Aufzug braucht acht Minuten bis hinauf zu dieser Oberstadt-Ebene. Die Überwachung beschränkt sich auf ein Minimum und ist sehr diskret. Allerdings lässt sie sich bei all dem Glas nur schwer verstecken: Eine Kamera überwacht die Ein- und Ausgänge in der Lobby; eine weitere gibt es im Haupt-Aufzug von diesem beknackten Luxus-Resort, und das war’s auch schon. Die Lobby stinkt vor Geld und ist menschenleer. Ich brauche endlich diese verfluchten Grundrisse, Eckhart.«
Der Teamleiter stieß den für ihn typischen Drei-Ton-Pfiff aus. »Jonas arbeitet noch dran. Er sagt, der Zugang zu den Grundrissen sei ziemlich gut verschlüsselt.«
»Warum das denn?«
»Keinen Schimmer. Aber für mich riecht das nach dem Einfluss von Geld oder Politik. Oder einer Kombi aus beidem.«
»Na, fantastisch«, fauchte Naomi. Mit der freien Hand fuhr sie sich durch dass glänzend schwarze Haar. Drei Schritte ging sie auf die üppig gepolsterte Chaiselongue zu, ehe sie auf dem Absatz kehrtmachte und dem Luxusmöbel den Rücken zuwandte. »Was du da sagst, heißt wohl, dass die Kirche gar nicht legitimiert ist, sich hier umzusehen. Darum hat man mich auch so billig ausstaffiert und dann hier reingeschickt.« Es rutschte ihr so heraus, schneidend wie ein Peitschenhieb, mit einem selbst in ihren Ohren viel zu beißenden Ton. Sie presste Daumen und Zeigefinger gegen die Augäpfel, bis der Druck das Gleißen auslöschte, das sich von innen, aus ihrer Schädelmitte, nach draußen brennen wollte.
Politik. Verflucht verdammte Politik!
»Was ich damit sagen will, ist …«, hielt Eckhart in scharfem Ton dagegen, unterbrach sich dann aber selbst. Naomi wusste genau, warum. Alles, was er jetzt sagte, würde nur den Streit anfachen, den sie schon tausend Mal geführt hatten. Wie sich argwöhnisch beschnüffelnde Straßenköter umkreisten sie beide dieses Thema schon eine ganze Weile. Eckhart senkte die Stimme. Das war seine Art, sein Gegenüber zu beruhigen und – wenn möglich – einzuwickeln. »Schau, Nai, nicht alles lässt sich mittels einer Waffe und einer kompromisslosen Haltung regeln.«
Doch in diesem Punkt irrte sich Eckhart gewaltig, das wusste Naomi. Erfahrungsgemäß ließ sich so gut wie alles genau auf diese Weise regeln. Aber hier und jetzt fehlte ihr, verflucht noch eins, eine Hälfte dieser Rechnung.
Naomi tigerte weiter im Zimmer auf und ab, wandte sich wieder der Fensterfront zu. Dabei wusste sie ebenso genau, was sie dort zu sehen bekäme, wie sie wusste, dass Eckhart falsch lag. Die Sonne sank dem dunstigen Horizont entgegen. Ihr Licht verfing sich im Smog, der leuchtend an der Dunkelheit nagte, die sich zwischen den hoch in den Himmel aufragenden Wolkenkratzern gesammelt hatte. Die letzten Sonnenstrahlen trafen auf Schmutz, Verzweiflung und das Seite an Seite damit existierende – nein, eher vor sich hin vegetierende – Chaos tief unter ihr.
Dort unten wäre Naomi anonym und bliebe es. Eine unbekannte Größe in einer Gleichung, nichts als eine verdammt gute Hexenjägerin in einem von unzähligen Teams aus Hexenjägern.
Aber hier oben war sie eindeutig ein Werkzeug der Kirche. Seit dem Erdbeben, das die alte Stadt verschluckt hatte, zog die Kirche die Fäden. Fünfzig Jahre unter ihrer Führung und Anleitung, fünfzig Jahre Planung – und New Seattle war aus der Asche der Vorgängerstadt wieder auferstanden. Fünfzig Jahre Unterstützung durch die mächtige Kirche hatten die Mission auf ihre herausragende Position gehievt. Jeder, den die Mission einsetzte, war von Kindesbeinen an darauf vorbereitet worden, die Menschheit vor denen zu schützen, die Hexerei praktizierten und dabei wahllos mordeten. Die Unschuldigen, die den Hexen in einem einzigen vernichtenden Schlag zum Opfer gefallen waren, gingen in die Hunderttausende.
Naomi war seit mehr als zwanzig Jahren Missionarin. Trotzdem mischte sie in dem intriganten Spiel nicht mit, das sich Politik nannte. Aus diesem Grund war sie immer noch eine einfache Agentin, keine Teamleiterin. Keine Schreibtischtäterin wie etwa die derzeitige Missionsleiterin.
Naomi war Agentin im Außendienst.
Jemand, der tötete.
Ihr gefiel es, wenn sie so arbeiten konnte, wie es ihr am meisten lag: wenn sie ihre Waffe ziehen konnte – die Waffe, die sie verdammt noch eins hier nicht hatte!
»Wie auch immer«, meinte sie knapp, drehte sich um und stolzierte wieder auf das Luxussofa zu. »Können wir jetzt zu dem Teil der Operation kommen, wo ich meine Waffe zurückkriege?«
Erneut stieß Eckhart einen Drei-Ton-Pfiff aus. Das sollte Naomi sagen, dass er daran arbeitete. Dass es eine mega-komplizierte Angelegenheit sei. »Nai«, begann er gedehnt, »was ist los?«
»Was soll schon los sein? Das hier ist eine Reiche-Zicken-Oase …«
»Nein«, unterbrach er sie barsch. Die Stimmen im Hintergrund verstummten. Sofort senkte Eckhart die Stimme wieder. »Ich meine nicht, was da oben los ist. In der Oberstadt zu sein kannst du nicht ausstehen. Das weiß ich. Ich meinte: Was ist los mit dir? Als wir dich gefunden haben, warst du eingebuchtet.«
Naomi schnaubte. Dafür, dass man die eine Gefängniszelle gegen eine andere tauschen durfte, schuldete man niemandem Dankbarkeit. Ob raue Betonwände oder Flure mit eleganten Tapeten, das machte für Naomi keinen Unterschied.
Sie ließ die Hand sinken und starrte in den Spiegel gleich über dem Kamin. Der Spiegel bestand aus vielen Einzelfeldern und war goldgerahmt, die Kamineinfassung, über der er an der Wand thronte, glänzend schneeweißer Marmor, glatt wie ein Kinderpopo. Das nackte Gesicht im Spiegel erkannte Naomi nicht. Volle, sinnlich geschwungene Lippen, hohe Wangenknochen, das Jochbein scharf wie eine Messerschneide, glattes schwarzes Haar – ohne die grell blauen Strähnen, die Naomi noch gestern gehabt hatte. Ohne Piercings.
Himmel, sie vermisste ihre Piercings!
Abgesehen von der verschorften Schramme quer über ihrer Nase sah Naomi aus, als wäre sie reich. Verhätschelt und verwöhnt. Verweichlicht.
Sie sah aus wie ihre Mutter.
Die Erkenntnis brachte sie dazu, wieder im Zimmer auf und ab zu tigern. Von der Fensterfront zum Sofa, von dort zur massiven und dennoch überraschend leichtgängigen Schiebetür des Schlafzimmers und zurück zum Sofa.
Verflucht sollte der Orden sein! Verflucht die neue Leiterin der New-Seattle-Mission, die entschieden hatte, Naomi hinter den Hochglanz-Türen von New Seattles Luxus-Resort Nummer eins, dem Spa aller Spas, einzusperren. Die Tussi hatte das mir nichts, dir nichts entschieden, weil das ihres Erachtens nach die einzige Lösung für ein Problem war, das dadurch zu Naomis Problem wurde.
Verdammte Panik schüttelte Naomi jetzt derart heftig, dass es in ihrer Brust summte und vibrierte wie in einer Stromleitung.
Mit einer jähen Bewegung ließ sich Naomi auf die Sofalehne fallen. »Eckhart«, sagte sie und klang dabei erschöpft, »warum zum Henker bin ich hier? Joe Carson ist kein Hexer. Er ist Missionar. Warum also soll ich ihn erledigen?«
»Joe Carson ist nicht irgendein gewöhnlicher Missionar, Nai. Du erinnerst dich doch sicherlich noch an den Schlamassel mit Smith, oder? Stell dir vor, er hätte lang genug überlebt, um durchzudrehen.«
Wie Eiswasser lief es Naomi den Rücken hinunter.
Gerade einmal drei Monate war es her. Drei beschissene Monate, seit ein Missionar, den sie von Kindesbeinen an kannte, dem sie zum ersten Mal in einem der gottverlassenen Waisenhäuser der Mission begegnet war, sich gegen Kirche und Mission gestellt hatte.
Sich gegen sie, Naomi, die Gefährtin aus Kindertagen, gestellt hatte.
Der Missionar Silas Smith und sein Hexenliebchen waren buchstäblich in Rauch aufgegangen. In einem Flammeninferno, das ein Hexenzirkel tief in den Ruinen des alten Seattle entfacht hatte, hatte es sie erwischt. Als die Mission endlich bis in das Chaos vorgedrungen war, konnte sie dort nicht mehr finden als Schutt und Asche und bis zur Unkenntlichkeit verbranntes Fleisch.
Es gab so einige Fragen, die die neue Missionsleiterin beantworten musste. Ein weiterer amoklaufender Agent der Mission in ihrem Revier wäre sicher nicht hilfreich.
Die Hexenjägerin legte die Hand auf die Designer-Jeans, dorthin, wo auf ihrem Unterleib das Zeichen des Heiligen Andreas eintätowiert war. Schutz und Schild. Momentan war es inaktiv.
Wenn aber Hexerei gegen Naomi gerichtet würde, würde der Andreas-Schild als Warnung blaue Funken sprühen, einen Lichtbogen von hoher Energie, der ihr eine schützende Hülle wäre. So ruft der Schild die Kraft und Macht des Heiligen herbei, um im Kampf gegen jedwede teuflische Absicht der Hexenmagie zu bestehen. Das war sehr praktisch, wenn Naomi auf einer Mission war, um Hexen oder Hexer zu töten.
Aber hier gab es keine Hexen zu töten.
Naomi stand wieder auf und ging durch die dekorative Schiebetür, die das Schlafzimmer vom Salon trennte. Sie musterte die Tagesdecke aus lavendelfarbener und goldgewirkter Seide und zog die Nase kraus. »Je schneller ich das erledige, desto schneller bin ich hier raus, richtig?«
Eckhart klang erleichtert, als er bestätigte: »Richtig.«
»Und unsere Missie Parker plant nicht irgendeine weitere große Scheißoperation?«
»Missionsleiterin Adams weiß genau, wie sehr du diese Mission verabscheust, Nai«, korrigierte Eckhart sie seufzend. »Du hast deinen Standpunkt mehr als deutlich gemacht. Bring den Job hinter dich, und du bist da raus.«
»Okay, dann sag mir, was Sache ist.«
»Joe Carson hat mehrere Menschen umgebracht.«
»Das habe ich auch.«
Eckhart zögerte den Bruchteil einer Sekunde lang, länger nicht. Aber es war lang genug. Naomi verzog den Mund: beißender Sarkasmus. »Bei ihm ist’s was anderes«, meinte Eckhart schließlich. »Carson wird wegen Mordes an zwei hochrangigen Mitgliedern der Kurie und vier Zivilisten gesucht. Außerdem steht er unter dem Verdacht, er habe missionseigenes Beweismaterial verschwinden lassen.«
Naomi runzelte die Stirn. »Moment mal, davon war beim Briefing nicht die Rede. Missionseigenes Beweismaterial? Heißt das, unser Tresor wurde geknackt?«
»Nein, Gott sei Dank, nicht unserer. Außerdem ist da sowieso nichts drin, was wirklich gefährlich werden könnte«, antwortete Eckhart. »Irgendwann letzte Woche hat’s vielmehr das Hauptquartier der Missionsleiterin erwischt. Sei froh, dass du gestern nicht da warst. Adams hat die ganze Zentrale förmlich in ein Kühlhaus verwandelt.«
»Bei dem Stock im Arsch wundert mich das nicht«, murmelte Naomi. Sie verdrehte die Augen, als sich ihr unmittelbarer Vorgesetzter mit Nachdruck räusperte. Sein Missfallen über Naomis letzte Äußerung war überdeutlich.
Naomi musste Missionsleiterin Parker Adams nicht ins Herz schließen. Aber sie musste mit ihr zusammenarbeiten. Besser gesagt: für sie arbeiten.
»’tschuldigung«, gab sie also nach. »Was ist denn geklaut worden?«
»Lass mal sehen: ein paar alte Zeitungsausschnitte und jede Menge anderer Krempel. Lauter Zeugs aus der Zeit vor dem Großen Beben, soweit wir das beurteilen können.«
»Na, das ist ja mal hilfreich. Ich halte es aber immer noch für besser, Carson festzunehmen und zur Disziplinierung zu überstellen, anstatt ihn auszuschalten.«
»Nicht unser Auftrag.«
»Aber wenn sein Team den ihm gestellten Auftrag erledigt hätte …«
»Noch einmal, Nai: Die Missionare vor Ort haben getan, was sie konnten. Doch nachdem der Risikovermerk in seiner Akte war, war Carson auch schon untergetaucht.«
Man konnte niemanden zur Disziplinierung überstellen, den man nicht finden konnte.
Naomi verzog das Gesicht. Niemand wusste, was Disziplinierung tatsächlich bedeutete. Aber es hielten sich hartnäckige Gerüchte darüber. Alles von medikamentösen Eingriffen in die Neurochemie bis hin zur Gehirnwäsche, von Folterungen unter dem Deckmantel von Reinigungsritualen bis hin zur Beseitigung des Delinquenten.
Es waren gefährliche, an Häresie grenzende Gerüchte. Die Kirche mochte Gerüchte nicht. Oder Fragen, die man nicht beantworten konnte oder wollte.
»Es muss doch eine Vorgeschichte gegeben haben. Ein Missionar wacht doch nicht eines Morgens auf und beschließt, sechs Menschen umzubringen.«
»Das spielt keine Rolle. Reiß dich am Riemen und tu, was getan werden muss. Sie beobachten dich, Nai.«
»Ach, leck mich!«
»Ich meine es ernst, Nai.« Eckhart zögerte wieder, dann: »Naomi, deine Akte hat einen Risikovermerk. Die Kirche will dich überwacht wissen.«
Einen Risikovermerk. Wie Joe Carsons Akte.
Ärger verdichtete sich zu einem dicken Knoten aus wilder Wut und plötzlicher Furcht. Heftig stieß Naomi zusammen mit ihrer Atemluft Gelächter aus. »Na, fan-tas-tisch! Dann mach ich jetzt wohl am besten auch mal ’nen Abgang und töte für die Kirchenbonzen noch ein paar Leute.«
»Herr im Himmel, Nai, sag doch nicht so was! Das ist genau der Mist, womit du dir regelmäßig mächtig Ärger einhandelst. Das Einzige, was dir momentan noch den Arsch rettet, ist deine Erfolgsquote. Du bist eine verdammt gute Missionarin. Aber du überspannst den Bogen, und das weißt du ganz genau.«
Was übersetzt hieß: Wenn sie jetzt nicht spurte und schön tat, was man von ihr verlangte, würde sie mit einem Arschtritt aus dem Dienst befördert, egal, wie verflucht gut sie in ihrem Job war.
Immer das gleiche Lied, immer dasselbe Theater. »Von mir aus, auch egal!«, entgegnete sie und scherte sich nicht darum, ob sie durch diese Ansage geläutert klang oder nicht. Sie wandte dem Stapel aus Gepäck, das ein Vermögen an exklusiver Kleidung enthielt, den Rücken zu und marschierte wieder aus dem Schlafzimmer hinaus. »Selbstverständlich habe ich nichts anderes sagen wollen, als dass ich mich dann mal um die Mission kümmere, die der Orden des Heiligen Dominikus für notwendig und gerecht erachtet.«
Eckhart sagte einen Moment lang gar nichts. Naomi konnte beinahe hören, wie er mit den Zähnen knirschte. »Naomi, das Fass ist kurz vor dem Überlaufen, klar? Sieh zu, dass du die Operation hinter dich bringst, oder wir alle bekommen einen Risikovermerk!«
»Ich melde mich, sobald ich etwas habe, das sich zu berichten lohnt.«
»Naomi …«
»Kapier’s, klar?« Mit dem Zeigefinger drückte Naomi gegen das winzige Mikro in ihrem Ohr. Eckhart sollte nicht eine Silbe von dem verpassen, was sie zu sagen hatte. »Auf die eine oder andere Art jag’ ich dem verfluchten Arschgesicht eine Kugel in den Kopf. Sobald ich dann hier raus bin, bekomme ich meine Piercings zurück und such mir einen Kerl für’s Bett.« Sie grinste, als ihr Gesprächspartner schnaubte. »Fühl dich ganz frei, bei dem einen oder dem anderen Hilfestellung zu geben.«
»Du brauchst echt Hilfe, West!«
»Und wie. Also besorg mir gefälligst wenigstens so was wie eine hübsche kleine Beretta.«
»Ich schau mal, was sich machen lässt«, erwiderte Eckhart. Er verschwendete keine Zeit damit, sich von Naomi zu verabschieden.
Kaum dass es in der Leitung klickte, gab Naomi der Wut nach, die mit jedem Atemzug an ihr zerrte. Mit Schwung warf sie die handflächengroße Com-Einheit einmal quer durchs Zimmer. Sie prallte von den dicken Polstern des Brokatsofas ab und landete etwas unsanft auf dem flauschigen Teppich.
Naomi fühlte sich kein Stück besser.
Unter Beobachtung. Ihr verflucht eigenes Team beobachtete sie.
Ein Risikovermerk.
Fantastisch!
Sie warf sich das lange Haar über die Schulter und riss sich zusammen. Fest konzentrierte sie sich auf das eigentlich Wichtige. Es spielte keine Rolle, wer oder was Carson war. Missionar, Hexer oder was sonst.
Die Kirche hatte befohlen, ihn zu töten.
Naomi West, eine der besten ihres Fachs, würde sich sogleich an die Arbeit machen.
Gerade hatte Naomi einen ersten Schritt in Richtung Schlafzimmer getan, als sie auch schon erstarrte: Hinter ihr glitten mit leichtgängigem, gut geöltem Flüstern die Metalltüren des Fahrstuhls auf, der den Zugang zu Naomis Suite erlaubte. Augenblicklich und instinktiv sträubten sich der erfahrenen Hexenjägerin die Nackenhaare.
Ihre Nervenbahnen prickelten. Der Andreas-Schild, das Tattoo auf ihrem Unterleib, flammte auf, ein Kreis aus gleißend blauem Feuer. Hexerei.
Ihr Instinkt übernahm die Kontrolle über Naomis Körper. Sie warf sich zur Seite, während Schmerz und magische Kräfte in ihrem Schädel miteinander verschwammen. Pures Adrenalin verdrängte das Gefühl der Verwirrung, Naomi kam auf dem Boden auf und rollte sich ab.
Sie kollidierte mit dem Lacktisch neben dem Sofa. Gleichzeitig aber sah sie aus dem Augenwinkel heraus schwere Stiefel und eine salbeigrüne Uniform. Die Lampe, die auf dem Sofatisch gestanden hatte, krachte gleich neben ihrem Kopf zu Boden. Die Hexenjägerin fluchte. Der Schmerz machte sie langsam, jede Bewegung war wie zäher Sirup unter der auf sie einhämmernden Magie und dem feurigen Schutzschild des Missionstattoos. Ihr wurde schwarz vor Augen. Von den Rändern ihres Blickfelds her, daneben nur schmerzhaft stechendes Rot, bedrängte sie die Dunkelheit, mit der der Schmerz sie umfangen wollte.
»Was zum Henker …!«, spie sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und mühte sich, wieder hoch auf die Beine zu kommen. Ihre Knie zitterten, gaben fast unter dem Ansturm von Magie nach, die sich in ihren Schädel bohrte.
»Teufel noch eins, sie hatte tatsächlich recht.« Die Stimme klang, als hätte der Mann, dem sie gehörte, Schneid; sie klang konzentriert. »Du bist ein härterer Brocken, als ich dachte.«
Mühsam atmete Naomi durch, bleckte die Zähne in einem Grinsen und kam endlich hoch, stand. Sie holte zum Schlag aus.
Den Fluch, den der Kerl auf den Lippen gehabt hatte, zerriss es förmlich in Stücke, als Naomis Faust auf seine Rippen traf. Aber als Fingerknöchel gegen Rippenknochen prallten, fluchte Naomi heftig genug, dass es für sie beide reichte. Unter dem Schlag krümmte sich ihr Angreifer zusammen. Naomi nutzte das, sprang vor, packte sein Handgelenk und schleuderte den Scheißkerl mit aller Kraft gegen die Wand hinter ihm. Den Unterarm gegen seine Kehle gedrückt, nagelte sie ihn dort fest. Vor Anstrengung keuchte sie.
Der Aufprall war hart genug, um das Gemälde an der Wand von seinem Haken zu wuchten. In der Stille der Kampfpause, in der nur noch Keuchen zu hören war, krachte es zu Boden. Der Schmerz, der Naomi quälte, ließ nach.
Ihr Angreifer, der Hexer, war ein alter Mann. Das bemerkte Naomi erst jetzt. Älter jedenfalls, als sie ihn zuerst geschätzt hatte. Er hatte schwielige Hände, Arbeiterhände, und harte Muskeln. Genau das hatte sie getäuscht. Die Finger, die sich verzweifelt in Naomis Oberarm krallten, zierten feine Narben, die davon zeugten, dass er es gewohnt war, mit den Händen zu arbeiten. Die Nägel waren kurz geschnitten. Das Haar des Mannes war grau meliert, der Haarschnitt militärisch kurz. Die Oberlippe zierte ein buschiger Bart. Die Narbe aber, die die Wange des Hexers verunstaltete, vermochte der Bart nicht zu verbergen. Knollennase und dichte graue Augenbrauen hätten ihn unter anderen Umständen harmlos wirken lassen.
Aber das bösartige Glitzern in den dunkelblauen Augen verriet die Wahrheit über den Mann.
Während ein Teil von Naomis Gehirn die Beschreibung des Mannes abspeicherte, war der andere damit beschäftigt, ihren viel zu schnellen Herzschlag zu beruhigen. Zu viel Adrenalin. Zu hohe Pulsfrequenz. Naomis Gesicht prickelte, als wäre es ein Nadelkissen.
Nicht jetzt! Naomi kratzte alles an Konzentration zusammen, was sie fand. Zwischen zusammengebissenen Zähnen quetschte sie heraus: »Wer zum Teufel bist du?«
»Leck mi…«, würgte er, als Naomi die Schultern anspannte und die Elle fester gegen seine Kehle presste.
Die leicht zu brechenden Halswirbel knirschten und knackten bedrohlich. Der Hexer lief puterrot an. Naomi brachte ihr Gesicht näher an seines heran. »Du hast dreißig Sekunden, bevor … Verflucht!«
Mit sehr viel mehr Kraft, als sie es erwartet hatte, packte der Hexer sie vorn am Pullover und versetzte ihr gleichzeitig einen derben Stoß gegen die Brust, fort von sich. Nähte dehnten sich, rissen. Rücklings stolperte Naomi über das Bein des Hexers, das er hinter ihres gehakt hatte. Wild ruderte sie mit den Armen. Doch schon einen Sekundenbruchteil später knallte sie mit dem Hintern hart auf den Boden.
Sofort war der Hexer über ihr, holte aus und trat mit dem so gewonnenen Schwung zu. Sein schwerer Stiefel landete in Naomis Rippen. Und gleich noch einmal. Der Tritt schickte Naomi in einer Rolle über den Boden, während in ihrer Brust Schmerz aufflammte. Sie sah Sterne; ihr Blickfeld zerbarst in pulsierendes Rot und jede Menge Violett- und Lilatöne.
Eine raue Hand schloss sich um ihren Nacken, packte sie brutal und schleuderte sie in Richtung Sitzlandschaft. Naomi flog, alle viere von sich gestreckt; der Aufprall jagte erneut Schmerz durch ihren ganzen Körper. Ihre Knie blieben an der Rückenlehne hängen, und Naomi überschlug sich. Hintern voran stürzte sie über die Lehne.
Ihr Hinterkopf machte unliebsame Bekanntschaft mit der harten Kante des Beistelltischchens. Für ihre Synapsen war die Flut aus Schmerz und Magie einfach zu viel. Es flimmerte ihr vor Augen, Myriaden von Sternchen statt klarer Sicht.
Heftig schüttelte Naomi den Kopf, ein erfolgloser Versuch, um wieder klar zu werden.
Mit Macht presste es ihren Brustkorb zusammen. Zunehmend fiel es Naomi schwer, Sauerstoff in ihre Lungen zu zwängen, der das Gehirn sowieso nicht mehr zu erreichen schien. Sie fletschte die Zähne. Unter großer Anstrengung zwang sie ihre Muskeln, sich in Bewegung zu setzen. Der Hexer hatte ihr dieses Mal nicht nachgesetzt. Und dann, ganz plötzlich, war der mit Magie geführte Angriff vorbei. Es geschah derart unerwartet und schlagartig, dass Naomi taumelte, als der eigenen Muskelspannung plötzlich der Widerstand fehlte.
Um Halt zu finden, klammerte sie sich an die Rückenlehne des eleganten Diwans. Sie rang nach Luft, bemühte sich, ihre verengten Lungenflügel damit zu füllen. Hysterie, fest wie ein Stahlband um ihre Brust, machte es verflucht schwer zu atmen.
Wieder flimmerte es vor Naomis Augen. Instinktiv rettete sie sich mit einem Hechtsprung zur Seite. Zum zweiten Mal kollidierte sie mit dem Sofatisch, hielt sich daran fest, als der Raum sich um sie herum zu drehen begann.
Aber niemand und nichts griff sie an.
Sie zwang sich ruhiger durchzuatmen und zog sich hoch auf die Beine. In eben diesem Augenblick schlossen sich mit sanftem hydraulischem Flüstern die Türen des Fahrstuhls zu ihrer Suite. Naomi blieb allein zurück, noch immer gebannt vom stechenden Blick der tiefblauen Augen. In der Luft hing mit der Schärfe von Ozon die tödliche Magie des Hexers.
»Verfluchtes Arschloch!«, knurrte Naomi, sprang vor und schlug mit der ganzen Handfläche auf den Aufzugsknopf. Zu gottverdammt spät! Sie sog Luft in ihre Lungen, atmete ein, hielt die Luft an, atmete langsam wieder aus. Sie wiederholte es: einatmen, ausatmen. Ruhe herstellen.
Kontrolle wiedergewinnen.
Verfluchter Scheißdreck! Naomi trat auf die Stahltüren ein, bis ihre Suite von dem metallischen Geräusch widerhallte. Schmerz pochte in ihren Zehen.
Stockwerk für Stockwerk leuchtete die Anzeige auf, während der Fahrstuhl mit dem mächtigen Hexer nach unten sank. Siebzehn. Sechzehn. Fünfzehn …
Sollte sie versuchen, schneller zu sein als der Fahrstuhl und die Treppe hinunterrennen – wo auch immer die sein mochte? Zum Teufel, der Hexer könnte in jedem beliebigen Stockwerk aussteigen, ehe der Aufzug das Erdgeschoss erreichte. Niemals würde Naomi den Scheißkerl so erwischen.
In der Zeit, die der Lift brauchte, um wieder hinauf zu Naomis Suite im obersten Stockwerk zu klettern, scharrte die Hexenjägerin in kniehohen Lederstiefeln mit den Füßen und wusste ganz genau, dass der Attentäter längst auf und davon war.
Mit dem charakteristisch satten Zischen glitten die Aufzugstüren auf. Naomi hinkte in die elegante, mit Spiegeln verkleidete Kabine. Nur mit Mühe konnte sie sich davon abhalten, die Faust in das reflektierende Glas zu versenken.
Keine Waffe, keine Munition. Sie hatte angenommen, diese dämliche Mission wäre so hexenfrei wie ein sonntägliches Hochamt. Aber dass die Haut auf ihrem Unterleib immer noch prickelte, strafte diese Annahme Lügen. Sie hatte sich geirrt.
Verdammt geirrt.
Die Frau, die aus dem suite-eigenen Fahrstuhl schoss und ihm direkt in die Arme lief, brachte alles in Phinneas Clarke zum Klingen – in seinem Kopf und an einigen anderen Stellen.
Das meiste davon waren Alarmsirenen.
Ärger auf zwei Beinen. Ärger, in fetten Großbuchstaben geschrieben, auf zwei endlos langen Beinen. Darüber ein durchtrainierter, straffer Körper. Nach dem, was Phin Körper an Körper spürte, schien die schlanke, muskulöse Weiblichkeit wie für ihn persönlich maßgefertigt. Der Schwung, mit dem der personifizierte Ärger so überraschend aus der Fahrstuhlkabine geschossen kam, warf ihn rücklings gegen die Wand. Sein Hinterkopf prallte gegen die Seidentapete und vom Beton darunter ab, dass es durch seinen Schädel hallte, als wäre eine große, volltönende Glocke angeschlagen worden. Ganz plötzlich hatte er in jeder Hand weiche Wolle und sanfte weibliche Kurven.
In der Gegenbewegung drohte die Schöne rücklings auf den Marmor zu stürzen, zog Phin Zoll um Zoll mit. Engster Körperkontakt. Phins Verstand setzte aus. Dennoch verhinderte er den Sturz, griff zu, balancierte sich und die Schöne aus, indem er sie schützend an die Brust drückte. Da rammte die so Gerettete ihm, wohl ein Reflex, ein Knie zwischen die Beine. Zum Glück für Phins verletzlichste Teile gewann jedoch bewusstes Handeln die Oberhand über Instinkt, und er fing das Knie halb in der Bewegung ab. Gleichzeitig krallte die Frau Halt suchend ihre Finger in Phins Anzugrevers. Das hatte eine recht ungünstige Position zur Folge, in der Phin sich nun, über die Schöne gebeugt, an sie schmiegte.
Wohlig warme, in Jeans verpackte Kurven füllten Phins Hände. Er begriff, dass seine Finger ihr kleines festes Hinterteil umspannten. Einen Augenblick lang hielt er sie so. Der Augenblick dehnte sich ins schier Unendliche. Nur das gleichmäßige Murmeln der sprudelnden Heilquelle gleich hinter ihnen füllte die schockierende Stille.
Phins Mundwinkel zuckten.
Naomi Ishikawa. Dem Dossier nach, das er mittels der Infos zusammengestellt hatte, die die Familie ihm hatte zukommen lassen, war dieser letzte Neuzugang eine betuchte Erbin. Sie war die Sorte betuchte Erbin, die Ärger quasi heraufbeschwor.
Phin verstand auf Anhieb, was seine Informanten, die Naomi Ishikawa verhätscheln mussten, damit gemeint hatten.
Naomi Ishikawa hatte glattes, rabenschwarzes Haar, ein Erbe ihrer japanischen Abstammung. Dieser Abstammung verdankte sie auch die hohen Wangenknochen und den mandelförmigen Schnitt ihrer Augen. Sie war zartgliedrig, gertenschlank und ebenso geschmeidig. Offenkundig war sie eine Frau, die gutes Training schätzte und sich fit hielt. Die Leichtigkeit, mit der sie, so schmal und schlank wie sie war, ihre Körperkräfte einzusetzen vermochte, war Beweis genug dafür.
Der Rest von ihr war amerikanisches Supermodel reinsten Wassers – bis hinunter zu den ellenlangen Beinen, die die asiatisch angehauchte Schöne fast auf Augenhöhe mit Phin brachten.
Er konzentrierte den Blick auf ihr erhitztes Gesicht und die verschorfte Wunde quer über dem schmalen, geraden Nasenrücken. Miss Ishikawa sah aus, als sei sie mit einem Preisboxer in den Ring gestiegen und habe den Kampf verloren.
Neben ihnen schlossen sich die Aufzugstüren. Miss Ishikawas Mandelaugen verengten sich zu schmalen Reptilienaugen. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
Phin war sich dessen nicht ganz sicher. Umschlossen seine Finger immer noch die ebenso sanften wie strammen Kurven ihres Hinterteils? Durfte man es für in Ordnung halten, wenn man sich eine schöne Unbekannte zur Brust nahm, wie er es gerade tat?
Er schüttelte den Kopf. Heftig.
Ein »Scheiße« entfuhr ihr, mehr ein heiseres Schnauben, denn ein Wort. Mit scharfem Blick musterte sie sein Gesicht, eine warme, feingliedrige Hand legte sich in seinen Nacken. »Wie heißen Sie?«
»Phin«, gelang es ihm herauszubringen, und dabei verlagerte er sein Gewicht ein wenig. Gerade eben genug. »Ich möchte wirklich nicht unhöflich erscheinen, aber wäre es Ihnen wohl möglich, Ihr Knie in eine für mich angenehmere Position zu manövrieren?«
Die Hand in seinem Nacken erstarrte. Verzweifelt versuchte er, ein Lächeln zu unterdrücken, als ihr Blick an seiner Brust hinabwanderte. Hinunter dorthin, wo ihre Hüften seine berührten und ein schlanker, jeansumhüllter Oberschenkel zwischen seinen Beinen steckte. Dorthin, wo dieser Oberschenkel eben im Eifer des Gefechts hingeraten war.
Inständig hoffte Phin, Miss Ishikawa spürte nicht, wie das Blut in einem ganz bestimmten seiner Körperteile pulsierte.
Ihr Blick huschte wieder hinauf zu seinem Gesicht, zu seinen Augen. Um ihre Mundwinkel zuckte es. Die Bestätigung für Phin, dass sie es sehr wohl bemerkt hatte. »’tschuldigung«, meinte sie leichthin. »Ich sag’ Ihnen was: Sie nehmen Ihre Finger von meinem Hintern, und ich nehme mein Knie von Ihrem …«
»Hab schon verstanden«, beeilte Phin sich zu versichern, hastig, ehe die Hitzewelle, die durch seine Adern schoss, das Pulsieren seines Ständers verstärken konnte. Vorsichtig nahm er seine Hände, die allzu willfährig zugegriffen hatten, von dem Allerwertesten der Schönen. Elegant befreite sie sich aus dem Gewirr aus Gliedern, ohne das fragile Gleichgewicht zwischen Phin und sich zu stören. Absurderweise war er dankbar, jetzt tatsächlich wieder Atem holen zu können, ohne den sauberen Duft ihrer Haut in der Nase zu haben. Miss Ishikawa roch nach ungezähmter Wildnis.
»Tut mir echt leid«, sagte sie und zupfte an dem zerrissenen Kragen ihres Pullovers herum. Mit gerunzelter Stirn begutachtete sie die ausgefranste Naht und losen Fäden. »Ich hätte sie vorwarnen sollen.«
Und wie!
Phin streckte den Rücken durch und rieb sich vorsichtig über die Beule an seinem Hinterkopf. »Ich kann mir weitaus weniger angenehme Arten vorstellen, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Ishikawa.«
Ihre Schulterpartie verspannte sich. Die Bewegung war kaum wahrnehmbar. Einem weniger aufmerksamen Beobachter, und Phin hatte Miss Ishikawa gerade sehr aufmerksam im Blick, wäre es entgangen. Der Blick, der ihn gedankenschnell traf, war rasiermesserscharf. In diesem Sekundenbruchteil kam es Phin so vor, als hätten diese bemerkenswert tiefblauen Augen – fast schon veilchenblau waren sie – ihn vermessen. Sie hatten ihn Zoll um Zoll kategorisiert: von den teuren Schuhen und dem Anzug, noch zerknautscht von ihrem Zusammenstoß, bis hinauf zu seinen braunen Locken. Und zum krönenden Abschluss war er in eine Schublade gesteckt worden. Phin war sich alles andere als sicher, ob deren Aufschrift schmeichelhaft für ihn war.
Dann verzog sich Miss Ishikawas Mund zu einem unbeschwerten, strahlenden Lächeln.
Das Lächeln schnitt Phin tief ins Herz, was nicht hätte sein dürfen. Sein Magen verkrampfte sich; schlagartig war er sich seiner selbst in aller Klarheit bewusst.
»Naomi«, verbesserte sie ihn.
»Gut, dann Naomi.« Er streckte ihr die Hand entgegen. »Phinneas Clarke. Herzlich willkommen im Zeitlos. Normalerweise sind wir bemüht, nicht unaufgefordert Hand an unsere Gäste zu legen.«
Ihr Blick zuckte zu seiner Hand hinunter. Als ihm Naomi Ishikawa dann ihre reichte, war ihr Griff fest, die Haut so kühl, dass sie sich ein klein wenig feucht anfühlte. Phin gelang es, seine Überraschung zu verbergen, als sein Daumen über aufgeschürfte Fingerknöchel strich: Er blickte nicht auf ihre Hand hinunter; nicht einmal ein Wimpernzucken verriet ihn.
Ärger auf zwei Beinen. Definitiv jede Menge Ärger.
»Nichts passiert.« Naomi Ishikawa entzog ihre Hand eine Spur früher, als es den Benimmregeln der besseren Gesellschaft nach höflich gewesen wäre. Phin entging nicht, dass sie sich die Handfläche am eleganten Wollpullover abwischte. »Haben Sie sonst noch jemanden aus diesem Aufzug kommen sehen?«
»Nicht bevor Sie in mich hineingelaufen sind.«
»Verdammt!« Rasch wanderte ihr Blick einmal über das gesamte Atrium und den kleinen Park hinter Phin. Den großzügig bemessenen Innenhof erhellte das gedämpfte Licht einiger Laternen, die unter den Bäumen des sorgfältig angelegten Landschaftsgartens platziert waren. »Was macht Ihr Kopf? Alles in Ordnung damit?«
Ihr Gesicht lag im Schatten; daher war ihr Blick nicht leicht zu lesen. Phin hatte keine Ahnung, was der asiatisch angehauchten Schönheit gerade durch den Kopf ging. Ob er allerdings bei Tageslicht und genug Sonnenschein mehr Glück beim Entschlüsseln gehabt hätte, konnte er nicht sagen.
Er schenkte ihr ein schiefes, entschuldigendes Lächeln. »Och, der hat schon Schlimmeres mitgemacht. Aber das war immerhin eine besondere Art, sich kennenzulernen.«
Naomi Ishikawa legte den Kopf in den Nacken und blickte hinauf in den Abendhimmel, der sich Stockwerk um Stockwerk über ihnen jenseits der großen Lichtkuppel wölbte. »Sie hatten es doch eilig, in den Fahrstuhl zu kommen«, bemerkte sie und strich sich eine schwarze Haarsträhne hinters Ohr. »Bitte, lassen Sie sich von mir nicht aufhalten.«
Es war lange her, dass Phin sich derart umfassend und endgültig aus einer Unterhaltung entlassen gefühlt hatte. Wie einen Fehdehandschuh nahm er die Herausforderung an, die er tief in seinem Herzen verspürte. »Eigentlich war ich auf dem Weg zu Ihnen.«
Eine schmale Augenbraue hob sich. »Zu mir?«
»Um mich Ihnen vorzustellen.«
Sie gab einen unverbindlichen Laut von sich. Phins Blick wanderte hinunter zu ihrem Mund. Er konnte nicht anders: Ihm schoss der Gedanke durch den Kopf, wie wunderbar es wäre, von diesen vollen Lippen zu kosten. Die Oberlippe hatte einen herrlich lasziven Schwung. Naomi Ishikawa war auf ihren Stiefelabsätzen fast so groß wie er. Phin hätte nur ein klein wenig den Nacken beugen müssen, um die Distanz zwischen seinem Mund und diesen Lippen zu überbrücken.
Damit würde er sich ganz gewiss einen gemeinen rechten Haken einfangen, sofern der Zustand von Miss Ishikawas Fingerknöcheln etwas zu bedeuten hatte. Nein, danke, lieber nicht. Phin mochte sein Gesicht genau so, wie es momentan war.
Naomi Ishikawa beobachtete ihn und steckte die Hände in die Vordertaschen ihrer knappen, auf der Hüfte sitzenden Jeans.
»Und jetzt, wo ich erfolgreich Eindruck bei Ihnen hinterlassen habe«, fuhr Phin mit belegter Stimme fort, »lasse ich Sie gehen und beenden, was immer Sie vorgehabt haben zu tun. Die ganze Situation kann ja kaum noch peinlicher werden.«
Naomi Ishikawa warf ihm einen Blick zu, in dem der Schalk aufblitzte. Ein Schalk, der von recht schwarzem Humor zeugte. Von Humor, der Biss besaß. »Ich wette, das sagen Sie allen Frauen, denen Sie begegnen.«
»Nur zu denen, die sich gleich auf mich stürzen.«
Ihr ansteckend herzhaftes Lachen überraschte ihn. Es besaß den vermuteten Biss, war kehlig, verrucht. Gerade verrucht genug, um ihn daran zu erinnern, wie warm ihr Körper gewesen war, auf dem er seine Hände gehabt hatte, wie herrlich weich der Pullover und wie sanft die weiblichen Kurven darunter. Gerade weiblich genug, um Phin ins Gedächtnis zurückzurufen, wie lange er schon nicht mehr mit einer Frau ausgegangen war. Oder sie mit nach Hause gebracht hatte. Phin schürzte die Lippen und stieß einen lautlosen Pfiff aus. Er hatte es sich zum Prinzip gemacht, die Finger von den weiblichen Gästen zu lassen. Sie waren nicht hier, um angegraben oder flachgelegt zu werden. Derartig enger Kontakt zu ihnen war schlecht für das Geschäft, ganz egal, wie hübsch verpackt das Frischfleisch war.
Aber bei Miss Ishikawa würde das Einhalten der ehernen Geschäftsprinzipien ihn ganz schön auf die Probe stellen.
»Ich habe mich nur ein bisschen umgesehen«, behauptete sie und zuckte mit den Schultern. »Nennen Sie mir doch bitte die nächstgelegenen Ausgänge. Kurz und knapp, bitte«, hielt sie es für nötig, anzumerken.
»Ihr Wunsch ist mir Befehl. Die Lobby liegt gleich hinter mir; man muss nur durch den Park.«
»Den Park?«
»Nun, okay, das Gelände hier im Innenhof ist natürlich nicht so weitläufig wie früher einmal. Aber Sie können den Park in aller Ruhe erkunden, wenn Sie möchten.« Er deutete auf breite doppelflügelige Türen auf der gegenüberliegenden Seite des Atriums. »Im Erdgeschoss befinden sich Pool- und Fitnessbereiche, die allen Ansprüchen genügen. Sofern Sie es wünschen, stehen Ihnen in den Fitnessstudios jederzeit Privattrainer zur Verfügung, um Sie bei Ihrem Trainingsprogramm optimal zu betreuen.« Dann zeigte Phin auf die Fahrstuhltüren hinter dem betuchten Gast. »Siebzehn Suiten. Jede auf ihrem eigenen Stockwerk.«
Über ihre Schulter hinweg warf die Versuchung auf zwei Beinen einen Blick auf die Fahrstuhltüren. »Ist das die einzige Möglichkeit, zu den Suiten zu gelangen?«
»Zu jedem Stockwerk führen Treppen hinauf. Aber eigentlich sind die Treppenhäuser nur fürs Personal oder für die Benutzung im Notfall gedacht. Ihre Familie hat die Penthouse-Suite im obersten Stockwerk des Gästeflügels für Sie reserviert«, setzte Phin mit einem Lächeln hinzu. »Die beste Aussicht auf die Stadt.«
»Sonst noch etwas?«
Mit einer lässigen Daumenbewegung wies Phin nach rechts. Dort sah man in einiger Entfernung ein grünes Ausgang-Schild leuchten. »Dort entlang befindet sich alles, was unser Haus an Service zu bieten hat. Verteilt auf zehn Stockwerke von dem Aufzugsblock aus können Sie alles wahrnehmen, was wir unseren Gästen an Möglichkeiten bieten: zu dinieren oder Bekanntschaften zu knüpfen, sich zu entspannen oder etwas für die Schönheit zu tun. Haben Sie schon einen Blick in Ihr Programm geworfen?«
»Mein Programm?«
»Für Sie wurde bereits im Voraus einiges gebucht, das Sie nun in unserem Haus tun können«, erklärte er. Als Miss Ishikawa lächelte, schlich sich die Neugierde in seine Stimme. »Sollte Ihnen die getroffene Auswahl allerdings nicht zusagen …«
»Ich bin sicher, dass alles reizend und jeder Service hier absolut erstklassig sein wird«, unterbrach sie ihn. Ihre Miene verriet Gleichgültigkeit. Phin fragte sich, ob er ihren Gesichtsausdruck vorhin missdeutet hatte.
»Das Programm sollte bereits in Ihrer Suite liegen.« Phin nahm sich vor, deswegen später noch einmal mit dem Zimmerservice zu reden. »Vom Atrium hier gelangt man in jeden der drei Türme beziehungsweise Flügel.« Als ob sie seine Gedanken lesen könnte, huschte ihr Blick hinüber zu der dritten Doppelflügeltür. Ihre unausgesprochene Frage beantwortete er, indem er hinzufügte: »Dort ist der Familienflügel. Und obwohl es mir eine Freude wäre, Sie einzuladen und Ihnen meine Wohnräume zu zeigen …«
»Hab’ verstanden, Schlitzohr«, sagte sie, und um ihren Mund herum zuckte es. »Ich werde es im Gedächtnis behalten, ganz sicher.«
»Was die Aufzählung der wichtigsten Orientierungspunkte angeht, war’s das auch schon.« Es war die kürzeste und zugleich präziseste Einweisung in die Resort-Strukturen, die Phin je gegeben hatte.
Nicht dass Madame bereit gewesen wäre, diesem Umstand in irgendeiner Weise Respekt zu zollen. Das Lächeln, das über ihr Gesicht huschte, verriet, dass Wichtigeres sie ablenkte. »Großartig«, meinte sie. Dass Phin damit entlassen war, war ihrem Tonfall erneut anzuhören. »Danke.«
»Keine Ursache.« Er trat zur Seite, nahm langsam, eine nach der anderen, die wenigen Stufen ins Atrium. »Willkommen im Zeitlos.«
Die nächsten Wochen, in denen er diese spezielle Erbin um sich herum wüsste, würden ihm schrecklich lang vorkommen. Als Miss Ishikawa sich zum Gehen wandte, stieß Phin einen lautlosen Seufzer der Erleichterung aus. »Nun, Ihnen einen schönen Abend«, verabschiedete sie sich. »Sicherlich laufen wir uns schon recht bald wieder über den Weg.«
»Gibt es momentan etwas, das ich für Sie tun kann? Brauchen Sie noch etwas?«
Mit einer lässigen Handbewegung winkte sie ab. Sie drehte sich nicht einmal mehr zu Phin um. »Nein. Aber Sie sind ein … interessanter Mann, Phinneas Clarke.«
Er grinste ihren Rücken an. »Phin, bitte. Und falls das kein Kompliment gewesen sein sollte, erlaube ich mir dennoch, es dafür zu halten.«
Sie zog die Schultern hoch. »Was immer Ihnen beliebt, Phi….«, begann sie. Mitten im Satz brach sie ab, als ein gedämpfter Schrei aus größerer Entfernung durchs Atrium hallte.