Kapitel 16
In welchem wir eine eigenartige Kreatur kennenlernen.
Wissen Sie, ich glaube, mein Augenlicht ist wiedergekehrt“, sagte Ludbridge blinzelnd und rieb sich die Augen. Mrs. Corvey, die gerade mit dem Umziehen fertig geworden war, während sie den Stand der Dinge erklärt hatte, wandte sich zu ihm um und zog eine Braue hoch.
„Meine Gratulation, Mr. Ludbridge. Schönes Gefühl, oder?“
„In der Tat, Mrs. Corvey.“
„Nun, Mr. Ludbridge, ich denke, ich werde jetzt nachsehen, wie meine Grazien zurechtkommen. Ich will ausserdem wissen, warum alle Lichter in der Halle an sind. Ich schlage vor, Sie widmen sich der Waschschüssel und der Seife und polieren sich etwas auf, damit Sie nicht mehr aussehen, als hätten Sie die letzten vierzehn Tage damit verbracht, in Höhlen herumzukriechen. Auf dem Tisch finden Sie überdies eine Bürste und einen Kamm, die Sie benutzen können.“
„Danke, Ma’am, das werde ich gewisslich tun.“
Mrs. Corvey warf sich ihr Umhängetuch um die Schultern und trat auf den Burghof hinaus. Sie ging bestimmten Schrittes zur grossen Halle hinüber, beobachtete die erleuchteten Fenster und erschrak, als sie auf etwas Unerwartetes trat. Sie sah hinunter. Einen Augenblick fixierte sie das, was da im Hof lag. Dann machte Mrs. Corvey schlagartig kehrt und ging zurück zu der Kammer hinter den Stallungen. Sie öffnete die Tür und stand vor Ludbridge, der gerade sein Gesicht wusch. Als er – wie ein Walross schnaufend – nach dem Handtuch griff, sagte sie: „Entschuldigen Sie, Mr. Ludbridge – im Hof liegt ein toter Franzose. Würden Sie bitte mitkommen, und ihn sich einmal ansehen?“
„Wie Sie wünschen“, entgegnete Ludbridge und folgte ihr in den Hof. Als sie den Leichnam erreichten, zog er einen kleinen, walzenförmigen Gegenstand aus der Tasche und drückte einen Knopf daran. Ein dünner Strahl hellen Lichts erleuchtete das eine Ende, was einen bewundernden Ausruf Mrs. Corveys auslöste. „Oh, ich hoffe, Mr. Felmouth fertigt davon auch ein paar für uns an!“
„Wir nennen sie elektrische Kerzen. Sehr nützlich. Lassen Sie uns den Bettler ansehen ...“ Ludbridge leuchtete dem Toten ins Antlitz und zuckte zusammen. Graf de Mortains Züge waren noch erkennbar, obwohl sie zu einer Maske des Entsetzens eingefroren waren. Dies traf nicht nur im übertragenen Sinne zu – er war blau vor Kälte, und Eis glitzerte auf ihm. Seine Arme waren über dem Kopf ausgestreckt wie bei einem Taucher; seine Finger verkrümmt wie Klauen.
„Hol’s der Teufel! Das ist Emile Frochard.“
„Nicht der Graf de Mortain?“
„Keineswegs. Dieser Bursche ist Spion im Dienste der Österreicher! Aber sie haben den echten Grafen erpresst. Ich wäre nicht überrascht, wenn sie die Einladung für die Versteigerung abgefangen hätten. Tja. Seltsam. Ich frage mich, woran er gestorben ist.“
„Ich glaube, ich habe eine Idee“, sagte Mrs. Corvey mit einem Seitenblick auf das Haus. „Ich werde gleich mehr wissen.“
„Sollen wir irgend etwas mit ihm machen?“
„Nein! Lassen Sie ihn für den Augenblick einfach liegen, Mr. Ludbridge.“
***
Lady Beatrice stand einen Moment lang ruhig im Gang vor den Schlafgemächern und lauschte angestrengt. Prinz Nakhimov hatte dem Anschein nach eine weitere Anekdote begonnen, die von der Wolfsjagd handelte. Ein eisiger Windhauch wehte derart unerwartet über den Gang, dass Lady Beatrice zusammenzuckte. Wäre sie nicht so schonungslos pragmatisch gewesen, hätte sie eine übernatürliche Ursache vermutet. So offenbarte eine kurze, gründliche Musterung des Gangs einen Wandbehang am Ende der Halle, der sich bewegte, als ginge dahinter ein Luftzug. Lady Beatrice erkannte die Unterkante einer Tür in der Wand.
Sie näherte sich dieser vorsichtig und zog den Wandteppich zur Seite. Die Tür dahinter stand offen. Lady Beatrice erkannte einen kurzen Gang, den das Mondlicht durch die unverglasten Fensterschlitze erhellte. An seinem Ende befand sich eine weitere Tür.
Auf dem Weg den Gang entlang blickte Lady Beatrice durch eines der Fenster hinaus und sah, dass sie sich hoch oben in der Luft befand, und der Gang die Rückseite des Hauses mit dem Turm auf dem Burghügel verband wie eine überdachte Brücke. Sie eilte über die rohen Holzplanken und versuchte, die Tür am anderen Ende zu öffnen. Dies liess sich problemlos bewerkstelligen, da das Schloss zerstört war.
Lady Beatrice stand einen Augenblick lang blinzelnd im hell erleuchteten Raum dahinter. Die Beleuchtung kam nicht von Kerzen oder Öllampen, sondern von etwas, das einer riesigen Gruppe von De-La-Rue-Lampen glich. Was Lady Beatrice in helle Überraschung versetzte, hatte sie doch geglaubt, lediglich die Spekulative Gesellschaft der Gentlemen befände sich im Besitz der praktischen Vakuumlampen.
Ihre Überraschung war jedoch nichts im Vergleich zu der des Insassen des Raums. Er wandte sich um, erblickte sie und erstarrte für einen Augenblick. Er glich Lord Basmond so sehr, er hätte dessen Geist sein können – nur magerer, blasser und unendlich fragiler. Seine Hände und die blossen Füsse waren kreidebleich und zu lang, um anmutig zu wirken. Seine Kleidung bestand nur aus einer Hose mit Hosenträgern, einem Hemd, dessen Ärmel hochgekrempelt waren sowie einem Lederband rund um den fast haarlosen Schädel. An dem Band waren verschiedene Brillen an beweglichen Bügeln und eine kleine Vakuumlampe befestigt, die ein gespenstisches Licht auf sein entsetztes Antlitz warf.
Er kreischte schrill auf wie ein Kaninchen in einer Falle und trippelte ausser Sicht.
Lady Beatrice trat in den runden Raum. An der gegenüberliegenden Wand befanden sich eine schmale Bettstatt, eine Kommode und ein Waschtisch. In der Mitte des Raumes lag eine Falltür, fest verschlossen und verriegelt. Daneben stand eine Art Werkbank, auf der etwas lag, das einer zerlegten Uhr glich. Die herumliegenden Werkzeuge machten deutlich, dass das Geschöpf an diesem Gerät gearbeitet hatte, als Lady Beatrice eingetreten war. Das Auffälligste an dem Raum war die Dekoration. Auf dem weissen Putz an den Wänden befanden sich bis zu einer Höhe von über drei Metern Kohlezeichnungen von Maschinen, Uhrwerke, Flaschenzüge, Kolben, Federn, Drähte. Hier und da standen dem Anschein nach auch erklärende Anmerkungen in Kurzschrift, die Lady Beatrice nicht lesen konnte. Auch der Sinn und Zweck der dargestellten Geräte erschloss sich ihr nicht.
Sie umrundete die Werkbank auf der Suche nach dem Bewohner des Raums. Er war nirgends zu sehen, doch jenseits der Falltür befand sich ein Behälter von der ungefähren Grösse und Form eines Wäschemanglers. Lady Beatrice kniete sich daneben.
„Sie müssen keine Angst haben, Mr. Rawdon“, sagte sie.
Aus der Kiste ertönte ein unartikulierter Schrei, der jäh wieder abbrach.
„Lassen Sie ihn in Ruhe“, sagte eine zweite Stimme vermeintlich aus heiterem Himmel. Die Illusion war so vollkommen, dass Lady Beatrice der Wand zunächst in Erwartung eines Sprachrohrs einen prüfenden Blick zuwarf. „Verstehen Sie nicht, dass Sie nicht mit Hindley reden können? Reden Sie mit Arthur.“
„Tut mir leid, Hindley, aber Arthur ist tot.“
„Ich bin nicht Hindley! Ich bin Jumbey. Arthur ist nicht tot. Wie lächerlich! Jetzt gehen Sie und lassen Sie den armen Hindley in Ruhe. Er ist viel zu beschäftigt, als dass man ihn ablenken dürfte.“
„Darf ich dann mit Ihnen reden, Jumbey? Wenn ich verspreche, Hindley in Ruhe zu lassen?“
„Sie müssen es versprechen und Ihr Versprechen halten!“
„Das tue ich. Das werde ich. Sagen Sie mir, Jumbey: Hindley entwickelt Dinge, nicht?“
„Natürlich! Er ist ein Genie.“
„Das sehe ich. Er hat das Levitationsgerät gebaut, nicht wahr?“
„Sie haben es gesehen? Ja. Arthur hat es eingeheimst, aber Hindley war das einerlei. Er kann sich jederzeit ein neues bauen.“
„Hatte Arthur Hindley gebeten, ein Levitationsgerät für ihn zu entwerfen?“
„Arthur? Nein! Arthur ist der dumme. Er wäre nie von allein auf so eine Idee gekommen. Man hat Hindley in den kleinen Raum mit dem Kleiderschrank gesperrt. Seine Spielsachen rollten immer unter den Schrank, der arme Hindley konnte sie nicht erreichen, und der gemeine Pilkins wollte sie ihm nicht mehr hervorholen. Also baute Hindley sich etwas, mit dem er den Schrank schweben lassen konnte, verstehen Sie, und damit konnte er seine Spielsachen ab sofort selbst bergen.
Dann kam Arthur heim, und die Dienstboten verpetzten Hindley, und er hatte solche Angst, das arme Ding, weil er befürchtete, er müsse wieder in den kleinen, dunklen Raum mit dem kalten Wasser. Doch Arthur sagte, er würde ihm einen schönen, grossen Raum geben und ein Labor ganz für ihn allein, wenn Hindey ihm Dinge bauen würde, und Hindley bekäme alle Zuckerwatte, die er haben wollte, und Arthur würde die Fremden fernhalten. Hat er aber nicht.“ Die letzten Worte spie er mit Gift und Galle aus.
„Hat er nicht?“
„Nein! Hindley hat kein Stückchen Zuckerwatte gekostet, und dieser grosse, ungeschickte Spion hat Hindley unten in den Tunneln nachgestellt. Hindley musste allein mit ihm fertigwerden, was sehr schwer für den armen Hindley ist, weil er nicht gesehen werden darf.“
„Es tut mir leid, das zu hören, Jumbey.“
„Arthur hat die Aufgabe, auf Hindley aufzupassen und ihn zu beschützen. Mutter hat es gesagt. Immer!“
„Nun, mein Lieber, ich fürchte, Arthur kann das nicht mehr. Wir werden ein anderes Arrangement für Hindley finden müssen.“
„Ist Arthur wieder zur Schule gegangen?“
Lady Beatrice dachte gründlich nach, ehe sie antwortete. „Ja. Ist er.“
„Er hat den armen Hindley wieder mit Pilkins allein gelassen?“ Die selbstsichere Stimme zitterte. „Hindley will das nicht. Hindley mag den kleinen, dunklen Raum mit dem kalten Wasser nicht!“
„Ich glaube, wir können Hindley helfen.“
„Wie?“