Kapitel 13
In welchem Mr. Ludbridge eine eigenartige Geschichte erzählt.
Die rote Masse hatte sich verschoben und nahm nun die Gestalt eines Mannes an, der zusammengesackt an der Tunnelwand lehnte, wobei ein Arm unangenehm nach oben wegstand. Als sie sich näherte, erkannte Mrs. Corvey, dass er an der Stelle mit einer Handfessel fixiert war, deren Kette um eine der uralten Wurzeln geschlungen war.
„Mr. Ludbridge?“, erkundigte sie sich.
Sein Kopf ruckte hoch und in ihre Richtung.
„Ist das eine Dame?“
„Das bin ich. William Reginald Ludbridge?“
„Könnte sein”, entgegnete er. Sie war auf wenige Schritte herangekommen, öffnete ein Fach in ihrem Stock, entnahm ihm ein Streichholz und entzündete es. Der Kreis des tanzenden Lichtscheins erwies unzweifelhaft, dass es sich in der Tat um den vermissten Agenten Ludbridge handelte. „Wer ist da?“
„Elizabeth Corvey, Mr. Ludbridge. Vom Nell Gwynne’s.”
„Sind Sie das? Was wird aus Illusionen?“
„Wir zerstreuen sie“, antwortete sie, erleichtert, dass sie sich an die Parole erinnern konnte, denn sie musste sie nur selten abgeben.
„Wir sind überall. Falls Sie sich fragen, wieso das Streichholz kein Licht gibt, das liegt an diesem gottverfluchten – ich bitte um Verzeihung – diesem Ding, das Sie ausgelöst haben. Es wird mindestens eine Stunde dauern, ehe wir wieder etwas sehen können.“
„Ehrlich gesagt sehe ich Sie, Mr. Ludbridge.“ Sie blies das Flämmchen aus.
„Bitte? – Oh! Mrs. Corvey. Sie sind die Dame mit den … verzeihen Sie mir, Madam, aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass die SGG die Hilfstruppe der Damen zu meiner Rettung schickt. Der Blitz hat Ihre ... äh ... Augen also nicht beeinträchtigt?“
„Es sieht nicht so aus, Sir.“
„Das ist doch mal was. Äh ... ich gehe davon aus, dass man Sie nicht allein geschickt hat?“
„Nein, Sir. Einige meiner Mädchen sind oben und, wie Sie wohl sagen würden, unterhalten Lord Basmond und seine Gäste.“
„Ha! Genial. Ich nehme an, Sie haben nicht zufällig eine Eisensäge dabei, Mrs. Corvey?“
„Nein, aber lassen Sie mich sehen, was ich mit einer Kugel ausrichten kann.“
Mrs. Corvey setzte das Ende ihres Gehstocks gegen die Wurzel, wo die Kette der Handfessel entlanglief, und drückte ab. Die Kette barst mit einem Knall, und weisse Wurzelflocken drifteten wie Schnee zu Boden. Ludbridges Arm fiel leblos herab.
„Ich bin Ihnen zu tiefstem Dank verpflichtet“, sagte er, während er mit einem Keuchen versuchte, dem Arm durch Kneten wieder Leben einzuhauchen. „Was haben Sie herausgefunden?“
„Wir wissen von dem Levitationsgerät.“
„Gut, aber das ist nicht alles. Bei weitem nicht. Da ist dieses Ding im Tunnel, das so ausgezeichnet Einbrecher fängt, und ich vermute, es gibt noch mehr.“
„Was genau ist es, Mr. Ludbridge?“
„Verdammt, wenn ich das wüsste – ich bitte um Verzeihung. Sie haben das Laboratorium gesehen, oder?“
„In der Tat, Mr. Ludbridge, da komme ich her.“
„Genau wie ich. Bin reingeklettert und habe mich umgesehen. Aufzeichnungen gemacht und Skizzen. Die sind auch irgendwo hier ...“ Ludbridge betastete seine Manteltaschen. „Ja, gewiss. War im anderen Stollen unterwegs, als ich die Falltür oben hörte, und wie jemand die Leiter herunterkletterte. Löschte schnell mein Licht und hechtete in das, was ich für eine Wandnische hielt, um nicht bemerkt zu werden. Das verdammte Ding zerbröselte hinter mir, und ich fiel hier rein.
Ich hörte schnelle Fusstritte im Haupttunnel vorbeieilen. Als ich mich sicher fühlte, machte ich mein Licht wieder an und sah mich um. Das hier ist nur der Eingang in ein riesiges Netzwerk von Stollen, wissen Sie? Ein richtiges Labyrinth. Es ist ein Wunder, dass Basmond Hall noch nicht in dem Hügel versunken ist. Ich konnte Wasser hören und den Luftzug spüren, also beschloss ich, es zu erforschen und zu sehen, ob ich nicht einen diskreten Ausgang finden konnte.
Das war vor zwei Wochen, glaube ich. Ich habe keinen Ausgang gefunden, aber dafür alles mögliche andere, manches davon sehr fremdartig. Es gibt einen unterirdischen See, den eine Quelle speist, Ma’am, und etwas, das wie die Ahnengräber der Rawdons aussieht – zumindest hoffe ich, dass sie das sind. Müllhaufen voll bizarrer Gegenstände. Jemand lebte schon lange, als die Rawdons mit William dem Eroberer hierherkamen, das kann ich Ihnen sagen! Ich muss bedauerlicherweise gestehen, dass ich mehr als einmal fehlging. Ohne meine Rationen und die Quelle wäre ich hier unten gestorben.
Als ich schliesslich wieder den Weg nach oben fand, eilte ich jubelnd diesen Gang hier entlang – direkt in das Was-immer-es-ist, das diesen schrecklichen Blitz erzeugt. Ich wurde beim ersten Mal ohnmächtig. Als ich erwachte, war ich an die Wand gekettet, wie Sie mich angetroffen haben. Das war ... gestern? Ich bin mir der Zeitläufe etwas unsicher, fürchte ich.“
„Lord Basmond hatte augenscheinlich bemerkt, dass es einen Eindringling gab“, sagte Mrs. Corvey.
„Sehr richtig. Habe ihn aber nicht gesehen. Ist nicht mal heruntergekommen, um sich vor mir zu brüsten, worauf ich ehrlich gesagt gehofft hatte. Dann hätte ich versucht, ihn davon zu überzeugen, der SGG beizutreten. Aber genausogut ist, dass Sie gekommen sind.“
„Was nun, Mr. Ludbridge?“
„Tja, was? Ich bin in Ihrer Hand, Madam.“
Mrs. Corvey wandte sich um und musterte den Boden des Stollens. Jetzt erkannte sie auch den geflochtenen Draht, der sich über den Weg spannte, und die Metallkiste, an die er angeschlossen war.
„Ich denke, wir entkommen jetzt, Mr. Ludbridge.“