Kapitel 11

In welchem unsere Heldin und ihre Wohltäterin Entdeckungen machen.

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Nachdem sie Ralph freundlich eine gute Nacht gewünscht hatte, drückte sich Mrs. Corvey an ihrem Schrankkoffer vorbei und setzte sich auf die schmale Bettstatt, die man für sie hergerichtet hatte. Ihr Gehör war sehr gut, ein Vorteil, den ihre Jahre in Blindheit ihr eingebracht hatten, und so lauschte sie geduldig, wie Ralph die knarzenden Stufen zu seinem Zimmer über den Stallungen erklomm. Er zog sich aus, warf sich in sein Bett und gönnte sich eine ausgedehnte Episode der Onanie (sofern Mrs. Corvey die vernehmlichen Anzeichen einsamer männlicher Erregung richtig einschätzte). Schliesslich begann er zu schnarchen.

Als sie sicher war, dass Ralph nicht aufwachen würde, erhob sich Mrs. Corvey und ging ans andere Ende ihrer Kammer, wo das einzige, kleine Fenster das Mondlicht hereinliess. Sie sah hinaus und begutachtete die abschüssige Böschung, die zu den Gärten hinter Basmond Hall hinunterführte. Vielleicht war „Gärten“ etwas hochgegriffen – es schien einen alten Obstgarten und ein paar Gemüseanpflanzungen mit Kohl und Kräutern am Rande eines grossen, zugewucherten Parks zu geben. Direkt geradeaus jedoch befand sich ein modernes Bauwerk aus Ziegelsteinen und Schiefer, etwa zweimal so gross wie ein Kutschhaus. Es stand in scharfem Gegensatz zu der Atmosphäre pittoresken Verfalls, die Basmond Hall ansonsten auszeichnete.

Mrs. Corvey musterte es einen Moment lang versonnen, ehe sie sich vom Fenster abwandte und den Schrankkoffer öffnete. Schnell legte sie ihre Kleidung ab und zog eine einfache dunkle Hose und einen Strickpullover hervor, die wie für einen Jungen gemacht schienen. Nach dem Anziehen öffnete sie eine unauffällige Klappe im Deckel des Schrankkoffers und legte einen Kasten mit einem Dutzend Messingpatronen frei, die in etwa die Grösse von Gewehrmunition hatten. Sie griff nach ihrem Gehstock, tätigte einige Einstellungen daran und lud die Munition in die Kammer, die sich darin geöffnet hatte. Derart ausgestattet huschte Mrs. Corvey aus ihrem Zimmer hinaus in den Hof und durch die Schatten an seiner östlichen Flanke.

Die Tatsache, dass man das Fallgatter heruntergelassen hatte, verursachte ihr Unbehagen. Nach kurzer Untersuchung stellte sich jedoch heraus, dass das eiserne Gitterwerk dafür gebaut worden war, den breitschultrigen Recken von anno dazumal den Eintritt zu verwehren. Mrs. Corvey dagegen, weiblich und in jungen Jahren ständig unterernährt, war klein genug, um sich ohne Schwierigkeiten hindurchzuquetschen. Sie kletterte den Hügel hinunter in den trockenen Burggraben und arbeitete sich in die Gärten vor.

Dort betrat sie einen kurzen Abschnitt ebenen, wenn auch schlecht gepflegten Rasens. Dahinter, dicht am Hügel, befand sich das neue Bauwerk. Mrs. Corvey fragte sich, ob es sich wohl um ein Gewächshaus handeln könne, denn die Nordseite bestand fast komplett aus Fensterglas. Sie umkreiste das Gebäude, fand aber überraschenderweise keine Tür und auch kein Fenster, das den Anschein erweckte, man könne es öffnen.

Mrs. Corvey nahm die Brille ab und fuhr ihre Optik bis ans Glas aus. Das Mondlicht erleuchtete den Innenraum ziemlich gut. Sie entdeckte keinerlei Pflanzen, sondern statt dessen mehrere Tische, auf denen sich diverse Glasgefässe wie aus einem chemischen Labor befanden. Andere Tische hielten Werkzeuge und kleine Maschinen bereit, deren Sinn und Zweck sie nicht erkennen konnte. In einer Ecke befand sich eine dunkle, unförmige Dampfmaschine. In der anderen bemerkte Mrs. Corvey eine Tür und erkannte, dass man das Laboratorium von innen betreten musste, denn die Tür befand sich in der Hauswand, die sich an den Hügel schmiegte. Von dort musste es einen Gang nach oben in den Turm geben.

Mrs. Corvey nickte unwillkürlich und machte sich daran, die Bleieinfassung der Fensterscheiben zu untersuchen. Nahe dem Erdboden fand sie eine Stelle, an der man die Scheibe anscheinend kürzlich ersetzt hatte, da das Blei heller schien. Sie zog eine lange Haarnadel aus ihrem Dutt und kratzte damit das Blei vom Rand der Fensterscheibe. Nach einigen Minuten gewissenhafter Arbeit liess sie das Glasstück aus dem Rahmen herausgleiten und legte es behutsam zur Seite. Es war nicht schwieriger, durch die entstandene Lücke nach drinnen zu klettern, als zuvor durch das Fallgatter zu kommen. Mrs. Corvey amüsierte sich einen Augenblick darüber, dass sie eine ausgezeichnete Einbrecherin abgegeben hätte, wenn das Schicksal sie nicht an den Ort geführt hätte, an dem sie heute stand.

Als nächstes untersuchte sie das Laboratorium ausführlich, merkte sich die Einzelheiten und wünschte sich, Mr. Felmouth würde sich die Mühe machen, eine Kamera zu bauen, die klein genug war, sie bei derartigen Anlässen mitzuführen. Aufzeichnungen, Papiere und Protokollbücher, aus denen sich Hintergründe zu den Maschinen erschliessen lassen könnten, suchte sie vergebens. Danach rückte Mrs. Corvey der Tür mit ihrer Haarnadel zu Leibe und stand einen Augenblick später vor dem pechrabenschwarzen Tunneleingang auf der anderen Seite.

***

Im nachhinein musste Lady Beatrice zugeben, dass die Bettlaken bewundernswert praktische Kostüme für das abendliche Fest abgaben. Im Verlauf ihrer Arbeit war sie mit Eiscreme, Zuckerguss, Kuchenkrümeln, Rosenblättern und verschüttetem Wein besudelt worden. Die letztgenannte Substanz hatte sich allerdings nicht in ekstatischer Ausschweifung über ihren Busen ergossen, sondern als Prinz Nakhimov über den Anblick Sir Georges, der eine der Wackelpudding-Putten komplett hinunterschluckte, derart erschrak, dass er sein Weinglas fallenliess. Sir George hatte das Ereignis mit den süffisanten Worten eingeleitet: „Die verdammte Presse behauptet, ich würde die Babys der Arbeiter zum Frühstück verspeisen. Wollen doch mal sehen, ob ich den Kiefer so weit aufbekomme!“

Lady Beatrice bediente im Laufe der Feierlichkeiten jeden der vier Gäste, da bei allen der Teilungsgedanke, die Damen betreffend, tief verwurzelt war. Lord Rawdon liess sich immerhin zur Fellatio hinreissen, als seine Gäste darauf bestanden, dass auch er sich den verfügbaren fleischlichen Freuden hingab, lehnte es aber ab, sich mit jemandem zurückzuziehen, als der lange Abend sich dem Ende neigte. Statt dessen fand sich Lady Beatrice als Beute Prinz Nakhimovs wieder; Ali Pascha nahm Dora mit in sein Bett. Jane wurde forsch und eher geschäftsmässig von Sir George Spiggott mitgenommen, und Maude zog sich am Arm Graf de Mortains zurück.

In der Einsamkeit seines Schlafgemachs entledigte sich Prinz Nakhimov seiner Kleidungsstücke und erwies sich, was Haarigkeit und Tierhaftigkeit anging, als echter russischer Bär. Die erfordliche Athletik allein war einigermassen anstrengend für Lady Beatrice, und so war sie mehr als nur ein wenig verärgert, als der Prinz nach etwa zwei Stunden Hochleistungssport seine Bettdecke über sich zog, sich von ihr wegdrehte und sagte: „Danke. Sie können gehen.“

„Soll ich denn nicht hier schlafen?“

„Shto?“ Der Prinz schaute verblüfft über die Schulter zu ihr. „Hier? Sie? Ich schlafe nie neben – entschuldigen Sie meine Direktheit – Huren.“ Er drehte sich zurück zu seinem Kissen; die sehr verstimmte Lady Beatrice sammelte die klebrigen Reste ihres Kostüms ein und hielt sie vor sich, als sie das Gemach verliess.

Nun blieb ihr die Wahl, in ihrem – sehr nackten – Zustand nach unten zu gehen und ihren Schrankkoffer zu suchen, einen Morgenmantel anzulegen und sich bis zum Morgengrauen auf einer der Chaiselongues auszuruhen oder eine der übrigen Schlafzimmertüren zu öffnen, um zu schauen, ob eines der anderen Pärchen Platz für eine dritte Person hatte. Da sie sich nach Schlaf sehnte, entschied sich Lady Beatrice für ersteres.

Sie ging die Stiege hinunter und die Galerie entlang zur grossen Treppe. Ungetrübtes Mondlicht fiel durch die Fenster herein und liess die Farben einiger der Portraits an den Wänden an den entsprechenden Stellen erstrahlen. Lady Beatrice verhielt ihren Schritt, um sie zu mustern. Man erkannte direkt, dass Lord Basmond ein echter Rawdon war – hier reihte sich Gesicht an Gesicht mit denselben strahlenden Augen und den anmutigen Gesichtszügen, ganz zu schweigen von der Aura der Arroganz, die alle Portraitierten umgab. Besonders fiel Lady Beatrice ein Gemälde auf, das das Mondlicht direkt beschien. Es zeigte ein Kind, vermutete sie, eine winzige Schönheit in einem elisabethanischen Kleid. Der breite Spitzenkragen umrahmte das herzförmige Antlitz. Ein silbernes Netz bändigte ihr Haar, das so hell war, dass es fast weiss wirkte. Der Kontrast der dunklen Augen zu der zarten Blässe war überwältigend. „Hellspeth Rawdon, Lady Basmond“, stand auf der Messingplatte unten auf dem Rahmen.

Lady Beatrice wurde sich der Kälte bewusst und ging weiter. Sie hatte gerade die letzten Portraits passiert, als ihr eine offene Tür auffiel, durch die man die Ecke eines Bettes erahnen konnte. In der Hoffnung auf einen wärmeren Ruheplatz für den Rest der Nacht öffnete Lady Beatrice die Tür ganz und linste hinein.

Eine einzelne, bereits weit heruntergebrannte Kerze neben der Bettstatt erhellte den Raum notdürftig. Lord Basmond lag – vollständig angekleidet – quer über dem Bett. Seine Augen waren offen und glänzten im Kerzenschein. Lady Beatrice begriff sofort, dass er tot war. Gleichwohl schritt sie über die Schwelle, um ihn sich genauer anzusehen.

Sein Mund stand in einem stummen Protestschrei weit offen. Man konnte keine Wunden erkennen, aber der unnatürliche Winkel, in dem sich sein Genick befand, zeigte eindeutig, was Lord Basmonds Ableben verursacht hatte. Er konnte nicht länger als zwei Stunden tot sein, aber es schien, als wäre er in dieser kurzen Zeit bereits innerhalb seiner Kleidung zusammengeschrumpft. Er wirkte fragil und mitleid-erregend. Lady Beatrice dachte an die Ahnengalerie, an die lange Reihe der Jahrhunderte, die zu diesem letzten, traurigen, zerbrochenen Geschöpf geführt hatte.

Lady Beatrice warf einen Blick durch den Raum und suchte nach offensichtlichen Hinweisen, fand aber keine. Dann trat sie zurück in den Gang und stand einen Augenblick in Gedanken da, während sie überlegte, was sie als nächstes tun sollte.