Kapitel 4
In welchem sie sich einrichtet und nützliche Dinge lernt.
Lady Beatrice stellte fest, dass Mrs. Corvey die reine Wahrheit gesprochen hatte. Das Haus am Birdcage Walk war in der Tat ein Schmuckstück, geräumig und grenzte an den St. James’s Park. Ihr persönlicher Raum war voll der besten Luft und des besten Lichts, die man in London bekommen konnte. Des Weiteren bot er reichlich Regalplatz für ihre Bücher, einen grosszügigen Kleiderschrank sowie ein sauberes, bequemes Bett.
Auch ihre Mitbewohnerinnen empfand sie als höchst angenehm.
Mrs. Otley war für den Birdcage Walk eine recht gebildete junge Dame, die in Lyme Regis Fossilien gesammelt und eine gerahmte Gravur einer Szene in Pompeji in ihrem Zimmer hängen hatte. Im Nell Gwynne’s trug sie üblicherweise eine Jockey-Montur und unterhielt eine Vitrine mit Pferdebedarf, mit dem sie die Geschmäcker der Herren befriedigte, denen es gefiel, mit einer Reitgerte geschlagen zu werden, während man sie zwang, Trense und Zügel zu tragen.
Miss Rendlesham war zwar still, bebrillt und eine begeisterte Gärtnerin, arbeitete aber ebenfalls im Disziplin-Geschäft, sowohl im allgemeinen wie (so es erforderlich wurde) im speziellen. In der Regel entsprach ihre Kleidung der einer Schuldirektorin, und sie war Expertin für jenen harschen, inquisitorischen Tonfall, der ein Parlamentsmitglied sehr schnell zum kleinen Schuljungen machte, der sehr, sehr ungezogen gewesen war.
Im Gegensatz dazu war Herbertina Lovelock ein guter Junge. Sie sah aus wie ein engelhafter Bursche aus einem elitären Internat, in dem man unkonventionellen Lastern frönte. Ihre Kleidung war stets die eines Herrn; ihr Haar war kurz und mit Pomade glattgestrichen. Sie rauchte Zigarren, las mit hochgelegten Füssen die Sportzeitung und ging ab und an zum Pferderennen. Im Nell Gwynne’s besass sie einen Wandschrank voller Militäruniformen der Armee und der Marine, deren Hosen äusserst eng geschnitten waren und gepolsterte Knie hatten.
Die Misses Devere waren drei Schwestern, Jane, Dora und Maude, blond, brünett und rothaarig. Ihre Arbeit im Nell Gwynne’s bestand aus unspezifizierter Hurerei, wenn gewünscht auch als Gruppe.
Sie waren die einzigen, die Lady Beatrice etwas über ihre Vergangenheit erzählten: Anscheinend war ihr Papa ein Gentleman gewesen, hatte sich aber in der üblichen Weise durch Suff, Glücksspiel und Aktienspekulationen ruiniert. Je nachdem, ob Jane, Dora oder Maude die Geschichte erzählte, hatte Papa sich entweder das Hirn weggeblasen, sich mit einer Liebhaberin auf den Kontinent abgesetzt oder war ein Opiumraucher in einem Loch in Limehouse und unbeschreiblich degeneriert. Jane spielte Klavier, Dora Ziehharmonika und Maude sang. In anderen Dingen waren sie ähnlich versiert.
Alle Damen, die im Haus am Birdcage Walk lebten, erwiesen sich bei näherem Kennenlernen als freundlich. Lady Beatrice sass gerne nach dem sonntäglichen Abendessen im Gemeinschaftssalon (sonntags hatte Nell Gwynne’s geschlossen) und widmete sich der Stickerei, während Herbertina vorlas oder die Misses Devere ein Potpourri bekannter Lieder zum besten gaben und Miss Rendlesham Gartenblumen in einer Vase arrangierte. Man befand, Lady Beatrice solle ihr scharlachrotes Kostüm auf keinen Fall ändern, da es bei den Kunden geradezu elektrische Spannung erzeugte. Allerdings besuchten Mrs. Corvey und Herbertina mit ihr den Schneider und liessen einige Ensembles in sozialverträglicheren Farben für den Alltag erstellen. Mrs. Otley schenkte ihr eine Statuette der Göttin Athene aus ihrer Antiquitätensammlung, denn, so sagte sie: „Du gleichst ihr so sehr, meine Liebe, mit diesen aussergewöhnlichen Augen!“
Alles in allem empfand Lady Beatrice ihre neue Situation als äusserst angenehm.
***
„Aber Herr Major, Sie werden mir doch nicht den Rohrstock geben, oder?“, quietschte Herbertina. „Nicht für ein derart geringes Vergehen?“
„Ich werde mehr tun, als Ihnen den Rohrstock geben, Sie junger Teufel!“ Der Major, beziehungsweise das Parlamentsmitglied in der Majorsuniform grinste anzüglich. Er packte Herbertina am Arm und zerrte sie unter Protest zu einer gepolsterten Sitzbank. „Hosen runter und vorbeugen!“
„Oh, Herr Major! Muss ich?”
„Das ist ein Befehl! Bei Gott, Sir, ich werde Sie lehren, was Gehorsam bedeutet!“
„Blicken Sie durch diesen Sucher und justieren Sie die Linse, bis das Bild scharf ist“, flüsterte Mrs. Corvey im dunklen angrenzenden Raum. Lady Beatrice spähte in die Kamera und erblickte den etwas verschwommenen Major, der fröhlich seine eigene Reithose fallen liess.
„Wie justiert man ihn?“, erkundigte sich Lady Beatrice.
„Dieser Ring lässt sich drehen“, erklärte Mrs. Corvey und zeigte darauf. Lady Beatrice drehte ihn, und der Major stellte sich scharf, ganz deutlich in flagranti delicto. Herbertina sah eher gelangweilt aus, während sie in jungenhaftem Schrecken aufschrie.
„Jetzt drücken Sie auf den Auslöser“, sagte Mrs. Corvey. Lady Beatrice tat es. Die Gaslampen im Nachbarzimmer flackerten für einen Augenblick, doch der Major war viel zu abgelenkt, um die plötzliche Helligkeit wahrzunehmen oder das leise Klicken zu hören.
„Haben wir eine Daguerreotypie gemacht?“, fragte Lady Beatrice beeindruckt, denn sie hatte erst kurz zuvor in einer wissenschaftlichen Zeitschrift, die Miss Rendlesham abonniert hatte, einen Artikel über dieses Verfahren gelesen.
„Aber nein, meine Liebe; dieses Verfahren hier ist fortschrittlicher. Die Spekulative Gesellschaft stellt es uns zur Verfügung.“ Mrs. Corvey liess die Platte herausgleiten und legte eine neue ein. „Dabei entsteht ein Bild, das sich auf Papier drucken lässt. Dies hier ist lediglich für unsere Akten. Wir müssen warten, bis er etwas ruhiger wird, um ein Bild zu machen, das wir einsetzen können. Herbertina wird Ihnen das Signal geben.“
Lady Beatrice beobachtete, wie der Major zu seinem Höhepunkt ritt und schliesslich über Herbertina zusammenbrach. Sie endeten spärlich bekeidet an die Sitzbank gelehnt.
„Nun“, sagte der Major etwas ausser Atem, „sagen Sie mir, wie gross ich war und wie machtlos Sie sich gefühlt haben.“
„Oh, Herr Major, wie können Sie einem jungen Mann so etwas antun? Ich habe mich noch nie so hilflos gefühlt“, sagte Herbertina mit tränenerstickter Stimme, während sie hinter ihrem Rücken ein Handzeichen gab. Lady Beatrice sah es und drückte erneut auf den Auslöser. Abermals flackerten die Lampen auf. Der Major kniff irritiert die Augen zusammen, dachte aber nicht weiter darüber nach, da Herbertina seine Aufmerksamkeit über die nächsten fünf Minuten dadurch fesselte, dass sie ihm detailliert vorlog, wieviel Angst sie gehabt hätte, wie unterworfen der junge Soldat sich fühlte und wie gigantisch das Gemächt das Majors gewesen war.
Leider hörten weder Mrs. Corvey noch Lady Beatrice ihre inspirierten Improvisationen, denn beide hatten sich in einen kleinen, von roten De-la-Rue-Glühlampen erhellten Raum zurückgezogen, der einem chemischen Labor glich. Sie banden sich Stoffmasken vor Mund und Nase und entwickelten die Platten.
„Die sind sehr gut“, lobte Mrs. Corvey. „Bei meiner Seele, meine Liebe – Sie haben ein Talent für die Photographie.“
„Sollen sie für Erpressungen verwendet werden?“
„Bitte? Aber nein; das heisst, nur, wenn es nötig werden sollte. Falls es dazu kommt, kann man dieses hier“ – sie hielt das zweite Bild hoch, auf dem der Major über der Sitzbank lag – „auf eine Daguerreotypie kopieren und mit einer Bitte um Kooperation überbringen. Jetzt wandern die Bilder erst mal in seine Akte. Jeder unserer Kunden hat eine Akte, müssen Sie wissen. Wenn das Geschäft brummt, sind Aufzeichnungen über die Vorlieben und Abneigungen unserer Kunden höchst praktisch.“
„Das denke ich mir. Wann wird eine Erpressung denn nötig, wenn ich fragen darf?“
„Wenn die Geschellschaft sie benötigt. Das kommt nicht sehr häufig vor. Sie kann auch selbst sehr überzeugend sein und muss nur in seltenen Fällen solch extreme Massnahmen ergreifen. Aber man weiss nie.“ Mrs. Corvey hängte die Photoabzüge zum Trocknen auf und betätigte den Hebel, der die roten Lampen verlöschen liess. Sie verliessen den Raum und schlossen die Tür hinter sich. Die beiden Frauen betraten den verborgenen Korridor zwischen den abgeschotteten Räumen, aus denen im Wechsel Laute der Leidenschaft, flehende Schreie und gelegentlich das rhythmische Zischen und Knallen eines Rohrstocks über inbrünstigen Bekenntnissen von Ungezogenheiten zu hören waren.
„Sind alle Kunden Männer von Stand?“, wollte Lady Beatrice wissen und musste ihre Stimme etwas erheben, um sich Gehör zu verschaffen, weil in einem der angrenzenden Räumen ein tiefer Bariton bekannte: „Ja! Ja! Ich habe die Kuchen gestohlen!“
„In der Regel ja, aber dann und wann bedienen wir auch Männer der Spekulativen Gesellschaft. Diese Genossen regeln die Geschicke der Gesellschaft draussen, die Laufarbeit sozusagen. Sie haben dieselben Bedürfnisse wie alle Männer, und die meisten arbeiten deutlich härter. Daher sind wir gern zu Diensten. Natürlich ist das etwas ganz anderes als unsere Dienste für Staatsmänner und Konsorten.
Tatsächlich gibt es einen eher charmanten Brauch – zumindest ich empfinde ihn so –, nämlich die neuen Mitarbeiter zu verwöhnen, ehe sie erstmals im Dienste der Gesellschaft aufbrechen. So haben sie etwas Schönes für den Weg, die armen Kerle, denn dann und wann fallen sie in Erfüllung ihrer Pflicht. Traurig.“
„Ist ihre Arbeit denn gefährlich?“
„Sie kann es sein.“ Mrs. Corvey machte eine vage Geste. Sie betraten den abgeschiedenen Raum, der ihr als Büro diente, durch ein bewegliches Wandpaneel und schlossen es gerade, als Violet, das Mädchen für alles, von der Rezeption hereintrat.
„Mrs. Corvey, wenn es geht – Mr. Felmouth kam vor einer Minute mit dem Aufsteigenden Raum an, um seine Aufwartung zu machen. Er hat seinen Koffer dabei.“
„Dann wird er seinen Tee wollen. Wie reizend! Ich hatte gehofft, man würde uns ein paar neue Spielzeuge bewilligen.“ Mrs. Corvey hob ein Gerät von ihrem Schreibtisch, eine Art Sprachrohr aus Messing und schwarzem Wachs, und sprach nach einem kurzen Augenblick hinein: „Tee, bitte, und einen Teller mit Leckereien. In den Empfangsraum. Danke.“
Sie legte das Gerät weg. Lady Beatrice betrachtete es in stiller Bewunderung. „Eine weitere Erfindung der Spekulativen Gesellschaft?“
„Sie hat es nur gebaut; die Erfindung stammt von einer unserer Damen. Miss Gleason. Sie hat sich von dem Bonus in einem hübschen Landhäuschen in Schottland zur Ruhe gesetzt, was mich sehr freut. Jedes Jahr zu Weihnachten schickt sie uns ein Dutzend Moorhühner. Nun folgen Sie mir, meine Liebe, und ich stelle Sie Mr. Felmouth vor. So ein diensteifriger Mann!“