Kapitel 2
In welchem unsere Heldin Augenzeugin der Geschichte wird. Wir werden sie Lady Beatrice nennen, da sie sich diesen Namen später selbst wählte.
Lady Beatrices Vater war ein scharfsinniger, rationaler Militär. Ihre Mama war ein wohlerzogenes Fleissiges Lieschen von einer Frau, unterwürfig, reinlich, gehegt und gepflegt. Es schmerzte sie ein wenig, festzustellen, dass die Tochter, die sie geboren hatte, deutlich energischer und direkter war, als es einem kleinen Mädchen zustand.
Traf Lady Beatrice im Garten auf eine ekelhafte grosse Spinne, so schrie sie weder auf, noch rannte sie davon. Sie trat sie einfach tot. Stahl ein rüpelhafter Vetter Lady Beatrices Puppe, so weinte sie weder noch bettelte sie darum. Statt dessen holte sie sich das Spielzeug einfach zurück, ungeachtet ausgerissener Haare oder zerrissener Spitze. Stürzte Lady Beatrice, so blieb sie nicht weinend am Boden liegen, bis ein Erwachsener kam, um sie zu trösten. Sie riss sich zusammen, setzte sich auf und untersuchte ihre Knie auf Abschürfungen. Nur wenn der Schaden schmerzhafte, blutige Schrammen umfasste, kamen ihr die Tränen, aber selbst dann hinkte sie zu ihrer Amme, um sich ausschimpfen und mit einem Pflaster versorgen zu lassen.
Lady Beatrices Mutter war ausser sich und sagte, ein solches Benehmen sei einer kleinen Dame nicht würdig. Ihr Papa sagte, er sei verdammt froh, ein Kind zu haben, das nur weinte, wenn es wirklich verletzt war.
„Mein Mädchen ist hart wie Stahl, nicht wahr?“, sagte er liebevoll. Was Lady Beatrices Mama dazu brachte, die Lippen zu schürzen und die Augen zusammenzukneifen.
Allerdings hatte Lady Beatrices Mama zu jener Zeit eine andere Hauptbeschäftigung, denn als sie eines Tages am Kohlbeet vorbeigekommen war, hatte sie ein Zwillingspaar Säuglinge gefunden, die ihr selbst und einander so ähnlich sahen, dass es kaum zu glauben war. Lady Beatrice konnte sich nicht an ein Kohlbeet im Garten erinnern. Sie ging hinaus und suchte es, fand aber nicht einmal eine Kohlsprosse, was sie auch beim Abendessen laut und vernehmlich erzählte. Das Gesicht ihrer Mama verfärbte sich scharlachrot. Lady Beatrices Papa brüllte vor Lachen.
Danach war Lady Beatrice eine höchst angenehme Kindheit vergönnt, zumindest ihrer eigenen Meinung nach, denn die kleine Charlotte und die kleine Louise nahmen ihre Mama ordentlich in Anspruch. Unsere Heldin bekam ein Pony und erlernte vom Stallburschen aus dem Pandschab das Reiten. Sie bekam Pfeil und Bogen und erlernte den Umgang damit. Ebenso lernte sie lesen und verschlang alle Bücher, die ihr gefielen. Die Frage nach ihrer Regimentsuniform liess ihre Mama einen Ohnmachtsanfall vortäuschen, nachdem sie sie als unartig bezeichnet hatte, aber ihr Papa schenkte ihr zu ihrem nächsten Geburtstag eine kleine rote Jacke.
Die Geburtstage kamen und gingen. Als Lady Beatrice gerade siebzehn geworden war, wurde ihre Grossmama krank, und ihre Mama nahm die Zwillinge und fuhr zurück nach England, um sie zu besuchen. Da sich zu diesem Zeitpunkt mehrere stattliche, junge Offiziere um ihre Gunst bemühten, hatte Lady Beatrice kein Interesse, sie zu begleiten, und ihre Mama war recht zufrieden damit, sie bei ihrem Papa in Indien zurückzulassen.
Man hatte erwartet, Grossmamas Tod würde kurzfristig eintreten, aber er zog sich eine Weile hin, und Lady Beatrices Mama fand immer wieder den einen oder anderen Grund, ihre Rückkehr zu verschieben. Lady Beatrice hingegen genoss es, Papas Haushalt allein vorzustehen, insbesondere den Dinnerpartys, bei denen sie mit all den gutaussehenden jungen Offizieren schäkerte – und auch mit dem einen oder anderen älteren. Einer davon schrieb Gedichte, um ihre grauen Augen zu preisen. Zwei andere duellierten sich um sie.
Dann beorderte man ihres Papas Regiment nach Kabul.
Lady Beatrice verbrachte Monate allein mit den Bediensteten und entdeckte Grade der Langeweile, die sie nie für möglich gehalten hatte. Eines Tages kam die Botschaft, die Angehörigen der verheirateten Offiziere dürften diesen nach Kabul nachfolgen, um die Moral der Truppe zu stärken. Sie hatte zwar nichts von ihrem Papa gehört, schloss sich aber den übrigen Familien an. Zwei erbärmliche Reisemonate durch allen roten Staub der Welt später traf Lady Beatrice in Kabul ein.
Ihr Papa war alles andere als erfreut, sie zu sehen. Er war entsetzt. Er setzte sich mit ihr zusammen und erklärte ihr in knappen Worten, wie gefährlich ihre Situation und wie unwahrscheinlich es war, dass die Afghanen einen durch die Briten gestützten Herrscher akzeptieren würden. Jeden Augenblick könne es zur offenen Revolution kommen, und der Befehl, die Frauen und Kinder kommen zu lassen, sei eine wahnsinnige Narretei gewesen.
Lady Beatrice entgegnete ihrem Papa stolz, sie habe keine Angst, in Kabul zu bleiben, schliesslich seien hier ja auch all ihre stattlichen Verehrer. Papa lachte bitter und erwiderte, er glaube, jetzt sei es ohnehin nicht sicher genug, sie allein nach Hause zu schicken.
Also blieb Lady Beatrice in Kabul und richtete ihres Papas Dinnerpartys für zunehmend gedrückte und uninteressierte junge Verehrer aus. Sie blieb bis zum Ende, als Elphinstone den Rückzug der britischen Garnison aushandelte, und war unter den verdammten Sechzehntausend, die von Kabul aus in Richtung des Chaiber-Passes aufbrachen.
Lady Beatrice wurde Zeugin, wie einer nach dem anderen starb. Sie starben an der Kälte des Januars, sie starben an den Kugeln der Ghilzai-Scharfschützen oder bei deren beritten Angriffen in kleinen Gruppen, wenn sie sich Geplänkel mit der zunehmend verzweifelten Armee lieferten. Ihr Papa starb während eines solchen Scharmützels am Khoord-Kabul-Pass, und ein Stammeskrieger der Ghilzai verschleppte die schreiende Lady Beatrice.
Man schlug und vergewaltigte Lady Beatrice. Man band sie zwischen den Pferden an. In der Nacht nagte sie das Seil durch und kroch in den Unterschlupf, in dem ihre Peiniger schliefen. Sie ergriff ein Messer und schnitt ihnen die Kehlen durch – dem letzten tat sie Schlimmeres an, weil er erwachte und versuchte, ihr das Handgelenk zu brechen. Sie warf die Kleider ihrer Opfer über und stahl ein Paar Stiefel und Proviant. Sie nahm auch die Pferde – eines für sich zum Reiten, die anderen führte sie mit. So brach sie auf, um die Leiche ihres Vaters zu suchen.
Er war steifgefroren, als sie ihn fand, so dass sie den Plan aufgeben musste, ihn im Sattel festzubinden und nach Hause zu bringen. Statt dessen begrub sie ihn unter einem Hügel aus Steinen und ritzte seinen Namen und sein Regiment mit dem Messer, mit dem sie ihre Vergewaltiger getötet hatte, in den obersten Felsbrocken. Dann ritt Lady Beatrice weinend von dannen, aber sie schämte sich ihrer Tränen nicht, denn der Schmerz sass tief.
Den ganzen Chaiber-Pass entlang zählte sie die britischen und indischen Toten. Bei drei unterschiedlichen Gelegenheiten ritt sie über die Leiche eines, dann eines weiteren und schliesslich noch eines ihrer stattlichen jungen Verehrer. Als sie in Dschellalabad einritt, glich Lady Beatrice einem grauäugigen Gespenst. Alle Tränen in ihr waren ausgeweint.
Dort wusste niemand so richtig, was man mit ihr tun sollte. Niemand wollte über das sprechen, was geschehen war, denn der gute Name ihres Vaters stand auf dem Spiel, wie einer der Offiziere, der ihre Familie kannte, ihr erklärte. Lady Beatrice blieb während der gesamten anschliessenden Belagerung Dschellalabads bei der Garnison, kochte für die Soldaten und wusch ihre Kleider. Im April, als die Belagerung gerade richtig begonnen hatte, erlitt sie eine Fehlgeburt.
***
Die Freunde ihres Vaters liessen Lady Beatrice schliesslich nach Indien zurückeskortieren. Dort verkaufte sie die Möbel, entliess die Bediensteten, schloss das Haus ab und buchte eine Überfahrt nach England.
***
Nach ihrer Ankunft brauchte Lady Beatrice mehrere Wochen, um ihre Mama und die Zwillinge zu finden. Ihre Grossmama war verstorben, und auf die Nachricht von dem Massaker in Afghanistan hin hatte ihre Mama sich in Trauerkleidung gehüllt und ihren älteren Bruder, einen erfolgreichen Händler, um Beistand angefleht. Die Zwillinge und sie lebten nun als Schutzbefohlene in seinem Haushalt.
Lady Beatrice erreichte ihre Türschwelle, und man begrüsste sie mit Schreckensschreien. Offensichtlich waren ihre Briefe in der Post verlorengegangen. Ihre Mutter fiel in Ohnmacht. Onkel Frederiks Frau kam dazu und fiel ebenfalls in Ohnmacht. Charlotte und Louise rannten herbei, um zu sehen, was geschehen war. Sie fielen zwar nicht in Ohnmacht, stiessen aber spitze Schreie aus. Onkel Frederik folgte ihnen und starrte den Heimkömmling an, dass ihm die Augen schier aus dem Schädel quollen.
Nachdem man ihre Mama und Tante Harriet ins Leben zurückgeholt hatte, sassen sie engumschlungen und weinend auf einer Récamière, während Lady Beatrice berichtete, was ihr zugestossen war.
Es folgte eine lange, schmerzliche Debatte. Sie dauerte den Tee und das Abendessen hindurch an. Es erwies sich, dass man Lady Beatrices unerwartete Rückkehr unter die Lebenden als ausgesprochen lästig empfand, auch wenn man sie durchaus tiefempfunden und ernsthaft betrauert hatte, als Mama annehmen musste, sie sei gestorben. Hatte sie denn keinen Gedanken daran verschwendet, was für eine Schande sie über das Haus brachte, wenn sie zurückkehrte, nach allem, was ihr geschehen war? Was sollten Tante Harriets Nachbarn denken?
Ihr Onkel Frederik sagte ihr praktisch ins Gesicht, sie habe in jenen Monaten in Dschellalabad ihren Körper an die Soldaten des dreizehnten Regiments verkauft – und falls nicht, so hätte sie es genausogut tun können, denn jeder hier würde es glauben.
An diesem Punkt fiel ihre Mama erneut in Ohnmacht. Während der allgemeinen Bemühungen, sie wieder zu sich zu bringen, attackierten Charlotte und Louise ihre Schwester aufs heftigste und beschimpften sie ob ihrer Selbstsucht. Hatte sie denn keinen Gedanken daran verschwendet, welche Auswirkungen ihre skandalösen Erlebnisse auf ihrer beider Aussichten auf eine gute Partie haben würden? An diesem Punkt setzte ihre Mama sich wieder auf und flehte Lady Beatrice unter Tränen an, ins Kloster zu gehen. Diese antwortete, sie glaube nicht mehr an Gott.
Daraufhin erhob sich ihr Onkel Frederik vom Abendessenstisch, das Gesicht vor Wut dunkel verfärbt, während die Bediensteten gerade den Fischgang auftrugen. Er teilte Lady Beatrice mit, sie dürfe diese eine Nacht um ihrer armen Mama willen unter seinem Dach schlafen, aber am nächsten Morgen werde er sie persönlich ins nächste Kloster bringen.
Woraufhin ihre Tante Harriet wiederum in den Raum warf, das nächste Koster befinde sich in Frankreich, so dass er den ganzen Tag fahren und obendrein noch eine Schiffspassage werde buchen müssen, was alles andere als achtbar sei. Ihr Onkel Frederik brüllte, das sei ihm gottverdammt egal. Ihre Mama wurde erneut ohnmächtig.
Lady Beatrice entschuldigte und erhob sich. Sie ging nach oben, fand das Zimmer ihrer Mutter, plünderte deren Schmuckkästchen und verliess das Haus durch die Hintertür.
Sie erwischte im Dorf die Nachtkutsche nach London, wo sie eine Halskette ihrer Mutter versetzte und sich für ein Quartal in einem kleinen Raum in der Marylebone Road einmietete. Danach suchte sie eine Schneiderin auf und liess sich aus der strahlendsten scharlachroten Seide, die sie in deren Stoffvorräten finden konnte, ein Ensemble abstecken. Später suchte sie einen Hutmacher auf und gab die passende Kopfbedeckung in Auftrag.
Am nächsten Tag suchte sie in den Geschäften nach Schuhen und fand ein Paar von der Stange in ihrer Grösse, die wirkten, als kämen sie mit weiten Strecken zurecht. Des weiteren erstand Lady Beatrice eine Auswahl an Kosmetika.
Sie holte ihr scharlachrotes Gewand ab, als es fertig war. In ihrem Zimmerchen legte sie es an und stellte sich vor das gesprungene Spiegelglas über ihrem Waschtisch. Hoch erhobenen Hauptes umrandete sie ihre grauen Augen mit dem schwärzesten Kohlstift.
Was blieb ihr noch, ausser zu sterben?