Kapitel 15
In welchem unsere Heldin sich anstrengen muss.
Mrs. Corvey entdeckte, als sie die Kiste auf dem Tunnelboden untersuchte, einen Schalter. Mit ihrem Gehstock drückte sie ihn vorsichtig in die andere Position. Ein Summen endete, das so leise gewesen war, dass man es zuvor nur unbewusst hatte wahrnehmen können.
„Ich denke, wir können jetzt ungehindert passieren, Mr. Ludbridge.“
„Freut mich zu hören“, antwortete dieser und versuchte schnaufend, auf die Füsse zu kommen. „Oh ... au ... oh, Hölle und Verdammnis, ich bin praktisch ein Krüppel.“
„Sie können sich auf mich stützen“, sagte Mrs. Corvey, nahm seinen Arm und legte ihn sich über die Schultern. „Machen Sie sich keine Sorgen, mein Lieber, ich bin eindeutig stärker, als ich aussehe.“
„Dabei habe ich keine Ahnung, wie Sie aussehen“, entgegnete Ludbridge. „Ha! Die Blinde führt den Blinden – was in unserem Fall uneingeschränkt sinnvoll ist. Führen Sie mich, werte Dame.“
Sie arbeiteten sich in den Haupttunnel vor und eilten Richtung Laboratorium. Ludbridge gelang es ziemlich gut, durch das Loch in der Fensterwand zu kriechen, er musste sich jedoch danach erst einmal setzen und zu Atem kommen.
„Es scheint mir, als sei es ein halbes Leben her, dass ich dort hineingekrochen bin“, sagte er keuchend. „Bei Gott, die Nachtluft riecht süss! Seltsam, dass die ganze Zeit niemand die fehlende Scheibe bemerkt hat.“
„Tatsächlich hat jemand sie bemerkt“, informierte ihn Mrs. Corvey. „Als ich heute abend hier ankam, hatte man sie ersetzt.“
„Wirklich? Nun, das verleiht meinen müden Gliedern neue Kräfte“, antwortete Ludbridge und kam mit einem Ruck auf die Beine. „Lassen Sie uns zusehen, dass wir hier wegkommen.“
Mrs. Corvey führte ihn durch die Hecke und den Burggraben. Sie sorgte sich einen Augenblick, ob Ludbridge als der stattliche Mann, der er war, wohl durch das Fallgatter hindurchkommen würde, wurde aber dadurch beruhigt, dass dieses sich just in dem Moment scheppernd hob, als sie am Durchgang angekommen waren. Eine Droschke raste mit hoher Geschwindigkeit hindurch, aber das Gitter blieb oben. Mrs. Corvey sah dem Gefährt neugierig nach und war ziemlich sicher, Ralph an den Zügeln erkannt zu haben. Sie fragte sich, was sich wohl zugetragen haben mochte, das ihn in solche Eile versetzt hatte.
„Wir beeilen uns besser, Mr. Ludbridge“, sagte sie.
„So schnell ich kann, Ma’am“, entgegnete er und kroch ihr auf Händen und Knien nach. Als sie den Hof erreichten, war Mrs. Corvey beunruhigt, die grosse Halle hell erleuchtet vorzufinden. Sie zog Ludbridge hinter sich her, so gut sie konnte, und war sehr erleichtert, als sie zusammen durch die Tür in ihre Kammer stolperten.
***
„Seit vierzig Jahren arbeite ich hier“, sagte Mrs. Duncan etwas unverständlich, während sie an ihrem dritten Glas Gin trank. Die Spülmägde und Hausangestellten sassen in ihren Nachtgewändern und verschiedenen Graden des heulenden Elends um sie versammelt wie Küken um eine Henne.
„Bedenken Sie doch – jetzt können Sie reisen, wohin Sie wollen“, versuchte Jane zu helfen. Mrs. Duncan warf ihr einen mürrischen Blick zu, und zwei der Dienerinnen begannen erneut zu weinen.
„Da fällt mir ein“, sagte Lady Beatrice, „ich habe etwas in Prinz Nakhimovs Kammer vergessen. Ich wäre ungern so indiskret, die Freitreppe zu verwenden, wo doch der Schutzmann jeden Moment eintreffen kann – gibt es eine Hintertreppe, Mrs. Duncan?“
Die Köchin wies auf einen Durchlass hinter der Speisekammer. „Aber machen Sie schnell.“
„Ich bemühe mich“, beteuerte Lady Beatrice. Mit einem bedeutungsvollen Blick zu den Devere-Schwestern hastete sie die Hintertreppe hinauf.
„Der gute Ruf des Hauses steht auf dem Spiel, und überhaupt ...“, murmelte Mrs. Duncan und schenkte sich ein weiteres Glas Gin ein.
***
Lady Beatrice rannte, so schnell sie konnte, und erreichte schliesslich die Galerie. Sie verhielt einen Augenblick, um zu Atem zu kommen, und lauschte. Sie hörte, wie Prinz Nakhimov eine längere Anekdote zum besten gab, der Sir George, Pilkins, Ali Pascha und mehrere Diener lauschten. Sie schob sich an den Rand der grossen Treppe und erblickte sie unter einer Glocke von Zigarrenrauch, um die Leiche Lord Basmonds gruppiert.
Sie wandte sich ab, überquerte die Galerie und ging hoch zu den Gästezimmern. Sie öffnete die Tür des Grafen und trat ein. Noch immer erleuchtete die Kerze den Raum. In ihrem Licht durchsuchte Lady Beatrice das Zimmer kurz, aber gründlich nach der Schwebevorrichtung. Sie durchstöberte die gefalteten Kleidungsstücke im Schrankkoffer des Grafen. Darunter fand sie ein Buch und zog es hervor, um es zu untersuchen. Es war lediglich ein bekannter Roman, jedoch steckte darin eine Reihe von Papieren. Eines davon trug ein offizielles Siegel und schien von Fürst Metternich unterzeichnet zu sein. Lady Beatrices Französisch war alles andere als fliessend, aber es reichte aus, um den einen oder anderen Satz zu verstehen. „Sie werden mit allen möglichen Mitteln versuchen herauszufinden, ob Seine Lordschaft einverstanden wäre ... muss Sie nicht auf die Folgen eines Versagens hinweisen ...“
„Ich wusste nicht, dass Huren lesen.“
Lady Beatrice sah auf. Im Durchlass zum an Graf de Motrains Kammer anschliessenden Raum stand ein Mann. Sein Akzent war hart, mutete deutsch an. Es schien sich um den Diener des Grafen zu handeln. Er hatte ein Messer. Lady Beatrice bedachte ihre Möglichkeiten. Es waren nicht viele.
„Tun wir nicht“, antwortete sie. „Ich suche nach dem Grafen. Wussten Sie, dass es einen Unfall gegeben hat? Lord Basmond ist tot.“
Der Kammerdiener hatte sich mit drohendem Blick in ihre Richtung in Bewegung gesetzt, hielt aber ob dieser Neuigkeit verblüfft inne: „Tot?!“
Sie warf sich ihm entgegen und riss ihn nach hinten. Sie fielen auf das Bett. Der Kammerdiener stach mit dem Messer nach ihr. Lady Beatrice hatte das beklemmende Gefühl, neben sich zu stehen, als das geduldige Raubtier in ihrem Körper die Zähne bleckte und um sein Leben kämpfte. Das Handgemenge war bösartig, wie es zwischen wilden Tieren üblich ist. Lady Beatrice stellte zufrieden fest, dass ihre Muskeln nichts von der Kraft eingebüsst hatten, die sie auf dem Chaiber-Pass errungen hatten. Ganz besonders befriedigte sie die Tatsache, dass sie dem Kammerdiener das Messer entreissen und ihn mit einem harten Schlag mit dem Griff niederstrecken konnte. Er sank zurück, für kurze Zeit ohne Bewusstsein.
Bis hierhin hatte der Instinkt sie geleitet. Nun setzte Lady Beatrice sich auf, goss ein Glas Wasser aus der Karaffe auf dem Nachttisch ein und liess einen der Knöpfe ihrer Bluse hineinfallen. Der Knopf löste sich mit einem sanften Zischen auf. Sie hob den Kopf des Kammerdieners an, flüsterte ihm sanft ins Ohr und hielt das Glas an seine Lippen. Er trank, ohne nachzudenken, ehe er die Augen öffnete.
„Danke, Mutter ...“, murmelte er. Dann öffnete er die Augen, sah zu Lady Beatrice auf und zuckte zusammen. „Dreckige Nutte! Ich bringe dich um!“
„Nutte leider ja. Dreckig? Gewiss nicht.“ Lady Beatrice hielt ihn ohne grosse Anstrengungen unten, da die Arznei schnell ihre Wirkung entfaltete. „Ausserdem sicher nicht die Art von Nutte, die sich von einem Kerl wie dir umbringen lässt. Ja, du fühlst dich auf einmal ganz schön müde, nicht wahr? Du kannst dich kaum bewegen. Schliess die Augen und geh ins Land der Träume, mein Lieber. Das ist so viel leichter.“
Als er endlich reglos dalag und sie durch das Anheben eines seiner Augenlider zweifelsfrei festgestellt hatte, dass er ohnmächtig war, erhob sich Lady Beatrice und betrachtete ihn kalt. Sie hob seine Beine ins Bett, zog ihm die Schuhe aus und tätigte einige weitere Anpassungen an seiner Kleidung, so dass jeder, der ihn entdeckte, von einem äusserst unzüchtigen Szenario ausgehen musste. Dann hob Lady Beatrice die Papiere vom Boden auf, die sie hatte fallen lassen, und verstaute sie in ihrem Mieder.
Sie verliess dem Raum und schloss leise die Tür hinter sich.