Kapitel 9

In welchem das Objekt der Begierde auftaucht.

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Alle Bedenken waren vergessen, als Pilkins und Ralph eine halbe Stunde nach Beginn des Abendessens die Küche betraten. Sie trugen einen in Säcke gehüllten Gegenstand zwischen sich. Ralph verhielt ruckartig mitten im Schritt, als er der Damen in ihren Chitons gewahr wurde, und Pilkins fluchte, als der Gegenstand zu Boden krachte. Lady Beatrice erblickte kurz die Ecke eines länglichen, flachen Behälters, ähnlich einer Besteckschatulle, ehe Pilkins sie eilig wieder mit dem Sackleinen bedeckte.

„Du jämmerlicher Waschlappen! Pass doch auf, was du tust“, schalt Pilkins. „Ach, und Sie ... Sie ... Mädchen – raus hier. Sie auch, Köchin. Warten Sie in der Speisekammer, bis ich Bescheid gebe.“

„Na, Sie machen mir Spass! Das ist nicht Ihre Küche!“, begehrte Mrs. Duncan laut auf.

„Anweisung Seiner Lordschaft“, antwortete Pilkins. „Du kannst sie begleiten, Ralph.“

„Aber gern“, sagte Ralph und bewegte sich auffällig unauffällig in Maudes Richtung.

„Wenn Sie erlauben“, warf Mrs. Corvey ein, „mein Rheuma macht mir so spät am Abend arg zu schaffen, und Bewegungen sind sehr schmerzhaft. Darf ich hier am Feuer sitzenbleiben?“

Pilkins warf ihr einen Blick zu. „Bei Ihnen wird es wohl in Ordnung sein. Gut, Sie bleiben, aber der Rest geht in die Speisekammer. Aber zackig!“

Die Damen setzten sich anstandslos in Bewegung; Mrs. Duncan folgte mit deutlich weniger Enthusiasmus. Ralph ging zuletzt und schloss die Tür hinter ihnen.

„Hei-ho! ‚Hier steh ich wie der Türk’ mit seinen Weibern“, zitierte er kichernd. „Sie natürlich ausgenommen, Köchin“, fügte er hinzu, aber sie gab ihm dennoch eine Kopfnuss.

Währenddessen beobachtete Mrs. Corvey interessiert, wie Pilkins den Kasten auswickelte, der deutlich schwerer zu sein schien, als seine Grösse vermuten liess, denn er keuchte vor Anstrengung, als er ihn über den Boden zu der ächzenden Konstruktion schob, auf der sich der Nachtisch befand. Mrs. Corvey bemerkte dabei eine Reihe von Drehreglern und Schaltern an der ihr zugewandten Seite.

Pilkins schob das Ding unter das Gerüst und fingerte ungeschickt daran herum. Dann hörte Mrs. Corvey ein leises Brummen und sah, wie der Kasten sich jäh durch die Luft bewegte, als falle er nach oben. Er traf mit einem Poltern auf die Unterseite des Tragegestells und verhielt dort anscheinend, während Pilkins auf den Steinfliesen kauerte und brummend seine Handgelenke massierte.

Dann – zunächst kaum merklich, dann immer stärker – begann die Nachspeise zu zittern. Die Wackelpudding-Putten schüttelten die Köpfe, als könnten sie es nicht glauben. Unter Mrs. Corveys überraschten Blicken erhob sich das Dessert auf seinem Riesentablett von dem Stützgerüst und stieg ruckelnd immer höher in die Luft. Es befand sich etwa eine Handbreit unter der Decke, als Pilkins mit einem lauten Fluch auf die Füsse kam, hektisch nach den Reglern und Hebeln griff und die Einstellungen veränderte. Ein Ende der Trägermaschine kippte nach unten, dann das andere, und der ganze Aufbau balancierte sich neu aus wie ein frisch vom Stapel gelaufenes Schiff. Er glitt sanft abwärts und schwebte schliesslich ein paar Zentimeter über dem Gestell. Die herabhängenden Farne und Blüten verdeckten den flachen Behälter so gut, dass er praktisch unsichtbar war.

Pilkins sackte auf einem Schemel zusammen und zog einen Flachmann aus der Tasche.

„Alles in Ordnung bei Ihnen, Mr. Pilkins?“, erkundigte sich Mrs. Corvey.

„So weit, so gut“, antwortete er, nahm einen Schluck und steckte den Flachmann wieder ein.

„Ich war beunruhigt, weil ich Sie fluchen hörte.“

„Das hatte nichts mit Ihnen zu tun.“

„Ich nehme an, es ist bisweilen ein Kreuz, für Seine Lordschaft zu arbeiten“, sagte Mrs. Corvey im Tonfall grösstmöglicher Untertänigkeit. Pilkins warf ihr einen Seitenblick zu.

„Die Rawdons sind eine alte Familie. Wenn sie über die Jahre etwas eigenwillig geworden sind, so ist es nicht an mir, mit Fremden darüber zu schwatzen.“

„Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten ...“, begann Mrs. Corvey, doch der Knall, mit dem Mrs. Duncan die Tür der Speisekammer aufstiess, unterbrach sie.

„Ich lasse dich rauswerfen, Ralph, hörst du?!“, schrie sie. „Ich bleibe keine Minute mehr mit ihm da drin. Ein ehrloser Lüstling ist er!“

„Ich finde, er macht seine Sache sehr gut“, erklang Maudes Stimme aus den Tiefen der Speisekammer. Ralph tauchte feixend daraus auf, gefolgt von den Damen. Als er den schwebenden Nachtisch sah, wies er mit dem Finger darauf und rief: „ Ha! Das tut es also! Ich bin beinahe verrückt geworden beim Überlegen ...“

Mrs. Duncan bemerkte den neuen Zustand der Nachspeise, stiess einen kleinen Schrei aus und wich zurück. „Oh Gott! Er hat es wieder getan, nicht wahr? Dieser unnatürliche ...“

„Halten Sie den Mund!“, fuhr Pilkins sie an.

„Was auch immer Sie meinen“, warf Mrs. Corvey ein.

„Das Dessert scheint zu schweben“, erläuterte Lady Beatrice.

„Oh, so ein Unfug! Ich wette, das ist nur ein Zaubertrick“, antwortete Mrs. Corvey. Pilkins warf ihr einen überlegenen Blick zu.

„So muss es sein, bloss ein Bühnentrick, wo Seine Lordschaft doch die Menschen so gerne beeindruckt.“

„Das heisst, das Dessert schwebt gar nicht wirklich in der Luft?“ Jane stiess eine der Putten mit der Fingerspitze an, so dass sie wackelte. „Was immer Sie sagen; ich bin bloss froh, dass wir uns nicht umbringen werden, wenn wir es hineintragen.“

Da erklang ein Gong. Pilkins sprang auf. „Seine Lordschaft begehrt den nächsten Gang! Los! Zimbeln anlegen! Wo ist der gottverfluchte Schwan?“

Der Schwan wurde in seiner Form herbeigewuchtet und auf den Kuchen gestürzt. Man drehte eine Schraube, so dass Luft in das Vakuum der Form einströmen konnte. Sie löste sich, und der Schwan plumpste mit einem hörbaren Aufschlag an seinen Platz auf dem Kuchen. Die Putten bebten qualvoll.

„Gut. Jetzt ran an das verdammte Ding! Er will, dass ihr lächelt, wenn ihr reinkommt, und ... und ... nicht mit euren Reizen geizt!“, schrie Pilkins entfesselt.

„Wir werden uns bemühen, Sir“, sagte Lady Beatrice, während sie an eine der Tragestangen trat. Die Devere-Schwestern nahmen auch ihre Plätze ein. Sie stellten fest, dass das Dessert nun einfach zu tragen war und nicht mehr als ein- oder zweihundert Gramm zu wiegen schien. Lady Beatrice begann einen Grundrhythmus mit ihren Zimbeln, die Schwestern fügten einige experimentelle Variationen hinzu, und Pilkins rannte vor ihnen die Treppe hinauf in Richtung der riesigen Bankettafel von Basmond Hall.

„Jetzt könnte ich ein Gläschen Gin gebrauchen“, sagte Mrs. Duncan und sackte in ihrem Stuhl zusammen.

„Ich auch“, fügte Ralph hinzu.

„Du kannst dich einfach in den Stall verziehen!“

„Vielleicht wären Sie so nett, mich zu meinem Zimmer zu führen?“, bat Mrs. Corvey. „Ich bin rechtschaffen müde.“